Ist Frieden nur ein Traum?

© KURIER/Gerhard Deutsch

VON OBERRABBINER PAUL CHAIM EISENBERG

Einmal träumte ein weiser Rabbiner, dass er den Frieden auf der ganzen Welt erlangt hätte. Doch dann wachte er auf und merkte, dass er eigentlich nur im Bett lag. Er sah sofort ein, dass er sicherlich nicht Frieden auf der ganzen Welt schaffen könne und beschloss, nur in Europa Frieden zu machen. Auch das war ein unwahrscheinliches Unterfangen. Er beschloss, Frieden nur in seinem Land anzustreben. Danach reduzierte er seinen Traum auf seine Stadt, auf seine Straße, auf die Bewohner seines Hauses und zuletzt auf seine Familie. Auch dies fand er fast zu schwierig und beschloss, zunächst einmal Frieden mit sich selbst zu schließen.

Frieden ist kein Zustand, sondern ein Projekt. Jeder sollte in seinem Umfeld daran arbeiten. Im Psalm 34 gibt König David ein Rezept für die Friedenssuche. Ich kürze und schreibe nur sechs Worte: Suche den Frieden und verfolge ihn.

Wie wir heute sehen, soll niemand glauben, dass, wenn es einmal Frieden gibt, nicht aus verschiedensten Gründen wieder ein Konflikt entstehen könnte. Denn Frieden ist wie ein Pflänzchen, das man täglich gießen muss.

Als die Menschheit entstand, gab es noch keine Grenzen. Doch oft geht es gerade um sie. Diese Grenzen sind üblicherweise durch die verschiedenen Sprachen und Kulturen auf beiden Seiten definiert. Aber so einfach ist es nicht. Allein in Österreich gab es im 20. Jahrhundert mehrere derartige Konflikte, die auf verschiedene Weisen „gelöst“ wurden. In Südtirol war es ein Konflikt zwischen den italienischen und österreichischen Einwohnern. Auch das Burgenland war manchmal Österreich und manchmal Ungarn. Und im Süden Kärntens bzw. im Norden Sloweniens gab es ebenfalls viele Probleme zwischen den Volksgruppen. Heute gibt es in Kärnten zweisprachige Ortstafeln. Und manche Kinder lernen in der Schule auch Slowenisch.

Weil nun einmal die offizielle Politik nicht ohne Grenzen auskommt, und weil es üblich ist, dass der Verlierer eines Konflikts ein bisschen von seinem Land hergeben muss, ist Südtirol entstanden. Lange konnten sich die deutschsprachigen Bewohner damit nicht abfinden. Heute gibt es eine Grenze zwischen Österreich und Italien, man findet in Meran und in Bozen beide Kulturen nebeneinander. Und es funktioniert. Als Rabbiner kann ich nur beten, dass keine der Gruppen diese Situation als unbefriedigend sieht und mit Gewalt nach einer anderen Lösung strebt.

Der Balkan war jahrzehntelang unter Tito mit Gewalt zusammengehalten und ist danach mit sehr viel Blut und Kämpfen auseinandergefallen. Bis heute sind längst nicht alle Probleme bewältigt. Also sind vielleicht Grenzen willkürlich gezogen worden. Wichtig ist, dass man sich unabhängig von historischen und anderen Faktoren auf etwas einigt und dabei bleibt.

Der Konflikt, der uns am nächsten liegt, ist sicherlich der Nahostkonflikt. Für mich als junger Rabbiner war es schwer zu ertragen, dass der damalige Premierminister von Israel, Yitzhak Rabin, durch einen jüdischen Attentäter ermordet wurde.

Ich will meine persönliche Meinung zum Nahostkonflikt meinen Leserinnen und Lesern nicht aufoktroyieren. Aber damals hatte ich ähnliche Pläne wie der träumende Rabbiner. Obwohl das Projekt natürlich viel zu groß ist, habe ich mir gedacht, dass ich vielleicht mich selbst einbringen könnte. Das war natürlich eine gewaltige Selbstüberschätzung.

Prinz Hassan, Bruder des damaligen und Onkel des heutigen Königs, war vor etwa zwanzig Jahren auf Besuch in Österreich. Er war bekannt als Peacemaker. Ich traf ihn zufällig und schloss mit ihm Freundschaft. Interessanterweise lud er mich nach Amman ein. Als ich das nächste Mal in Israel war, verständigte ich ihn. Er schickte einen schwarzen Mercedes zur Allenby-Brücke, die über den Jordan führt, und ließ mich zu sich bringen. Auch der damalige Innenminister Caspar Einem war mit dabei. Hassan und ich haben uns gut verstanden und später noch einige Male in Wien getroffen. Die Probleme im Nahen Osten haben wir nicht gelöst. Trotzdem bin ich der Meinung, dass Israel heute nicht nur das Recht hat zu existieren, sondern Gott sei Dank auch die Kraft, diese Existenz zu verteidigen.

Noch eine Anekdote: Im Jahre 2007 besuchte Papst Benedikt Wien. Auch zwischen der christlichen Kirche und dem Judentum gab es mehr als tausend Jahre keinen Frieden, wobei wir immer die Schwächeren waren und durch Kreuzzüge einen sehr hohen Blutzoll leisten mussten. Seit dem 2. Vatikanischen Konzil gibt es Bemühungen, friedlich miteinander zu leben. Es gibt sehr viele ermutigende Fortschritte, aber gleichzeitig auch Rückschläge.

Die jüdische Gemeinde sollte Papst Benedikt vor dem Holocaust-Denkmal am Judenplatz zu einem stillen Gedenken treffen. Ein Präsident aus den Bundesländern sagte mir: „Wenn kein Kaddisch gesprochen wird, dann komme ich nicht.“ In einer Sitzung der österreichischen Gemeinden schlossen sich die anderen seiner Meinung an, und schon war aus einem ruhigen Gedenken ein Streit geworden. Ich rief das christliche Komitee an, das den Besuch organisierte, und äußerte den Wunsch, das Kaddisch zu sagen. Entrüstet wurde mir geantwortet, dass ein stilles Gedenken vorgesehen war und man das nicht mehr ändern könne. Daraufhin wollten unsere Leute absagen. In meiner Not rief ich den heutigen Kardinal an und erzählte ihm von meinem Problem. Dieser antwortete: „Dann sagen Sie das Kaddisch nach dem stillen Gedenken.“ Ich befürchtete, dass der Papst mitten im Kaddisch gehen würde, was zwar keinen Weltkrieg entfachen würde, aber peinlich gewesen wäre. Darauf Kardinal Schönborn: „Das überlassen Sie mir.“

Als wir dann tatsächlich einige Minuten in leisem Gedenken vor dem Mahnmal am Judenplatz standen, merkte ich, dass das Treffen zu Ende ging und der Papst daran war, aufzubrechen. Also begann ich das Kaddisch-Gebet zu sprechen und der Papst blieb bis zum Ende des Gebetes stehen. Mir fiel auf, dass der Kardinal genau hinter dem Papst Aufstellung genommen hatte.

Das Kaddisch-Gebet ist nicht nur ein Gebet zur Erinnerung an Verstorbene, sondern ein Gebet, in dem wir Juden den Ewigen preisen. Und der letzte Vers lautet: „Osse Schalom … Ewiger, der Du den Frieden in den Höhen (im Himmel, unter den Engeln oder den Planeten) bewerkstelligst, mache auch Frieden über Dein Volk Israel und über uns allen.“

Bei diesem Vers geht der Betende drei Schritte zurück, um zu symbolisieren, dass man Frieden nur durch Kompromisse erlangt.

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