Ich habe immer über den Tod geschrieben

In memoriam George Tabori, der im Juli dieses Jahres im 93. Lebensjahr starb, druckt NU erstmals ein Gespräch in voller Länge ab, das NU-Autor Thomas Trenkler vor zehn Jahren mit ihm führte.
Von Thomas Trenkler

Er täuschte Selbstmord vor. Und war fortan First Lieutenant Turner. Er war allein mit Marilyn Monroe. Und plauderte mit ihr über die „Brüder Karamasow“. Er arbeitete mit Alfred Hitchcock. Und schied mit ihm im Streit. Er ließ sich vom Zufall leiten. Und dieser führte ihn, 1914 als Sohn eines Journalisten in Budapest geboren, durch die ganze Welt. Von 1987 an lebte George Tabori, Schriftsteller und dienstältester Spielmacher, in Wien: Er leitete einige Jahre den „Kreis“ in der Porzellangasse und inszenierte fast jede Saison an der Burg, zumeist im Akademietheater, wo er auch mehrere seiner eigenen Stücke zur Uraufführung brachte, darunter „Mein Kampf“ (1987), „Weisman und Rotgesicht“ (1990), „Goldberg-Variationen“ (1991) und „Requiem für einen Spion“ (1993). Zwölf Jahre später, im Sommer 1999, ging er schließlich doch mit Claus Peymann, dem langjährigen Burgtheaterdirektor, nach Berlin, wo er am 23. Juli starb.

Am frühen Abend des 25. August 1997 traf ich George Tabori zu einem Interview für die Schweizer Zeitschrift „Musik & Theater“. Als Treffpunkt hatte Tabori das Café Traviata in der Gentzgasse vorgeschlagen, weil er, wie er sagte, gleich ums Eck wohnte. Ohne ihn hätte ich das Lokal trotz des sehnsuchtsvollen Namens wohl nie aufgesucht: Es war ziemlich heruntergekommen und düster. Als ich eintrat, saß George Tabori, der gerade Elfriede Jelineks „Stecken, Stab und Stangl“ inszenierte (Premiere war im September 1997), bereits an einem Tisch. Er trug eine Baseballkappe, die mich ein wenig irritierte. Es bedurfte nur einiger Stichwörter: George Tabori erzählte aus seinem Leben und sinnierte über den Tod.

Trenkler: Für den New Yorker Autor Paul Auster ist der Zufall ein bestimmendes Element. Nicht nur in seinen Werken, auch in seinem Leben.

Tabori: Das ist bei mir auch so. Der Zufall war immer entscheidend. Ich habe nie, nein: sehr selten geplant, habe mich immer auf den Zufall verlassen. Und ich habe Glück gehabt. Das deutsche Wort „Glück“ hat zwei Bedeutungen: „happiness“ und eben „Zufall“. Ich bin rechtzeitig aus Deutschland weggegangen – zufällig. Und als ich nach Deutschland zurückkam, war auch das rein zufällig. Ich weiß nicht, wie es der Paul Auster sagt, aber irgendwie entsteht dadurch eine Ordnung.

Sie haben angekündigt, Ihre Autobiografie schreiben zu wollen. Wie weit sind Sie denn?
Ich habe diesen Sommer angefangen. Ich war in der Gegend von Lienz. Eine sehr schöne Gegend. Die Dolomiten. Der erste Teil ist fertig. Ich schreibe immer mit der Hand. In Englisch. Es ist eine endlose Sache! Ich bin doch der dienstälteste Regisseur, als ich geboren wurde war noch die k&k-Zeit! Der zweite Teil wird Berlin behandeln, der dritte London, der vierte meine drei Frauen, der fünfte vielleicht Amerika. Ich weiß noch nicht. Meine Lieblingsautobiografie ist von Malraux. Er hat gelogen.

Sie haben gesagt, Sie wollen Ihre Autobiografie schreiben, den „König Lear“ inszenieren und dann, im Jahr 2000, sterben. Das ist hoffentlich Koketterie.
Na ja, wenn man 83 ist, denkt man eben an den Tod. Ich habe immer über den Tod geschrieben. Es ist ja das einzige Thema, das man hat: das Leben und der Tod. Ich bereite mich vor auf den Tod. Ich weiß natürlich nicht, ob es mir gelingt. An manchen Tage denke ich mir, ich lege mich schlafen. In Holland gibt man einem Zyankali, wenn jemand Schluss machen will. Solche Gedanken sind unvermeidlich. Und an anderen Tagen fühle ich mich besonders wohl, so wie gerade jetzt. Und dann tue ich so, als ob ich ewig leben würde.

Ja, und jetzt lebe ich eben in Wien. Ich sage nicht, dass ich mich in Wien zu Hause fühle. Außer in meiner Wohnung. Das habe ich während des Krieges akzeptiert: dass ich ein Fremder bin. In Ungarn geboren, in London gelebt, in Hollywood und weiß Gott wo noch, auch in Ägypten. Ich habe das Fremder-Sein akzeptiert – und das meine ich nicht negativ. Ich finde es richtig, dass ich ein Fremder bin. Weil mir dadurch mehr auffällt. Egal ob das in Lienz ist, in Wien oder im Zug. Österreich ist ein schönes Land, ein sehr schönes Land. Darum habe ich Österreich gern: Weil es eines der kleinsten Länder ist, nicht viel größer als Liechtenstein und San Marino. Und weil es so eingerichtet ist, dass es für Ausländer richtig ist. Nehmen Sie Salzburg und die Festspiele: Da ist ein Belgier der Intendant (Gérard Mortier), da arbeitete der Peter Stein, ein Deutscher, da kommt jetzt ein Ungar, der Ivan Nagel, da inszeniert der Stefan Bachmann, ein Schweizer, und der Peter Sellars, ein Amerikaner. Die Sänger sind Russen, Bulgaren, Engländer und so weiter. Und das finde ich richtig. Salzburg ist eine Utopie: Salzburg zeigt mir, wie es sein könnte. Österreich ist das einzige Land, das – soll man es international nennen? Egal, wie man es nennt. Ich hoffe, das bleibt so: ein kleines Land, wo alles stattfindet.

Aber gerade in Salzburg stießen Sie auf bornierte Menschen: Ihre Inszenierung von Franz Schmidts Oratorium „Das Buch mit sieben Siegeln“ geriet 1987 zum Skandal.
Skandal?! Es war eine merkwürdige Sache. Ich habe in einer Kirche, der Kollegienkirche, gearbeitet. Fast zwei Monate. Ich habe Leute eingeladen – ich lade immer Leute zur Probe ein –, aber niemand hat etwas beanstandet. Auch bei der Voraufführung mit Publikum hat mir niemand etwas gesagt. Aber zwei Minuten vor der Premiere kam der Festspielleiter und sagte, dass etliche Leute zum Erzbischof gegangen seien und sich beklagt hätten. Es gäbe zwei Sachen, die ich ändern sollte. Schauen Sie, sagte ich, wenn Sie vor einer Woche gekommen wären, dann hätte ich es ändern können, aber zwei Minuten vor der Premiere? Aus Neugierde fragte ich trotzdem, was denn geändert werden sollte. Da war ein Gerüst aufgebaut, auf dem die Sänger und Sängerinnen standen. Die Leute hätten sich beklagt, sagte er, dass die Damen keine Unterhosen tragen würden. Ich sagte, das kann nicht sein, ich habe zwar nie so genau geschaut, aber das ist nicht wahr! Und dann gab es eine Szene, in der sich jemand ausgezogen hat. Ich sagte, es tut mir leid, ich kann es jetzt nicht mehr ändern. Und dann war die Premiere. Die Schauspieler und Sänger haben viel Applaus bekommen, und als ich kam, haben mich die Leute im Smoking ausgebuht. Am nächsten Tag kamen ein Bischof und der Festspielleiter. Sie sagten, ich sollte das ändern. Ich sagte, jetzt ist es zu spät. Und dann haben sie es abgesetzt. Das Oratorium wurde weiterhin zwar gesungen, aber nicht gespielt. Das war der einzige Skandal in meinem Leben. Ich bin nicht für den Skandal. Er ist nicht der Sinn des Theaters. Das Theater ist für die Mitwirkenden. Nicht für das Publikum. Was ist das Publikum? Es besteht aus Hunderten Menschen, und alle sind anders. Die Zuschauer applaudieren oder sagen Buh, dann gehen sie nach Hause. Aber etwas bleibt, etwas, das sie uns nicht sagen. Und das ist auch richtig. Aber ich mache nicht Theater für das Publikum. Ich mache es mit den Schauspielern. Ich mache aber nur sehr wenig. Besonders heutzutage. Ich meine, vor 200 Jahren gab es keine Regisseure, den „Regisseur“ hat ein Deutscher erfunden. Ich habe auch das Wort „Regie“ nicht gerne. Das erinnert mich an „Regime“. Und das hat mit Theater nichts zu tun.

Sie bevorzugen das Wort „Spielmacher“.
Ja. Und jetzt habe ich das Jelinek-Stück („Stecken, Stab und Stangl“) gemacht. Merkwürdig. Ich wollte „König Lear“ machen mit Gert. Aber die (beiden Direktoren des Burgtheaters Claus Peymann und Hermann Beil) haben gesagt, das geht nicht, weil auch Handkes Königsdrama („Zurüstungen für die Unsterblichkeit“) gespielt wird. Zwei Königsdramen in einer Spielzeit ist zu viel, haben sie gesagt. Na gut, ich bin ein guter Junge. „Also, was soll ich machen“, fragte ich. „Mach die Jelinek“, sagten sie. Und zwei Wochen später habe ich angefangen. Es ist mir eigentlich – ich zögere, aber eigentlich ist es mir fast egal, was ich mache. Es ist mir jetzt egal. Weil ich schon so viel gemacht habe. 50 Jahre mache ich Theater. Das Theater ist gewissermaßen mein Leben. Fernsehen kann ich nicht ausstehen. Auch Filme sehe ich nur selten. Ich war in Hollywood. Es war eine schlimme Zeit in Hollywood.

Warum schlimm?
Das war nach dem Krieg, die McCarthy-Ära fing an. Jetzt machen sie in Hollywood viel bessere Filme. Aber der Film hat mich nie besonders interessiert, nicht so wie das Theater.

Sie haben doch für Alfred Hitchcock das Drehbuch zu „I Confess“ geschrieben.
Ja. Na und? Ich habe Hitchcock sehr gerne gehabt. Aber er war dann sehr böse auf mich. Es gab ein zweites Projekt. Er sagte eines Tages, der Cary Grant soll der Held sein. „Was soll das für ein Mensch sein?“, fragte er mich. „Ich weiß es noch nicht“, sagte ich, „lassen Sie mich nachdenken“. – „Ich glaube, er sollte ein FBI-Agent sein“, sagte er. Ich aber war damals sehr links, das FBI und McCarthy waren mir zuwider, und da sagte ich: „Ich muss nach Hause gehen, ich fühle mich nicht wohl.“ Ich habe ihm dann einen langen Brief geschrieben, dass ich nicht geeignet bin für diese Arbeit, es täte mir leid. Da wollte er mich sogar verklagen. Zwei Jahre später habe ich in Südfrankreich in einem Hotel abendgegessen. Und er kommt herein mit seiner Frau. Ich begrüße ihn: „Hallo, Hitch.“ Aber er ist vorbeigegangen.

Ich kann es gut verstehen. Er war ein begnadeter Sadist. Einmal – ich weiß nicht, ob Sie das interessiert – einmal, das war in den Anfängen des Fernsehens, da gab es ein Ehepaar, das immer mit Gästen geredet hat, eine Talk Show. Hitchcock hat gesagt: Ich mache diese Ehe kaputt. Anonym hat er ihr einen riesigen Rosenstrauß geschickt, das nächste Mal hat er ihr ein Collier geschickt, und schließlich hat er ihr ein Auto geschenkt. Und die Ehe war kaputt. Er hat Spaß gehabt – am Quälen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur: Ich habe Hollywood eigentlich nicht sehr gern gehabt.

Aber Sie waren doch mit all den Stars zusammen, mit Charlie Chaplin, mit Greta Garbo, mit Marilyn Monroe…
Ende der 40er Jahre war es, meine Frau war nach Israel gefahren. Ich habe in einem alten Haus in Brentwood gewohnt und an einem Roman gearbeitet. Das Schreiben war das Wichtigste für mich. Ich wohnte zusammen mit einem Freund, einem Fotografen von „Vogue“. Er war ein merkwürdiger Kerl. Jeden Tag ist er mit einer anderen Frau nach Hause gekommen. Er hat gekocht und mich immer zum Abendessen gerufen. Ich bin hinuntergekommen: Jedes Mal eine andere Frau! Nach dem Essen ist er immer verschwunden: „Ich muss auf die Post nach Beverly Hills“, sagte er. Und ich habe den Frauen gesagt: „Es tut mir leid, ich muss zurück an die Arbeit.“ Ich war besessen. Eines Tages brachte er eine Blondine mit. Als ich wieder hinaufgehen wollte, sagte sie: „Kennen Sie die Brüder Karamasow?“ – „Karamasow?“, fragte ich. „Ja, Karamasow“, sagte sie. „Warum?“, fragte ich. „Ich liebe das Buch“, sagte sie, „da gibt es eine Rolle, die Gruschenka, ich möchte sie spielen.“ Zwei Stunden hat sie darüber geredet. Es war die Monroe. Aber ich wusste das nicht. Und dann kam mein Freund zurück von der Post, und sie saß noch immer da, und noch jahrelang hat er mich gefrotzelt: „Du warst mit der Monroe zwei Stunden allein – und hast nur über die Gruschenka gesprochen!“ Ich habe sie dann noch einmal getroffen, da war sie schon verheiratet mit dem Arthur Miller. Wir waren zu einem Abendessen eingeladen bei den Millers. Die gesamte Miller- Familie bestand aus mächtigen Juden aus Brooklyn, die so ganz anders waren wie sie. Sie trug ein glitzerndes Kleid, sie passte nicht zu dieser Gesellschaft. Ich erkannte in ihr nicht jene Blondine von damals in Hollywood, denn sie hatte ihren Namen nicht genannt. Aber sie sagte zu mir: „Ich will mich bedanken.“ – „Für was?“, fragte ich. „Für die Gruschenka“, sagte sie. Und dann ist sie rausgegangen.

Wieder ein Zufall, oder?
Zufall, ja. Ich bin ein großer Gläubiger des Zufalls.

Nur durch einen Zufall und viel Glück haben Sie die Bombardierung Londons überlebt. Sie banden sich die Schuhe zu.
Ja. Ich bin zur Bäckerei gegangen … Ich weiß nicht, woher Sie diese Geschichte kennen?! Wahrscheinlich habe ich sie schon einmal erzählt. Jedenfalls, kurz vor der Bäckerei ist mein Schnürsenkel lose geworden, und so habe ich mich hinuntergebückt. Und als ich aufschaute, flog eine V2 auf einen Bus. Von dem Bus ist nichts geblieben. Und es flog auch eine auf die Bäckerei. Zufall also. Ich hatte Glück.

Zum Informationsdienst sind Sie auch durch Zufall gekommen?
Es war eine Ehre mitzuarbeiten, es war üblich. Soll ich die ganze Geschichte erzählen? Sie fing an in Istanbul 1941. Istanbul war wunderbar. Ich war Korrespondent für „United Press“ und eine schwedische Zeitung. Ich hatte sehr gute Beziehungen mit der englischen Botschaft, denn zuvor hatte ich ja in London gelebt. Ich hatte dort einen Freund, den Basil Davidson. Mein Auftrag war, die Ungarn, die in Istanbul waren, für die englische Seite zu organisieren. Die Geschichte werden Sie mir nicht glauben! Anfang 1942 hat der Basil, ein guter Junge, zu mir gesagt: „Du musst nach Süden gehen!“ – „Wohin?“, fragte ich. „Das kann ich dir nicht sagen, du wirst es erfahren.“ Nur so viel: Ich sollte an einem Abend an das Ufer des Bosporus gehen, dort würde ein Mann auf mich warten mit Militärkleidung. Ich sollte alles ausziehen und einen Abschiedsbrief schreiben, ich könne die deutschen Triumphe nicht mehr ertragen, ich hätte Selbstmord verübt. So geschah es auch. Ich ging danach nicht mehr nach Hause, fuhr am nächsten Tag mit dem Zug nach Süden. Nach Ankara und weiter. Und dann bin ich angekommen an der Grenze zu Syrien. Der Zöllner kam. Ich hatte einen ungarischen Pass, aber die Engländer hatten mir auch ein offizielles Papier mitgegeben, in dem mein Name Turner war, First Lieutenant George Turner. Ich sagte, ich muss nach Süden gehen. „Wohin?“, fragte der Zöllner. Nach Süden, sagte ich, bitte lassen Sie mich durch. In Syrien waren bereits die Australier, denn die hatten den Nahen Osten befreit. Während des Gesprächs kam ein australischer Soldat, sieben Meter lang, der hat ein bisschen zugehört. Ich war natürlich sehr verdächtig. Zwei Stunden haben sie mich verhört, und dann kam die Nachricht aus Istanbul, dass ich okay bin und dass sie mich durchlassen sollen. Der Offizier sagte mir, dass ich nach Aleppo gehen, dort ein Taxi nehmen und nach Jerusalem fahren solle. „Mit dem Taxi?“, fragte ich, „das sind doch hunderte Kilometer!“ – „Das macht nichts, wir zahlen das schon“, sagte er. Und so nahm ich ein Taxi nach Jerusalem. Dort wählte ich eine Nummer, die man mir gegeben hatte, um weitere Instruktionen zu erhalten. All das war blöd, denn die Deutschen wussten sicher genau Bescheid! Ich meldete mich als Lieutenant Turner, und man sagte mir, ich solle mit dem Taxi zum Berg Zion fahren, dort ist ein Kloster. In diesem Kloster gab es eine kleine BBC-Radiostation. Dort waren 30, 40 Leute – Deutsche, Österreicher, Jugoslawen. Ich wurde in die ungarische Abteilung eingewiesen. Ich musste täglich 20 Minuten lang sprechen, egal was, es gab keine Zensur. Nur musste ich so tun, als ob ich in Ungarn wäre, versteckt, und gelegentlich musste ich sagen, jetzt muss ich aufhören, weil ich eine Wache höre oder ungarische Faschisten. Das habe ich ein Jahr lang gemacht. Und dann hat man die Station aufgelöst. Ich habe dann in Palästina geheiratet, Hannah Freund. Sie war mit 13 Jahren mit ihrer Schwester aus Darmstadt gekommen, ihre Eltern waren schon tot. Ihr Bruder hatte es arrangiert, dass sie im Kinderkibbuz aufwachsen konnte. 1942 war sie die Leiterin dieses Büros gewesen. Sie war sehr blond, sehr schön, sehr zionistisch. Es hat fast ein Jahr gedauert, bis ich sie überredet hatte, mich zu heiraten. Aber jetzt muss ich noch das Ende der Geschichte erzählen. Der Krieg ist vorbei, ich traf meine Mutter. Ich fragte sie, ob sie mich im Radio gehört hat. Sie sagte nein. Vier oder fünf Leute habe ich noch gefragt, aber niemand hatte mich gehört. Dann bin ich nach Amerika und vergaß die Sache fast. 1952 war ich in London und habe den Basil Davidson getroffen. Ich sagte zu ihm: „Ich weiß, während des Krieges durften wir nie Fragen stellen. Aber jetzt frage ich: Warum hat man mich nicht gehört in Ungarn?“ Und er sagte: „Niemand hat dich gehört, die Sendungen gingen nie hinaus.“ Die Engländer hatten Leute zusammengesammelt, um mit ihnen eine Art Regierung bilden zu können, die Widerstand gegen die Deutschen leistet. Aber dann überlegten es sich die Engländer anders, und sie brauchten uns nicht. Uns in ein Konzentrationslager zu schicken, das hätte, obwohl es ein Tennisklub war, nicht gut ausgesehen. Und dann haben sie die ganze Sache inszeniert. Es war eine rein potemkinsche Sache.

Nach dem Krieg gingen Sie nach Amerika, lebten auch in New York. Und 1968 kamen Sie nach Deutschland zurück.
Am Schiller-Theater wollte man meine „Kannibalen“ herausbringen, und man wollte, dass ich die Inszenierung mache. Das war eine ganz merkwürdige Geschichte. Ich hatte eine unglückliche Liebesaffäre in London. Ich bin mit ihr zum Flughafen gefahren. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich wirklich gemein zu einer Frau. Denn sie wollte mitkommen nach Berlin. „Nein“, sagte ich, „lass mich in Ruhe, auf Wiedersehen!“ Ich bin ins Flugzeug gestiegen, und als wir abgehoben hatten, kam eine Erleichterung über mich, die ich sehr selten erfahren habe. Ich habe mich toll gefühlt. Und dann haben wir „Die Kannibalen“ gemacht. Zur Premiere habe ich mir ein Fluchtauto bestellt, weil ich Angst hatte. Aber es wurde ein Erfolg. Auch nach Österreich kam ich rein zufällig. Ich war in München, und der Günter Einbrodt, ein Schauspieler, sagte, dass das Schauspielhaus in der Porzellangasse frei wird, weil der Intendant (Hans Gratzer) nach New York geht. Ich habe gleich zugesagt – bevor ich es noch gesehen habe. So kam ich nach Wien.

Ihr größter Erfolg in jener Zeit des „Kreises“, wie Sie das Schauspielhaus nannten, war wohl „Masada“.
Und die Shakespeare-Collage. Ich habe sehr viel Shakespeare gemacht. In England habe ich sehr viel Shakespeare gesehen. Ich war etwas befreundet mit Lawrence Olivier. Ich war immer der Meinung, dass es den Perfektionismus, den die Kollegen immer wollten, nicht gibt. Auch der Shakespeare war nicht perfekt. Olivier hat zwei oder dreimal den König Lear gespielt. Er sagte zu mir: „Den einen Abend spiel’ ich die erste, die fünfte und die zehnte Szene, alles andere ist Scheiße. Und am nächsten Abend spiel’ ich die zweite, die dritte und die achte Szene, alles andere ist Scheiße. Perfektion gibt es nicht.“ Und das hat mir imponiert.

Was imponiert Ihnen an Shakespeare?
Er ist einfach der Größte. Er hat 35 oder 36 Stücke geschrieben. Ich möchte alle machen. Ich habe den zweiten „Richard“ vorgeschlagen, nachdem sie am Burgtheater den „König Lear“ abgelehnt hatten. Ein viel besseres Stück als „Richard III“! Aber eben: „Keine Königsdramen!“ Umgekehrt gibt es viele Stückeschreiber, die ich nie gemacht habe. Moliere nicht. Büchner nicht. Büchner ist für mich der größte Deutsche.

Werden Sie jetzt in Wien bleiben?
Ich habe meine Frau von Bremen nach München und Wien geschleppt. Sie fühlt sich hier sehr wohl. Ich bin im Frühjahr Ehrenmitglied des Burgtheaters geworden. Ich habe gefragt, was das bedeutet. Man hat mir erklärt, dass man mich, wenn ich gestorben bin, im Sarg rund um das Burgtheater trägt. Na ja, dachte ich mir, ich will eigentlich keinen Sarg, ich will eher eingeäschert werden. Das war immer meine Hoffnung: Sechs kleine Urnen für meine Ehefrau, meine Kinder und Enkelkinder, und in jeder ist ein bisschen Asche von mir. Bis ich erfahren habe, dass meine Asche im Ofen mit der Asche der anderen vermischt wird. Aber das geht doch nicht! Es muss doch meine Asche sein, es kann doch nicht eine andere Asche sein! Jetzt weiß ich nicht, ob das geht.

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