„Es geht um das Museum, nicht um mich“

Barbara Staudinger, geboren 1973 in Wien, erkennt als neue Direktorin viele Gründe, warum Menschen nicht ins Jüdische Museum kommen. Vor allem die Schwellenangst: „In unseren Fall gibt es noch die doppelte Hürde des Jüdischen“. © OURIEL MORGENSZTERN

Die Historikerin und Ausstellungskuratorin Barbara Staudinger leitet seit Juli das Jüdische Museum Wien (JMW). Die Nachfolgerin von „NU“-Herausgeberin Danielle Spera über aktuellen Antisemitismus, gängige Missverständnisse und ihre beruflichen Ziele.

Von Thomas Trenkler

NU: Nach Ihrer Promotion 2001 kuratierten Sie etliche Ausstellungen, waren von 2005 bis 2007 Kuratorin am Jüdischen Museum in München. Die Leitung des Jüdischen Museum Wien hat Sie 2009, als eine Nachfolge für Karl Albrecht Weinberger gesucht wurde, nicht interessiert?

Barbara Staudinger: Ich fühlte mich damals zu jung und unerfahren. Als ich von der Forschung ins Museum kam, erkannte ich, dass die kreative Umsetzung von Wissenschaft meinen Stärken entspricht. Ich dachte mir: Das ist genau mein Feld! Die Idee, dass man ein Museum auch leiten könnte, kam aber erst mit der Zeit.

Und so wurden Sie 2018 Direktorin des Jüdischen Museums Augsburg?

Ich habe gar nicht mitbekommen, dass die Stelle ausgeschrieben war. Aber der wissenschaftliche Beirat brachte meinen Namen ins Spiel. Daher wurde ich gefragt, ob ich mich nicht bewerben will.

Warum brachte er Ihren Namen ins Spiel?

Augsburg liegt als Reichsstadt im historischen Vorderösterreich, umgeben von ehemals habsburgischen Erbländern. Das Besondere an der Gegend sind die jüdischen Landgemeinden in der frühen Neuzeit, die groß und kulturell bedeutsam waren. Zu ihnen hatte ich bereits geforscht. Insofern kam ich mit einem Vorwissen nach Augsburg.

Augsburg steht im Schatten von München. Was macht das dortige Jüdische Museum aus?

Es wurde 1985 gegründet – als erstes in der BRD – und hat, wie das Wiener, zwei Standorte. Der eine ist die wunderschöne Stadtsynagoge, die das Novemberpogrom 1938 überdauert hat, immer wieder als Filmkulisse dient und weiterhin von der Israelitischen Kultusgemeinde genutzt wird. Dort sind die Dauerausstellung und die Büros untergebracht – gleich neben jenen der Kultusgemeinde. Es gibt daher eine große Nähe zur IKG. Der zweite Standort – für die Wechselausstellungen – ist die älteste bayerische Landsynagoge, sie befindet sich im heutigen Stadtteil Kriegshaber auf ehemals Habsburger Territorium.

In Wien sitzt die IKG im Aufsichtsrat des Jüdischen Museums. Ist die große Nähe nicht auch problematisch?

Wenn man die Frage in Richtung einer möglichen Einmischung stellt, geht man davon aus, dass die Kultusgemeinde und das Jüdische Museum verschiedene Interessen haben. Ich glaube, und das gilt für Augsburg wie für Wien: Es gibt zwei unterschiedliche Institutionen, die unterschiedlich arbeiten, aber im Endeffekt geht es beiden um dasselbe: um den Kampf gegen den Antisemitismus, die Bekämpfung von Vorurteilen innerhalb der Bevölkerung und die Verbreiterung des Wissens über jüdische Geschichte und Kultur. Es geht daher nicht um Einflussnahme, sondern um die Frage: Wo können wir kooperieren, um uns gegenseitig zu stärken? Darüber habe ich auch mit Oskar Deutsch, dem Präsidenten der IKG Wien, gesprochen.

Die IKG ist im Aufsichtsrat des JMW aber durch Ariel Muzicant vertreten. Gibt es schon konkrete Ziele?

Zum Beispiel, dass es in den Schulen mehr pädagogisches Programm zur Antisemitismus-Prävention geben muss. Ariel Muzicant hat mir dieses Anliegen vorgetragen und ist bei mir offene Türen eingerannt. Ich glaube, dass man mehr tun muss, als nur Klassen ins Museum zu holen. Man muss in die Schulen gehen!

Verunmöglicht die Nähe zur IKG nicht Fragestellungen, etwa zur Siedlungspolitik Israels?

Als Museum in Wien einen rezenten politischen Konflikt in Israel zu kommentieren, fände ich prinzipiell falsch. Unser Programm muss etwas mit der Stadt zu tun haben. Aber an Israel wird man nicht komplett vorbeikommen. Ein Thema könnte zum Beispiel sein, was die Wiener Jüdinnen und Juden mit Israel verbindet. Natürlich spielt hier auch die Politik hinein, aber in einem konkreten thematischen Kontext.

In dieser Stadt wird sehr wohl diskutiert, ob eine Kritik an der Politik des Staates Israel möglich ist, ohne sich gleich den Antisemitismus-Vorwurf einzuhandeln.

Das ist tatsächlich schwierig. Denn es gibt sehr wohl Äußerungen, die als Kritik an der Politik daherkommen, aber in Wirklichkeit antisemitisch sind. Ja, das könnte man thematisieren, aber vielleicht nicht in der Form einer Ausstellung. Hierzu müsste man sich nämlich fragen, welche Objekte man denn zeigen könnte.

Glauben Sie wirklich, dass die Judenfeindlichkeit in der österreichischen Bevölkerung zugenommen hat? Ich bemerke eine eher gegenläufige Tendenz: Vor zwei Jahrzehnten äußerte man sich sehr negativ über die Restitution von Kunstobjekten – heutzutage ist sie akzeptiert.

Ich gebe Ihnen recht, was die Restitution anbelangt. Auch deshalb, weil die österreichischen Maßnahmen international großen Applaus bekamen. Die Museen haben daher mit dem Herumlavieren aufgehört und ernsthaft die Bestände geprüft.

Hat nicht auch das Jüdische Museum Wien viele Jahre lang herumlaviert – wegen der IKG-Bestände?

Ja, ich glaube schon. Aber es geht nicht nur um die IKG-Bestände, sondern etwa auch um Schenkungen und Ankäufe mit ungeklärten Provenienzen. Dass jüdische Museen keine Provenienzforschung brauchen, stimmt einfach nicht. Nein, sie ist notwendig. Wie werden uns die Provenienzen fraglicher Objekte und Bestände genau anschauen und gegebenenfalls reagieren. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Aber ich möchte noch zum Antisemitismus antworten: Er hat sich auf eine andere Ebene verlagert. Es gibt weiterhin große Vorurteile, und die Verschwörungstheorien haben in Zusammenhang mit Corona eine Renaissance erlebt.

Ist die Zunahme von antisemitischen Vorfällen nicht eine Folge des Zuzugs aus muslimischen Ländern, für den die österreichische Bevölkerung gar nichts kann?

Welchen kulturellen Hintergrund es für Antisemitismus gibt, ist den Opfern im Prinzip egal. Aber es stimmt natürlich: Wenn wir von Antisemitismus in Österreich reden, müssen wir verschiedene Faktoren auseinanderhalten. Nur sollte dies nicht vom eigentlichen Thema ablenken – und das ist der Antisemitismus. Ich habe leider immer öfter das Gefühl, dass die Diskussion immer bei der Herkunft des Antisemitismus steckenbleibt und es immer weniger um die Bekämpfung des Antisemitismus selbst geht.

Warum präsentieren jüdische Museen fast ausschließlich jüdische Künstlerinnen und Künstler? Oder stempeln sie mitunter als Jüdinnen und Juden ab, obwohl sich diese nicht als solche definieren?

Ein jüdisches Museum muss das Problem ansprechen und sich in jeder Ausstellung fragen: Was ist jüdisch? Und: Was ist jüdische Kunst? Wenn der Künstler Jude ist? Und wenn ja, nach welcher Definition? Gibt es diese Kategorie überhaupt und ist es wichtig, das zu kategorisieren? Meines Erachtens geht es beim Ausstellen von Kunst um die Kunst – und nicht allein um die Biografie des oder der Kunstschaffenden. Und wenn ich die Biografie eines Künstlers thematisieren will, ist es vielleicht besser, dies mit Fotos aus dem Familienalbum zu machen. Denn sie sagen möglicherweise viel mehr aus als das Kunstwerk, das in einem bestimmten Kontext entstanden ist.

Wie werden sich diese Fragestellungen auf Ihr Programm auswirken?

Die erste große Ausstellung hat den Titel 100 Missverständnisse über und unter Juden und wird am 29. November eröffnet. Das Museum wird sich also unter anderem selbstkritisch fragen, wie es selbst dazu beiträgt, Stereotype und Missverständnisse zu bedienen. Die Ausstellung prüft die These, dass viele Vorurteile auf einem grundsätzlichen Missverständnis fußen. Ein Missverständnis ist zu Beispiel, dass Juden moralisch höher stehen müssten, weil sie etwas aus dem Holocaust gelernt haben. Die Ausstellung ist zudem eine gute Gelegenheit, die eigene Sammlung zu hinterfragen: Stützen Objekte der Sammlung Vorurteile oder falsche beziehungsweise problematische Bilder von Juden?

Sie haben keine jüdischen Wurzeln. Es könnte daher die Frage aufgetaucht sein: Gibt es keine Jüdin, die das Museum leiten kann?

Ich frage zurück: Würde es meiner Arbeit etwas hinzufügen, wenn ich Jüdin wäre? Es geht um das Museum – und nicht um mich. Meine Wurzeln sind unerheblich, da ich mich ja nicht selber ausstelle. Vielmehr geht es um meine Expertise – und diese habe ich, denke ich, gezeigt.

Das JMW ist der Teil der Wien Holding. Ist es da gut aufgehoben?

Ich finde schon. Die Holding gehört ja der Stadt Wien.

Passt die finanzielle Ausstattung?

Wir gehen harten Zeiten entgegen, die Inflation ist hoch, die Betriebskosten steigen. Sagen wir so: Es gibt mittlerweile mehrere Krisen, die von den Museen gemeistert werden müssen. Entweder schaffen wir es gemeinsam als Gesellschaft, sie zu erhalten, weil wir der Meinung sind, dass die Museen etwas zu unserer Lebenswirklichkeit beitragen und daher relevant sind. Oder es wird die Museen nicht mehr geben.

Was Sie sich allerdings nicht vorstellen können. Also braucht es mehr Geld.

Anders wird es nicht gehen. In diesem Zusammenhang stellt sich zum Beispiel die Frage: Haben die Wienerinnen und Wiener nicht ein Anrecht auf eine Darstellung ihrer Geschichte? Ich finde es richtig, dass im Wien Museum künftig, nach der Wiedereröffnung, der Eintritt in die Dauerausstellung frei sein wird.

Auch Sie hätten gerne den Gratiseintritt für Wienerinnen und Wiener?

Nicht unbedingt. Was ich viel lieber hätte, wäre ein Budget für Programme außerhalb des Museums. Denn es gibt viele Gründe, warum Menschen nicht ins Museum kommen. Der Eintrittspreis ist nur eine der Hürden. Eine andere ist der Anfahrtsweg – etwa wenn man in den Außenbezirken wohnt. Oder die Sorge, dass man im Museum unangenehm belehrt werden könnte. Dafür will niemand zahlen. Und in unseren Fall gibt es noch die doppelte Hürde des Jüdischen. Weil sich viele denken, dass hier der Holocaust abgespielt wird. Oder dass es eine religiöse Schlagseite gibt. Das heißt: Wir müssen diese Schwellenängste abbauen. Und daher müssen wir nach draußen gehen.

Ihre Vorgängerin hat in der Stadt „Sternstelen“ von Lukas Kaufmann aufstellen lassen – sie markieren die Standorte zerstörter Synagogen.

Dass es diese Erinnerungszeichen gibt, ist wichtig. Ich habe das Nach-draußen-gehen allerdings lauter gemeint – zum Beispiel mit Veranstaltungen an verschiedenen Orten, wo es etwa um die Frage gehen könnte, was ein jüdisches Museum überhaupt leisten soll.

Der Holocaust wird im JMW thematisiert, steht aber nicht im Zentrum. Braucht Wien ein eigenes Holocaust-Museum?

Ja! Und wenn es einem, ich polemisiere jetzt, wirklich leidtut, was im Nationalsozialismus passiert ist, dann errichtet man es auf dem Heldenplatz.

Dort, in der Neuen Burg, befindet sich das Haus der Geschichte der Republik. Es konzentriert sich in seinen Wechselausstellungen auf die Zeit des Nationalsozialismus.

Das reicht nicht. Viele unserer amerikanischen Besucher sind enttäuscht, weil der Holocaust in der Dauerausstellung nicht breit dargestellt wird. Unsere Mitarbeiterinnen sagen dann: „Wir sind ein jüdisches Museum.“ Worauf die Frage kommt: „Und wo ist das Holocaust-Museum?“ Eigentlich müsste man antworten: „Österreich ist zwar zusammen mit Deutschland das Täterland, aber leider ist uns das Thema nicht wichtig genug. Es gibt bloß im Hinterhof des alten Rathauses eine doch recht versteckte Ausstellung des Dokumentationszentrums des österreichischen Widerstands.“ Was ich sagen will: Der Holocaust bleibt aktuell. Ein eigenes Museum ist nicht länger wegzuargumentieren. Es ist beschämend, dass es derart lange wegargumentiert wurde.

Jede neue Direktion macht eine neue Dauerausstellung – gilt diese Aussage auch für Sie?

Die Dauerausstellung wird demnächst zehn Jahre alt. Ich will jetzt nichts niederreißen, aber ich sehe dieses Datum als Startschuss, um über eine neue Dauerausstellung nachzudenken. Die erste Frage wird daher lauten: Brauchen wir eine Dauerausstellung? Ich will diesen Prozess breit gestalten und offen angehen.

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