Erodiertes Vertrauen

Eine wahlmüde Bevölkerung als kleinster gemeinsamer Nenner: Benjamin Netanjahu (li.) wird zur Halbzeit die Regierungsgeschäfte an Erzrivale Benny Gantz (re.) übergeben. Foto: ©Amos Ben Gershom, GPO

Was die neue israelische „Einheitsregierung“ einzig verbindet, ist das gegenseitige Misstrauen beider Lager. Benjamin Netanjahu und Benny Gantz ist eine vierte Wahl erspart geblieben. Die zahlreichen anstehenden Probleme werden zu Prüfsteinen der Kompromissregierung.

Das Allerwichtigste sei jetzt, so viele Jobs wie möglich zu schaffen, erklärte Benjamin Netanjahu kurz vor seiner neuerlichen Angelobung als israelischer Regierungschef Mitte Mai. Er löste sein Versprechen auch gleich ein, zumindest im eigenen Kreis: Die neue israelische Regierung ist eine Art Jobversorgungsmaschine für Parteifreunde. Es ist die größte Regierung, die das Land je hatte. Während ein Viertel der erwerbstätigen Israelis arbeitslos ist, gönnt sich das Kabinett von Netanjahu und Benny Gantz stolze 34 Minister und 16 Vizeminister plus Kabinettsmitarbeiter sonder Zahl. Ja, billig sei das nicht, gestand Netanjahu den Kritikern zu – „aber immer noch billiger als eine vierte Wahl“.

Die Pandemie traf alle Länder hart. Während Regierungen anderswo aber schon im Kampf gegen das Covid-19-Virus strauchelten, hatte Israel im Frühling 2020 gleich mehrere Krisen auf einmal zu bewältigen. Die ohnedies stets prekäre Sicherheitslage wurde durch die laut ventilierten Annexionsfantasien nicht eben verbessert. Vor allem aber steckte das Land in einer Regierungskrise. Binnen eines Jahres hatten die Israelis dreimal ihr Parlament neu gewählt, jedes Mal gelang es den Parteien nicht, eine Regierung zustande zu bringen. Auch im März, mitten in der Coronakrise, war eine Einigung nicht in Sicht. Der Chef des Mitte-Links-Lagers Benny Gantz hatte vom Staatspräsidenten den Auftrag bekommen, eine Regierung zu bilden, doch die Aussicht, eine Koalition zu führen, die sich auch auf die Stimmen der arabischen Listen im Parlament verlässt, stimmte nicht alle im eigenen Lager froh. Indes beflügelte die Coronakrise die Popularitätswerte Netanjahus. Es sah ganz so aus, als würde ein viertes Mal neu gewählt werden.

Meuchler und Verräter

Dazu kam es nicht. Ende März schlug Gantz die überraschende Wende ein. Er verkündete, mit Netanjahu über eine Corona-Krisenregierung zu verhandeln. Er zahlte einen hohen Preis: Sein Parteibündnis zersplitterte, viele brandmarkten ihn als Verräter. Zumal Gantz im Wahlkampf stets betont hatte, dass ein Politiker wie Netanjahu, der mitten in einem Korruptionsprozess steckt, unmöglich die Regierungsgeschäfte führen könne. Netanjahu wiederum hatte Meuchelfotos von Gantz plakatieren lassen – mit dem Subtext, Gantz fühle sich den Interessen der israelischen Araber stärker verpflichtet als jenen der jüdischen Mehrheit. Die Kluft zwischen den beiden Lagern war und ist groß. Das Interesse Netanjahus, einmal mehr Regierungschef zu werden, war größer.

Da können beide Seiten noch so oft von einer „Einheitsregierung“ sprechen: Das einzige, was beide Lager vereint, ist ihr tiefes gegenseitiges Misstrauen. Selbst im Inneren der beiden Blöcke herrscht weniger Geschlossenheit, als den Chefs lieb ist. Auf rechter Seite drängen die beiden ultraorthodoxen Fraktionen auf die Ausweitung der Partikularinteressen ihrer Communities. Auf linker Seite wird sich Sozialminister Itzik Shmuli von der Arbeiterpartei womöglich die Beine in den Bauch stehen, wenn er beim Likud-Finanzminister um mehr Geld für Härtefälle bettelt.

Es gibt viele Gründe, daran zu zweifeln, dass diese Regierung die gesamte Legislaturperiode durchhält. Die nach 18 Monaten programmierte fliegende Amtsübergabe von Premierminister Netanjahu an Vize-Premierminister Gantz, bei der auch andere Ministerposten neu besetzt werden sollen, bietet jede Menge Stoff für innerkoalitionäres Drama.

Ehe mit Konfliktpotenzial

Zudem haben die Koalitionspartner in ihrem Regierungspakt ein paar Sollbruchstellen eingebaut. Ironischerweise sind es genau jene Klauseln, die den jeweils anderen am Ehebruch hindern sollen. Einige dieser Vertragspunkte sind dem israelischen Recht völlig fremd, sie müssen erst in Gesetze gegossen werden, und das Höchstgericht hat schon angekündigt, einen kritischen Blick auf diese Gesetze werfen zu wollen, wenn sie dereinst beschlossen und angefochten werden sollten. Gut möglich, dass es dann gar nicht so einfach geht wie gedacht, und ein paar Punkte des koalitionären Ehevertrags neu verhandelt werden müssen. Da schlummert ein neuer Konflikt – und ein weiterer Trennungsgrund.

Noch wichtiger ist die Frage, wie das Land aus der Krise finden soll, wenn selbst die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner beiden Seiten Schmerzen bereitet. Nach mehr als einem Jahr Übergangsregierung und Stillstand wäre es höchste Zeit für tiefgreifende Reformen. Genau davon wollen die Koalitionspartner aber vorerst nichts hören. Im Gegenteil: Netanjahu und Gantz haben sich verständigt, in den ersten sechs Monaten ihrer gemeinsamen Arbeit ausschließlich Corona-Belange behandeln zu wollen– mit einer Ausnahme. Ausgerechnet die brisante Frage der Annexion des Westjordanlands soll schon ab Juli auf die Agenda kommen.

Schwerer Druck

Schließlich ist da noch der Strafprozess gegen Netanjahu. Es ist beileibe nicht der erste Korruptionsprozess gegen einen hochrangigen Politiker in Israel. Es ist aber das erste derartige Strafverfahren gegen einen amtierenden Politiker. Die – nun deutlich geschwächte – Opposition wird alles tun, um den Prozess so weit wie möglich medial auszuschlachten. Netanjahus Verbündete wiederum werden, wie schon bisher, nichts unversucht lassen, um die Justiz zu diskreditieren und dem Höchstgericht zu unterstellen, es verfolge politische Motive.

Das alles trägt nicht dazu bei, das Vertrauen der Israelis in die Zukunft zu stärken. Drei Wahlen, monatelanges Dirty Campaigning und gebrochene Wahlversprechen auf allen Seiten lassen das Vertrauen in die Demokratie erodieren. In einer Phase der Rekordarbeitslosigkeit nützt das häufig nicht den Kräften, die das Gemeinwohl im Sinn haben. Rechtsaußen macht derweil weiter Druck für eine Annexion – koste es, was es wolle.

Es gibt aber auch Grund zur Hoffnung. Erstmals in der Geschichte des israelischen Staats ist mit Integrationsministerin Pnina Tamano-Shata jemand aus der strukturell benachteiligten äthiopischen Community in der Regierung vertreten. Die Justiz hat bewiesen, dass sie Druck von verschiedenen Seiten standhält. Und das Justizministerium ist nun nicht mehr in der Hand jener Partei, deren Chef von der Justiz verfolgt wird.

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