„In Frieden auf das Meer schauen“

Israel sei weiterhin das Land, das hundertprozentig sicher ist für Jüdinnen und Juden, meint Yanai Katzir. Hier ein Bild mit seiner Familie aus glücklichen Tagen. ©privat

Von Danielle Spera

NU: Unsere Gedanken sind bei eurer Familie. Wir teilen eure Trauer. Es ist nicht zu fassen, was in dem Kibbuz, in dem deine Eltern leben, geschehen ist.

Yanai Katzir: Es gibt keine Worte für das, was passiert ist. Wir sind noch immer wie erstarrt.

Wie hast Du den 7. Oktober erlebt?

Um etwa 6.30 Uhr in der Früh startete der Raketenbeschuss. Wir sind daran seit Jahren gewöhnt. Normalerweise geht man direkt in den Schutzraum und wartet, bis es vorüber ist. Mein Vater war um 6 Uhr zu einer Jeeptour aufgebrochen. Nachdem die Sirenen nicht aufhörten, rief ich meine Mutter an und bat sie, in den Schutzraum zu gehen. Das geschieht normalerweise wirklich automatisch. Ohne Drama. Wenn ich das sage, ist es schrecklich, dass das eigentlich unsere Realität ist. Aber so ist es. Mein Vater ist sofort umgekehrt und wollte zu meiner Mutter, doch als er in den Kibbuz zurückkam, schossen die Terroristen sofort auf ihn. Sie haben ihn in seinem Auto erschossen. Er war sofort tot. Meine Mutter lief in den Schutzraum.
Das Außergewöhnliche waren die Schüsse, die gibt es normalerweise im Kibbuz nicht. Dann waren Stimmen zu hören, die arabisch sprachen. Sie haben geschrien, geschossen, man hörte Bombengeräusche. Meine Mutter schrieb jede halbe Stunde. „Ich bin im Schutzraum und habe mich hier im Kasten eingesperrt. Sie sind bei uns im Haus und schießen überall. Ich liebe Euch, ich habe keine Angst zu sterben, ich möchte nur nicht entführt werden.“ Ich war verzweifelt, dass ich meiner Mutter nicht helfen konnte. Im Kibbuz gab es einen eigenen Sicherheitsdienst, es sind aber nur 15 Männer, die von 200 Hamas-Terroristen angegriffen wurden. Die standen auch auf den Dächern der Häuser und schossen wild um sich, mit schweren Waffen und Maschinengewehren. Unsere Leute konnten da nicht mithalten. Und die Armee kam nicht. Der Kibbuz waren stundenlang auf sich allein gestellt. Meine Mutter hat weiterhin geschrieben: „Mach dir keine Sorgen, ich bin ok.“ Von Freunden erhielt ich in den verschiedenen Whatsapp-Gruppen Nachrichten, wie: „Sie sind in meinem Haus, bitte helft mir.“ „Wir haben Verletzte und Tote hier.“ Es war wie der Holocaust, der sich wiederholte.
Die Terroristen schossen auf die Stromkabel und die Wasserleitungen. Nach einigen Stunden gingen die Batterien der Handys zu Ende, auch bei meiner Mutter. Ich dachte, das war es. Mein Vater hatte seit vielen Stunden nicht mehr geantwortet. Ich wusste sofort, dass etwas Furchtbares geschehen war. Da habe ich begonnen zu beten. Bitte gib mir meine Eltern zurück. Bitte wenigstens einen der beiden. Das ging dreißig Stunden lang so. Meine Mutter war im Kasten im Schutzraum, dreißig Stunden ohne Essen, ohne Wasser. Währenddessen mordeten die Terroristen und begannen, den Kibbuz auszuräumen, sie packten Möbel, Klimageräte, Kühlschränke, sie nahmen alles, auch unsere Seele. Dann erfuhr ich, dass meine Mutter lebt. Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Trotzdem war man besorgt, dass noch Terroristen da wären oder noch welche nachgekommen waren. 15 Prozent der Bewohner des Kibbuz wurden getötet und 20 junge Menschen entführt. Sie haben 40 Kinder und Babys getötet. Sie haben Hände, Beine, Köpfe abgeschnitten; Menschen lebendig verbrannt, die Geschichten des ISIS waren wie Märchen dagegen. Wenn ich von meinem Vater spreche, ist das eine Geschichte, aber meine gesamte Gemeinschaft ist tot. Mein Innerstes, meine Seele ist tot. Meine Mutter, alle Geretteten, aber auch alle Getöteten, sind Helden. Sie hatten keine Waffen, nur die Schutzräume. Jetzt geht es um uns oder sie. Und es werden wir sein. Denn es ist nicht wie der Holocaust. Jetzt haben wir unsere eigene Armee, wir haben ein Land und wir sind vereint.

Woher haben die Terroristen euren Kibbuz und die Gegebenheiten dort gekannt?

Es gibt momentan so viele unbeantwortete Fragen. Es war wirklich unheimlich, denn sie wussten offenbar, wer wo wohnt, wo alleinstehende Menschen zu Hause sind, wie man auf die Dächer der Häuser gelangt. Meine Mutter hatte immer wieder Kontakt mit Palästinensern aus dem Gaza-Streifen.

Das heißt, sie waren auch bei deinen Eltern zu Hause?

Nein, aber in anderen Häusern und in anderen Kibbuzim. Unsere Leute haben immer wieder mit Palästinensern aus Gaza Kontakt gehabt, sie haben sie in israelische Spitäler gebracht, wenn sie krank waren oder Medizin gebraucht haben. Sie haben sie unterstützt, ihnen Arbeit in Israel vermittelt oder ihnen auch Geschenke zu den Feiertagen übergeben. Viele Palästinenser aus Gaza haben in den Kibbuzim, die jetzt überfallen wurden, gearbeitet, vielleicht sind die Informationen auch so weitergegeben worden.

Was ist der Grund, dass sie diese Informationen an die Hamas verraten haben, wurden sie bestochen?

Es kann sein, dass die Hamas gesagt hat, wenn ihr nicht mitmacht, dann töten wir eure Familien. Bis zum 7. Oktober haben wir den Palästinensern vertraut. Das kann ich jetzt nie mehr wieder. Auch wissend, dass dort viele vielleicht unschuldig sind und normal leben wollen.

Dass so viele bei den Massakern mitgemacht haben, die keine Hamas-Terroristen waren: Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass es im Gaza-Streifen auch nicht besser wird, selbst wenn die Hamas nicht mehr an der Macht ist? Wer soll dann dort regieren?

Das ist eine gute Frage. Die Hamas ist wie ISIS. Man kann die Drahtzieher auslöschen, aber nicht die Ideologie. Die Hamas ist viel mehr als eine Terrororganisation, sie ist eine Organisation, die eine Ideologie über die Welt verbreitet. Die Idee lautet „Befreit Palästina“, das heißt lsrael muss weg. Jetzt sollte die Welt aber wissen, was passieren würde, selbst wenn alle Jüdinnen und Juden aus der Region verschwinden würden. Dann würde die Hamas weiterziehen und andere Staaten überfallen. Auch Europa hat da ein großes Problem mit den starken muslimischen Communitys. Bedauerlicherweise stimmt der Spruch: Nicht alle Moslems sind Terroristen, aber die meisten Terroristen sind Moslems. Damit muss man sich schleunigst beschäftigen. Meiner Meinung nach wird man der Ideologie nicht mehr Herr werden.

Die Protestierenden, die „Free Palestine“ rufen, erhalten immer mehr Zulauf.

Es ist leicht, auf europäischen, amerikanischen oder sonstigen Straßen so etwas zu skandieren, ohne zu wissen, was es bedeutet. Jene Liberalen und Linken, die da mitrufen, sollten sich ein Bild machen, was hier geschieht. Denn sie wären die ersten, die der Hamas zum Opfer fallen würden. Andersdenkende, Homosexuelle werden hingerichtet, Frauen sind in der Öffentlichkeit praktisch nicht existent. „Free Palestine“ bedeutet die Endlösung der Judenfrage – wie es die Nazis genannt haben – im Nahen Osten. Die Welt sollte hier aufwachen, bevor es zu spät ist. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland haben viele Länder es auch nicht so ernst genommen. Nach dem Holocaust war es zu spät, etwas zu tun.

Wie kann man in Israel in diesen Wochen den Kindern noch Hoffnung vermitteln?

Ich habe eine drei Jahre alte Tochter, und meine Frau ist derzeit schwanger. Ich denke mir Folgendes: Als der Krieg in der Ukraine begann, sind tausende Menschen aus der Ukraine geflüchtet. Nach dem 7. Oktober sind 250.000 Menschen nach Israel geflogen, um das Land zu verteidigen und zu unterstützen. In den vergangenen Wochen haben wir hunderttausende Menschen aus dem Süden Israels in Sicherheit gebracht. Fremde Menschen haben sie aufgenommen, ihre Wohnungen und Häuser geöffnet, ihnen Essen, Kleidung, Autos zur Verfügung gestellt. Auch wir leben jetzt in einem anderen Ort, es ist ein bisschen eine Parallelwelt. Israel ist weiterhin das Land, das hundertprozentig sicher ist für Jüdinnen und Juden. Eine Insel inmitten all der Diktaturen.

Warum hat sich eure Familie in Kfar Aza angesiedelt, so nahe am Gazastreifen?

Mein Vater war ein leidenschaftlicher Erdäpfelbauer. Seine Erdäpfel waren berühmt. Bauer zu sein, war sein Traum. Das Wichtigste in seinem Leben waren aber wir, seine Familie. Er hat ursprünglich in einem anderen Kibbuz gelebt, dort haben ihm die gesellschaftlichen Strukturen nicht so gut gefallen, daher sind meine Eltern hierhergezogen. Gaza war ja damals auch ganz anders, wir haben dort eingekauft oder sind zu einem Mann gefahren, der unsere Fahrräder repariert hat. Es war beeindruckend, die Strände sind so schön wie in Tel Aviv gewesen, man hätte viel daraus machen können.
Eure Familie kam zum Teil aus Ex-Jugoslawien.
Ja, die Familie meiner Mutter. Die Familie meines Vaters ist hier praktisch seit biblischen Zeiten ansässig. In Israel gibt es nicht viele Familien, deren permanente Anwesenheit so lange zurückreicht, vielleicht etwa eintausend. Meine Urgroßmutter kam übrigens aus einer arabisch-jüdischen Familie und lebte in einer komplett arabischen Nachbarschaft, völlig in Frieden.

Hoffentlich wird es wieder einmal so.

Ganz bestimmt. Wir sind nicht besorgt, denn wir haben eine starke Armee. Aber ich möchte nicht, dass meine Kinder aufwachsen wie wir, dass sie ständig angegriffen werden und dauernd im Kriegszustand leben. Wir hoffen, dass wir bald zu einem normalen Leben zurückkommen und in Frieden auf das Meer schauen können.

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