Eine heilige Verpflichtung

©Or Chadasch

Toleranz steht im Zentrum des Judentums, und zwar bereits in der Tora. Wieviel könnten wir als Jüdinnen und Juden zu einer toleranten und offenen Gesellschaft beitragen, wenn wir unsere Werte der offenen und toleranten Diskussion auch in den gesellschaftlichen Diskurs einbrächten?

Von Rabbiner Lior Bar-Ami

„Drei Jahre stritten die Schule Schammais und die Schule Hillels: eine sagte, die Halacha sei nach ihr zu entscheiden und eine sagte, die Halacha sei nach ihr zu entscheiden. Da ertönte eine Hallstimme und sprach: [Die Worte] der einen und der anderen sind Worte des lebendigen Gottes; jedoch ist die Halacha nach der Schule Hillels zu entscheiden. – Wenn aber [die Worte] der einen und der anderen Worte des lebendigen Gottes sind, weshalb war es der Schule Hillels beschieden, dass die Halacha nach ihr entschieden wurde? – Weil sie verträglich und bescheiden war, und sowohl ihre eigene Ansicht als auch die der Schule Schammais studierte; noch mehr, sie setzte sogar die Worte der Schule Schammais vor ihre eigene.“ (bEruwin 13b)

Hillel und Schammai waren die führenden Rabbinen um die Zeitenwende. Die Pirke Awot sprechen über die vielen Diskussionen, die sie miteinander führten, und nennen diese „einen Streit, der um des Himmels willen“ geführt wurde.[1] Einen Streit und eine Diskussion, die nicht zu Feindschaft oder Zwist führen und in der beide Meinungen anerkannt werden.

Die von ihnen begründeten Schulen führten ihre Diskussionen über die Anwendung der Halacha fort. Im Gegensatz zur Schule Schammais waren Hillel und dessen Schule aber auch deshalb „verträglich und bescheiden“, weil sie anerkennend und wertschätzend die Lehren der Schule Schammais lehrte – und sich somit auch in einer ausgesprochenen und gelebten Toleranz zeigte.

Und doch betonen die Rabbinen, dass sowohl diejenigen, die die Halacha gemäß der Schule Schammais als auch diejenigen, die die Halacha gemäß der Schule Hillels hielten, im Einklang mit der Halacha und Tora lebten. Allein Raw Nachman bar Jizchak lehnte diese tolerante und gleichberechtigte Auslegung der Halacha ab und akzeptierte allein die Meinung der Schule Hillels.[2] Diese Toleranz der Rabbinen im Talmud in Bezug auf unterschiedliche Meinungen und Praktiken der Halacha zeigt, wie wichtig dies für die talmudische Lehre und das Judentum ist. Für uns heute kann dies bedeuten, dass – wenn es bereits zur Zeit des Talmuds unterschiedliche Meinungen zur Halacha und dem Judentum gab – auch in der Gegenwart verschiedene Interpretationen möglich sind.

Auch in späteren Quellen finden wir eine Offenheit gegenüber verschiedenen Meinungen und Ansichtsweisen. Der Maharal aus Prag aus dem 16. Jahrhundert schreibt in seinem Werk Be’er haGola: „Deshalb verschweige man nichts, was der eigenen Meinung widerspricht […], auch wenn die Dinge gegen den eigenen Glauben und Religion sind, sage man nicht: ,Sprich nicht und verschließe deinen Mund!ʻ“[3] Der Maharal betont, wie wichtig die Gespräche miteinander sind, auch wenn wir nicht in jeder Hinsicht gleicher Meinung sind. Wir müssen im Dialog miteinander bleiben und nicht den Mund verschließen. Denn an jedem Dialog, an jedem Gespräch können wir als Jüdinnen und Juden und als Menschen wachsen. Wenn wir uns dem Dialog mit Menschen, die anders sind als wir – sei es, dass sie eine andere Meinung haben, eine andere Kultur, eine andere Religion oder Weltanschauung – öffnen, dann können wir wachsen, indem sich unser Horizont erweitert.

Toleranz steht im Zentrum des Judentums, und zwar bereits in der Tora. Die Tora beginnt im Buch Genesis mit dem wichtigen Punkt, dass wir als Menschen „beZelem Elohim“, im Abbild G*ttes erschaffen wurden[4]. Hierzu kommentiert und betont die Mischna: „[Es] ist nur ein Mensch erschaffen worden […] wegen des Friedens der Welt, damit nicht ein Mensch zum andern sage: ‚Mein Vorfahr war größer als dein Vorfahr!‘“[5] Wir alle sind im g*ttlichen Bilde geschaffen! Sie, liebe Leser:innen, und ich. Das bedeutet auch, dass alle Menschen, denen wir begegnen, in all ihrer Vielfalt, im g*ttlichen Bilde erschaffen wurden.

Und wenn Toleranz und Offenheit innerhalb der jüdischen Tradition in der Vergangenheit gepflegt wurden, wieviel mehr sollten wir heute als Jüdinnen und Juden untereinander diese Toleranz und Offenheit weiterhin pflegen? Wieviel könnten orthodoxe Jüdinnen und Juden von progressiven Jüdinnen und Juden lernen und umgekehrt? Und wieviel könnten wir als Jüdinnen und Juden zu einer toleranten und offenen Gesellschaft beitragen, wenn wir unsere Werte der offenen und toleranten Diskussion auch in den gesellschaftlichen Diskurs einbrächten, denn: „So wie ihre Gesichter einander nicht gleichen, so sind auch ihre Gedanken einander nicht gleich, aber alle haben ihre eigene Meinung.“ [6]

Die Aufgabe, die uns die jüdische Tradition in Bezug auf Toleranz auferlegt, ist keine leichte, aber sie ist heute wichtiger denn je – und unsere heilige Verpflichtung.

Lior Bar-Ami ist Rabbiner der Wiener Gemeinde von Or Chadasch.


[1]       Pirke Awot 5,17

[2]       bBerachot 11a

[3]       Be‘er haGola, Be‘er 7,2

[4]       Gen. 1,26-27

[5]       mSanhedrin 4,5

[6]       Bemidbar Rabba 21,2

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