„Ich bin eine Vollzeitkämpferin“

Gehörlosenaktivistin Shirly Pinto hielt in der Knesset die erste Rede in Gebärdensprache ©Ouriel Morgensztern

Die Israelin Shirly Pinto lebt in einer Welt der Stille. Sie ist die erste gehörlose Parlamentsabgeordnete in der 75-jährigen Geschichte Israels.

VON RENÉ WACHTEL (TEXT) UND OURIEL MORGENSZTERN (FOTOS)

Am Schabbes-Tisch im Gemeindezentrum war Shirly Pinto vor ein paar Monaten einer der Ehrengäste. Ich war fasziniert von der jungen Frau, und tatsächlich änderte sie ihren Terminplan für ein Treffen. Zu unserer Verabredung im Café bei der Albertina wurde Shirly Pinto wie schon seit vielen Jahren von ihrer Assistentin und Gebärdendolmetscherin Liat Petcho begleitet. Denn Shirly Pinto ist gehörlos.

Bei unserem Gespräch sitzen die Gehörlosenaktivistin und ihre Assistentin einander gegenüber. Die Tochter eines ebenfalls gehörlosen Vaters und einer taubblinden Mutter ist mit einem gehörlosen Mann verheiratet und engagiert sich für die Rechte behinderter Menschen. Ich konzentriere mich auf Shirlys Gebärden, während ich Liat Petchos Übersetzung lausche. Liat übersetzte auch einen der vermutlich emotionalsten Auftritte von Shirly, nämlich ihre vor zwei Jahren gehaltene Rede vor der Knesset. Es war die erste Rede in der Geschichte des israelischen Parlaments in Gebärdensprache.

Zwei Jahre lang saß Pinto als erste gehörlose Abgeordnete im israelischen Parlament. Ich habe mir ihre erste Rede angesehen, als Einstieg für unser Gespräch: Wenig erstaunlich war diese für sie ein besonderes Ereignis, nicht nur, weil die Stimmung in der Knesset an diesem Tag besonders aufgeheizt war. Die Opposition unter Benjamin Netanjahu ritt in ihren Debattenbeiträgen harte Bandagen gegen die Regierungsfraktion. Es ging laut zu, ehe Shirly Pinto ans Pult trat und zu gebärden begann. „Ich referierte darüber, dass es Menschen mit Behinderung trotz der Bemühungen des Parlaments und vieler Organisationen wirklich schwer haben in Israel. Ich sagte, ich sei hier in der Knesset, um all diesen Menschen mit Behinderung ein Gesicht zu geben und für sie zu sprechen.“

Am Ende der Rede sei es kurz still gewesen, ehe sich alle Mitglieder der Knesset erhoben und minutenlang applaudierten: „Ich war so gerührt“, gebärdet sie. Auf dem Weg vom Rednerpult zurück zu ihrem Platz sei sie von den Abgeordneten aller Parteien umarmt und beglückwünscht worden, auch der Parlamentspräsident habe ihre Rede gelobt: „Es war wirklich ein bewegender Moment, dass alle Abgeordneten nach den emotionalen Debatten und heftigen Auseinandersetzungen davor nun zusammenstanden und mir Respekt zollten. Ja, das hat mich richtig stolz gemacht.“

Meine Frage, wie sie es als erste gehörlose Abgeordnete in die Knesset geschafft habe, beantwortet sie mit einer Geschichte aus der Bibel: „Auch Moses, eine der zentralen Figuren unserer Religion, hatte eine Sprechstörung. Er stotterte. Als G‘tt ihn zum Pharao entsandte, um die Israeliten aus Ägypten zu führen, war Moses überzeugt, dass er dazu unfähig sei. Aber G‘tt duldete keine Einwände! Schließlich ist es der Ewige, der sehend oder blind, hörend oder taub macht. G’tt stellte ihm seinen Bruder Aaron als Assistenten zur Seite. Und ein Traum wurde wahr.“

Shirly Pinto wurde 1989 in Kirjat Bialik bei Haifa geboren. Das Mädchen verbringt einen Großteil ihrer Kindheit bei den Großeltern mütterlicherseits, die darauf achten, dass das Kind Gebärdensprache und gesprochenes Hebräisch lernt – eine Zweisprachigkeit, die der Gehörlosenaktivistin heute zugutekommt. Dennoch realisiert sie schon bald, wie schwierig die Bewältigung des Alltags, etwa beim Einkaufen oder bei Behördenwegen, für ihre Eltern ist, Trotzdem – oder gerade deswegen – will Shirly in die Armee eintreten: „In Israel ist für Jugendliche der Armeedienst verpflichtend. Aber für Menschen mit Behinderung gab und gibt es keine Pflicht. Ich aber wollte unbedingt in die Zahal, also zur israelischen Verteidigungsarmee. Im ersten Jahr war es wirklich schwer, jeden Tag vom Norden zu meiner Einheit im Zentralraum zu fahren.“ Sie dient beim Air Force Technical Corps und wird, wie sie heute sagt, „voll integriert“. Sie bleibt sogar länger als die zwei Pflichtjahre und steigt in den Offiziersrang auf. „Vom damaligen Präsidenten Shimon Peres bekam ich eine Medaille für meine außergewöhnliche Karriere bei der Air Force. Diese Zeit hat mein Leben wirklich verändert. Denn die Armee gab mir trotz meiner Behinderung die Chance, es zu schaffen. Ich wurde als vollwertiger Mensch gesehen.“

2011, nach dem Ausscheiden aus dem Militärdienst, inskribiert sie Jus am Netanya Academic College; neben dem Studium sammelt sie jede Menge internationaler Erfahrungen. So wird sie unter anderem Mitglied der israelischen Delegation bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen in Genf. Seit 2016 ist sie Dozentin für Gebärdensprache an der religiös-zionistischen Bar-Ilan Universität in Ramat Gan im Bezirk Tel Aviv. Hier lebt sie auch mit ihrem ebenfalls gehörlosen Ehemann, einem Mitglied der israelischen Futsal Nationalmannschaft, und ihren zwei kleinen Kindern.

„Ich bin, wie man so sagt, eine Vollzeitkämpferin für Behindertenrechte“, meint sie lachend, und man kann deutlich erkennen, welche Energie in ihr steckt. Und zu tun gibt es genug: Schätzungsweise 1,8 Millionen Israelis haben eine physische, mentale, emotionale oder körperliche Behinderung beziehungsweise post-traumatische Belastungsstörungen. Für die von ihr gegründete Organisation „It’s possible“ sammelt sie eifrig Spendengelder. Sie plant Anlaufstellen in vielen Städten, wo man sich um die Rechte behinderter Menschen kümmern und die Bevölkerung für deren Probleme sensibilisieren soll. „Die Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderung ist zwar gesetzlich geregelt. Aber in der Praxis, ob bei der Arbeit, in den Schulen, an den Unis, in den Ämtern, ist die Bevölkerung bei diesem Thema noch nachlässig. Beispielsweise gibt es zwar die Verpflichtung für große Unternehmen, eine bestimmte Anzahl von Menschen mit Behinderung einzustellen. Aber es wird nicht kontrolliert. Ich will die Bevölkerung sensibilisieren und hoffe, dass es in ein paar Jahren besser um das Verständnis bestellt ist als heute.“

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