Fundamentalismus

© KURIER/Gerhard Deutsch

Von Paul Chaim Eisenberg

Das Judentum betreibt keine Mission. Wir glauben zwar fest, dass es einen Gott gibt, aber wir fühlen uns nicht verpflichtet, andere Menschen zum Judentum zu bekehren. Aber natürlich gefallen uns die Voraussagen der Propheten, dass es einmal einen Tag geben wird, an dem alle Völker der Erde erkennen, dass es nur einen Gott gibt.

Wenn wir sagen, dass es im Judentum keine Mission nach außen gibt, so stimmt das nicht für die Mission nach innen. Es gibt Menschen, die nie wirklich gläubig waren, und es gibt solche, die einmal gläubig waren und die Gebote eingehalten haben, dann aber ihren Glauben an Gott verloren haben. Das ist vielen Menschen durch die Schoa so ergangen. Das kann man ihnen nicht vorwerfen, und ich bin der Letzte, der das tun würde. Trotzdem kann man probieren, jene Juden, die vom Glauben abgefallen sind, zu ihm zurückzubringen.

Zur Mission nach innen gibt es einen Vers der Thora: „Hasse deinen Bruder nicht in deinem Herzen, vielmehr sage ihm, dass er etwas Falsches getan hat.“ Denn wer seine ungläubigen Mitmenschen gewähren lässt und nicht versucht, sie zu verbessern, der zeigt damit keine Liebe, sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Liebe ist eben nicht der Hass, sondern Gleichgültigkeit. Wenn ich mich aber verpflichtet fühle, dem anderen den richtigen Weg zu weisen, dann ist das wiederum kein Zeichen von Ablehnung, sondern eher ein Zeichen dafür, dass er mir wichtig ist.

Natürlich birgt dieses Gebot die Gefahr, dass wir zu Fundamentalisten werden – in der Theorie und in der Praxis. Ich habe viel über Fundamentalismus gelesen und eine eigene Theorie dazu entwickelt, wie er entsteht. Ich glaube, dass religiöse und observante Juden, also jene, die die biblischen Gesetze befolgen, so brav wie möglich ihre Pflichten erfüllen wollen. Ein Fundamentalist hingegen spielt den Polizisten Gottes. Er will, dass der andere möglichst so ist, wie er, der Fundamentalist, glaubt, dass er richtig liegt. Gerade im Zusammenhang mit heutigen Fundamentalisten, und zwar nicht im Judentum, sondern in anderen Religionen, erlaube ich mir zu sagen, dass diese oft gegen ihre eigenen Glaubensbrüder auftreten: weil sie von ihnen erwarten, dass sie brav oder überbrav dem gemeinsamen Glauben folgen.

Körperliche oder politische Gewalt, die das Ziel hat, religiöse Ziele durchzusetzen oder andere für ihren „Unglauben“ zu bestrafen, muss man Fundamentalismus nennen. Ein Fundamentalist glaubt oft, dass er direkt von seinem Gott angesprochen wird, der ihm persönlich mitteilt, was er tun soll. Wir sehen bei schrecklichen Terroranschlägen, dass diese oft mit dem Gebet „Allahu Akbar“, mit „Gott ist mächtig“, eingeleitet werden. Diese Worte des Gebets gehören eigentlich in der Moschee oder auf dem Gebetsteppich gesprochen. In dem Augenblick, wo jemand beim Vollzug eines Mordes oder Massenmordes diese Worte verwendet, ist es ein Missbrauch Gottes. Der frühere Oberrabbiner von England, Lord Jonathan Sachs, hat ein ganzes Buch mit dem Titel Not in God’s Name darüber geschrieben.

Meiner Beobachtung nach sind Fundamentalisten vollkommen humorlos und meist völlig frei von Selbstkritik. Humor verlangt von uns einen gewissen inneren Abstand zu den Dingen. Ich habe aber noch nie einen Fundamentalisten erlebt, der selbstkritisch oder selbstironisch war. Bei der Selbstkritik sind wir Juden Weltmeister, obwohl es natürlich auch bei uns Fundamentalisten gibt.

Wir alle dürfen Menschen sein und Fehler haben, aber diese religiös zu verbrämen und zu behaupten, dass wir unsere Untaten im Namen des Ewigen verüben, das ist eine unreligiöse, ja eine antireligiöse Einstellung. Es wäre sehr wichtig, dass die Religionsführer dagegen protestieren und diese Taten nicht relativieren.

In meiner Zeit als Oberrabbiner war ich an sehr vielen interreligiösen Aktivitäten beteiligt, zu Beginn waren das vor allem christlich-jüdische Gespräche. Umso mehr freute ich mich, als ich schon vor etwa zwanzig Jahren nach Graz eingeladen wurde, um an einem Symposium mit Christen, Moslems und Juden teilzunehmen. Auf dem Podium saßen ein christlicher Professor namens Harnoncourt, ich als Vertreter der Juden und ein Moslem, an dessen Namen ich mich leider nicht erinnere, der aber bekannt war für seine offene und tolerante Art. Wir nahmen also auf der Bühne Platz und die Zuschauer kamen schön langsam herein.

Da betraten plötzlich drei fundamentalistische Moslems in weißen Gewändern mit weißen Kappen den Saal. Das war, wie gesagt, vor zwanzig Jahren, und ich hatte keine Angst, dass die drei einen Anschlag verüben wollten. Aber ich war mir sicher und bereitete mich innerlich darauf vor, dass mich diese drei jungen Herren bei der anschließenden Publikumsdiskussion attackieren würden. Es kam aber ganz anders. Zu meiner Überraschung warteten sie nicht bis zum Beginn der Publikumsdiskussion, sondern starteten ihre Attacken bereits während des Podiumsgesprächs. Allerdings nicht gegen mich, sondern gegen den muslimischen Gast auf der Bühne. Sie sagten immer wieder, dass das, was er sagte, so nicht im Koran und in anderen muslimischen Gesetzeswerken stehe. Er war ihnen einfach zu liberal. Das ist ganz typisch: Die Fundamentalisten richten sich nicht immer, aber sehr oft zuerst gegen ihre eigenen Leute. An diesem Abend fand das nur verbal seinen Ausdruck. Aber der muslimische Podiumsgast hat mir später erzählt, dass er an diesem Abend von der Polizei nach Hause gebracht wurde. Zur Sicherheit.

Auch wir Juden kennen, wie gesagt, das Gebot, unseren Glaubensbrüdern und -schwestern das Judentum näherzubringen oder es zu stärken. Doch wie können wir ihnen den richtigen Weg weisen, ohne fundamentalistisch zu agieren? Die Antwort ist ganz einfach: mit Liebe. Dafür gibt es zum Beispiel eine simple Methode. Indem man einen Juden oder eine Jüdin, der oder die etwa den Schabbat (noch) nicht hält oder nicht kennt, mit Familie oder allein zum Schabbat einlädt. Dann erfährt dieser Mensch, wie schön dieses Fest sein kann. Ich denke, dass so die Mission nach innen funktionieren kann: Man geht auf den anderen zu, erklärt ihm langsam und liebevoll die Bräuche und lädt ihn ein.

Dazu passt wieder ein Zitat aus der Bibel. Es besagt, dass die Aktivität oder die Worte, die wir wählen, um den Glauben der anderen zu stärken, nicht von Hass und Überheblichkeit, sondern von Liebe getragen sein sollen: „Hasse deinen Bruder nicht in deinem Herzen, weise ihn zurecht, weil du ihn liebst, und nicht, weil du ihn hasst.“

„Fundamentalismus“ ist ein Kapitel aus Paul Chaim Eisenbergs Buch „Auf das Leben! Witz und Weisheit eines Oberrabbiners“ (Brandstätter Verlag, 143 S., EUR 22,–).

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