Israels Wirtschaft erfindet sich neu

Orangenexport? Das war gestern. Heute versucht Israel, zum Ursprungsland von „Clean Technology“ zu werden. Das Zentrum dieser neuen Industrie liegt in Tel Aviv.
Von Rosa Lyon

Etwa sechs Prozent der israelischen Bevölkerung arbeiten im High-Tech- Bereich. Diese sechs Prozent produzieren etwa 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, also mehr als die Hälfte aller Güter und Dienstleistungen des Landes. Das Zentrum der High-Tech-Szene ist, wie könnte es anders sein, Tel Aviv. Tel Aviv ist das New York des mittleren Ostens. Und mit über 3.000 Start-up-Unternehmen gleichzeitig das zweite Silicon Valley. Auch in Bezug auf Unternehmen, die an der Technologiebörse NASDAQ gelistet sind, rangiert Israel an zweiter Stelle, gleich nach den USA. Dieser Erfolg hat auch damit zu tun, dass sich Israel seit 60 Jahren im Krieg befindet, erklärt Shay Yusfan, der für die Österreichische Wirtschaftskammer in Tel Aviv tätig ist. Schon in jungen Jahren tragen die Rekruten sehr viel Verantwortung für die Sicherheit des Landes. Sobald sie die drei Jahre in der Armee hinter sich haben, sind die meisten fähig, eine eigene Firma zu gründen.

Einer dieser IT-Jungunternehmer ist Rafael Mizrahi. Als er zehn Jahre alt war, hatten alle anderen Schulkollegen kleine elektronische Spielkonsolen, auf denen meist das Spiel Pacman lief. „Meine Eltern wollten mir keine Pacman-Konsole kaufen. Ich war sehr frustriert. Also nahm ich die Kartonverpackung von Spielkarten, baute darin ein Labyrinth und setzte große Ameisen hinein. Die Magnetspäne auf der oberen Seite konnten durch Magneten auf der unteren bewegt werden.

Ich habe also ein physisches Pacman-Spiel erfunden. Und die Kinder in der Schule wollten lieber mit meinem Pacman spielen als mit ihrem eigenen“, erinnert sich Rafael Mizrahi.

Finanziert wird Rafi Mizrahis Startup- Unternehmen Fen Gui, das eine Software zur neurobiologischen Simulation der Augen entwickelt, von Yossi Vardi, dem umtriebigsten Business Angel Israels. Yossi Vardi, der als Mister ICQ in die Geschichte einging, verkaufte 1998 das von ihm finanzierte Unternehmen Mirabilis mitsamt dem Chat-Programm ICQ um sage und schreibe 400 Millionen Dollar an den weltgrößten Onlinedienst AOL.

„Der ICQ-Deal hat dieses Land wachgerüttelt. Er wurde zu einem mythologischen Ereignis. Man nannte ihn auch das Mirabilis-Phänomen. Dieser Deal hat Tausende junge Menschen inspiriert. Und ich bin“, scherzt Yossi Vardi, „seither größer, blonder, dünner, blauäugiger – und alles, was ich sage, seit wir die Firma verkauft haben, ist weise.“

Yossi Vardi tritt unheimlich lässig auf. Mit seinen 67 Jahren schlurft er in offenem Hemd und mit zerzaustem Haar durch die Hallen des IBM-Gebäudes, wo gerade eine Konferenz von High-Tech-Spezialisten stattfindet. Yossi Vardi war Berater der Weltbank und der UNO sowie der israelischen Regierung. Er führte wirtschaftliche Verhandlungen mit Jordanien und Ägypten und er gehörte zu den führenden Kräften bei der Ausarbeitung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und Israel. Dieser Mann ist nicht nur ein Förderer all jener jungen Kreativen, in die er investiert, er ist ein ökonomisch und sozial denkender Mensch, der sich politisch engagiert und sich deutlich mehr Gedanken macht, als er müsste.

Dass die High-Tech-Branche als Lokomotive der Wirtschaft fungiert, erklärt Yossi Vardi, hat negative soziale Nebeneffekte. In der gesamten High-Tech-Industrie arbeiten etwa sechs Prozent der Bevölkerung. Die Vorteile kommen also nur wenigen Menschen zugute. „Die Diskrepanz zwischen jenen, die viel haben und jenen, die wenig oder nichts haben, ist zu groß“, bemängelt der Förderer junger High-Tech-Talente. „Es geht nicht darum, wie viel man absolut hat, sondern darum, wie viel man in Relation zu seiner Umgebung hat.“ Es gibt einige Gründe, warum die High-Tech-Industrie speziell in Tel Aviv so stark ist. Dov Moran, er ist der Erfinder des USB Sticks, nennt zuallererst das Fehlen von Bodenschätzen: „Daher ist der Intellekt die größte Ressource, aus der geschöpft wird. Im Holocaust haben Juden überlebt, weil sie Ideen hatten. Die Menschen, die jetzt High-Tech-Produkte entwickeln, sind die Kinder, Enkelkinder oder Urenkelkinder jener Menschen, die durch Ideenreichtum am Leben geblieben sind.“ Dov Moran hat kürzlich ein Unternehmen namens MODU gegründet und soeben das kleinste Telefon der Welt auf den Markt gebracht. In Österreich wird erst die zweite Generation zu erwerben sein.

Obwohl Israel Agrarprodukte exportiert, was an ein Wunder grenzt, ist geistiges Eigentum im High-Tech-Bereich Israels größtes Exportgut. Das liegt auch daran, dass auf Bildung viel Wert gelegt wird. Außerdem hat der Staat einige Programme zur Finanzierung von High-Tech-Unternehmen entwickelt. Ja, den Anstoß zur Entwicklung eines Venture Capital Systems gab in Israel der Staat. Die mittlerweile nicht mehr staatliche Venture Capital Summe ist heute so groß, dass Israel, konkret Tel Aviv, an vierter Stelle weltweit rangiert.

Ein momentan heiß diskutiertes Zukunftsprojekt ist das bereits in NU vorgestellte Projekt Better Place (NU 35). 2010, so die Vision, soll Israel flächendeckend mit Elektrotankstellen versorgt sein. Better Place hat allerdings noch einige Hürden zu nehmen. Etwa müssten Elektroautos erst so erschwinglich wie Benzinautos werden, erklärt Tal Agassi, Direktor der internationalen Entwicklungsabteilung: „Bei jedem gewagten Plan gibt es drei Phasen. In der ersten Phase sagen die Menschen, dass es eine verrückte Idee ist. In der zweiten Phase erklären sie dir, warum es nicht funktionieren wird. Und in der dritten Phase sagen sie, dass sie ja schon immer gewusst haben, dass es funktioniert. Wir befinden uns in der zweiten Phase. Man erklärt uns, warum Elektroautos nicht funktionieren können“, so Tal Agassi.

Israel hat sich schon einige Male selbst neu erfunden. Als Exporteur der Jaffa- Orangen hat sich Israel einen Namen gemacht. Dann war die Militärindustrie besonders erfolgreich, nun ist es die High-Tech-Industrie. Und in Zukunft, so die Hoffnung, soll Israel führend im Bereich Clean Technology sein. Wenn es so weit ist, wird der Rest der Welt behaupten, immer schon gewusst zu haben, dass es funktionieren wird.

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