Ein Weckruf auch für Europa

Forderungen nach der Errichtung eines Kalifats mitten in Europa. Eine Demonstration in Hamburg im April 2024. ©NIBOR/ACTION PRESS/PICTUREDESK.COM

Von Heinz Theisen

Während die Israelis verzweifelt um ihre Existenz kämpfen, geben sich die Europäer zwar grundsätzlich solidarisch, setzen mit ihrer Beschwörung humanitärer Gebote im Gazakrieg aus zumeist innenpolitischen Gründen aber einen anderen Akzent. Die Hamas nur „etwas“ zu besiegen, hat in der Vergangenheit freilich nie geholfen. Der Totalitarismus muss – auch in seiner religiösen Gestalt – mit seinen Wurzeln ausgerissen werden. Hätten die Israeli dies bei früheren Waffengängen erkannt, in denen sie es nach Raketenangriffen bei temperierten Gegenschlägen beließen, wäre ihnen der 7. Oktober erspart geblieben.

Aber auch so wird der Islamismus eine dauerhafte Herausforderung bleiben, für Israelis, für Europäer und in zunehmendem Maß für fast alle zivilisierten Staaten auf der Welt. Die islamische Welt steht bezüglich Demokratie, Bildung und wirtschaftlicher Lage für alle sichtbar im Hintertreffen. Darüber – so Ruud Koopmans – ist ein Teufelskreis entstanden, denn in diesen Kränkungen der Nachrangigkeit erweisen sich revanchistische islamistische Erzählungen als attraktiv für andere Verlierer der Modernisierungsprozesse und gewinnen daher nicht zufällig global an Bedeutung.

Im Rausch des Regenbogens

Die schleichende Islamisierung Europas seitens muslimischer Einwanderer erfolgt heute noch friedlich durch Inanspruchnahme der sozialen Infrastruktur. Die innere Sicherheit ist bereits stark erodiert. Gerechnet auf Bevölkerungsanteile von Juden und Muslimen gab es 2023 122-mal mehr antisemitische als islamfeindliche Hasskriminalität, seit dem 7. Oktober hat sich die Entwicklung akzentuiert. Der sich an Israels Existenz entzündende Judenhass ist nach Europa übergeschwappt.

Sollte Israel dem Druck der vom Mullah-Regime in Teheran angestachelten islamistischen Kampfverbände an seinen Grenzen irgendwann nicht mehr standhalten, würde den Europäern eine Staumauer wegbrechen. Doch statt gegen Islamisten ziehen die Regenbogen-Europäer gegen „islamophobe“ Warner ins Feld. Sie setzen ihre Moral über die Urteilskraft und halten auch die eigenen Grenzen für muslimische Einwanderung offen. Bereitwillig gewähren die offenen Gesellschaften des Westens selbsterklärten Feinden freien Zutritt sowie soziale Wohlfahrt und opfern der abstrakten Idee vom globalen Humanitarismus die innere Stabilität.

Der erste direkte Angriff Irans auf Israel scheint mehr Nachdenklichkeit zu erzeugen. Darüber wird auch der Unterschied zwischen autoritären und totalitären Regimen klarer. Mit autoritären Staaten des Nahen Ostens wie Jordanien und Ägypten kann der Westen kooperieren, mit einem totalitären Regime wie dem in Teheran nicht. Dessen absoluter Wahrheitsanspruch bedeutet wesensgemäß Feindschaft und Gewalt gegenüber Andersdenkenden und „Ungläubigen“. Kompromisse können hier allenfalls taktischen Charakter haben. Da die Mehrheit der Palästinenser die Hamas-Massaker nach wie vor befürwortet, ist eine Zweistaatenlösung mit einem „Gottesstaat“ als Nachbarn für Israel keine Option mehr.

Selbst die westliche Entwicklungshilfe, die den Palästinensern nahezu bedingungslos gewährt wird, ist von erschreckender Naivität. Hetzerische Schulbücher werden von der Uno direkt bezahlt, aber auch sinnvolle zivile Hilfen schaffen in den Haushalten der Hamas Raum für militärische Aufrüstung. Zwar haben die Europäer den Palästinensern nichts weggenommen, sondern im Gegenteil deren Fortexistenz durch faktisch bedingungslos vergebene Hilfsgelder erst ermöglicht. Aber auch diese Schutzgelder sind auf Dauer nicht zielführend. Nicht nur Palästinenser selbst, sondern extremistische Kräfte aus der ganzen islamischen Welt nutzen im Westen die Freiheiten des liberalen Systems zur Zelebrierung von Judenhass. An den Universitäten finden sie ebenso Unterstützung wie im kritisch-kreativen Umfeld der Berlinale. Mit den bloß autoritären Regimen im Nahen Osten wäre Koexistenz durchaus möglich, aber der gewalttätige Totalitarismus der Taliban, des Islamischen Staates, der Ayatollahs sowie von Hamas und Hisbollah ist ein anderes Kaliber. Im düsteren Schatten ihrer Bedrohung wäre eine Sicherheitspartnerschaft gegenüber islamistischen Bewegungen gar mit Potentaten geboten.

Da der apokalyptische religiöse Messianismus im Nahen Osten aufgrund seiner auf das Absolute zielenden Eigendynamik nicht zu beschwichtigen ist, muss er eingedämmt werden. Übertragen auf den Nahen Osten wäre die erfolgreiche Strategie des Kalten Krieges anzuwenden: politische Koexistenz mit autoritären arabischen Regimen und gemeinsame Eindämmung des totalitären Islamismus. Die Zähmung des Mullah-Regimes müsste auch die Zähmung von Hamas, Hisbollah und Huthi umfassen. Die Nato sollte den Blick nach Süden wenden und ihren Beitrag leisten in der Unterstützung einer neuen restriktiveren Grenzpolitik. Die australische Marine leistet bereits jetzt ihren Beitrag zur Sicherung des Landes gegenüber illegaler Einwanderung.

Hoffen auf ein Wunder

Damit Israel aus seiner demografisch und strategisch langfristig ziemlich hoffnungslosen Lage als „Daniel in der Löwengrube“ herauskommt, braucht es ein kleines Wunder oder, modern gesprochen, einen Paradigmenwechsel. Und tatsächlich gibt es Hinweise auf einen solchen sich abzeichnenden – in den Abraham Accords mit Saudi-Arabien und den Golfstaaten.

Die moderne wissenschaftlich-technische Zivilisation beruht vor allem auf der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen wie Religion, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, die jeweils ihrer Eigenlogik folgen und dadurch erst Leistungsfähigkeit erringen. Die gewaltenteilige Demokratie wäre eine zusätzliche Zivilisationsstufe. Über basale gesellschaftliche Regularien verfügen auch autoritär regierte Staaten. Sie sind daher das kleinere Übel gegenüber den Willkürsystemen des Totalitarismus.

Das Interesse an den Errungenschaften der westlichen Zivilisation könnte helfen, eine Brücke zwischen den Kulturen zu bauen. Selbst das Ringen um vorgeblich territoriale Fragen zwischen Israel und den Palästinensern könnte dadurch auf eine neue Ebene gehoben werden. Teile der arabischen Welt haben sich in der Zustimmung zu den Abraham Accords für die Kooperation mit dem einstigen Feind und damit für eine langfristige eigene zivilisatorische Zukunft entschieden. Meerwasserentsalzung, Begrünung von Wüsten, wirtschaftliche Dynamik und Tourismus erscheinen ihnen wichtiger sind als heilige Kriege. Diese hoffnungsvolle Annäherung hofften die Schergen Teherans mit dem 7. Oktober zu sabotieren. Es scheiden sich von nun an die Wege. In der gesamten islamischen Welt steht eine Entscheidung zwischen pragmatischer Entwicklung und islamistischer Regression an. Beim nächsten Abraham Accord sollten sich die Palästinenser beteiligen, die sich den ersten Versuchen verweigert hatten.

Nach dem 7. Oktober sollte Israel nicht mehr vergessen, dass Grenzsicherung wichtiger ist als die Ausdehnung eigenen Gebietes im Westjordanland. In einer Welt von Feindschaften hat sich die exzessive, das Volk entzweiende politische Beschäftigung mit Fragen der inneren Struktur als fahrlässig erwiesen. Selbst die israelische Regierung hat den religiösen Wahn der Hamas völlig unterschätzt. Noch vor einigen Jahren konnte man als Gastdozent in Haifa über die aufgekommenen Regenbogen-Allüren der Studenten nur staunen. Solche Tänze um das Goldene Kalb der Identitätspolitik kann sich Israel heute nicht länger leisten. Die jungen Israeli streiten heute nicht mehr über Geschlechterfragen.

Staat und Gesellschaft Israels erweisen sich in der Krise als äußerst wehrbereit. Die israelische Widerstandsfähigkeit basiert auf dem positiven Bezug zur eigenen Kultur, Religion und Geschichte. Bei aller kulturellen und ethnischen Pluralität können die Israeli auf den Fundamenten der jüdischen Leitkultur aufbauen. Mit der in Europa modisch gepflegten „postkolonialistischen“ Selbstverachtung wäre solches nicht möglich. In Deutschland ist die Bereitschaft, das eigene Land wehrhaft zu verteidigen, auf einem Tiefpunkt angelangt. Der Kinderreim „Frieden schaffen ohne Waffen“ entlarvt sich mit jedem Messerangriff als gefährliche Illusion. Wehe, wenn wir von einem massiv mit Langstreckenraketen aufgerüsteten Regime wie jenem Irans auch nur erpresst werden sollten. Kein nennenswertes Abwehrsystem könnte uns den Schutz gewähren, den die Israeli gegenüber den Raketen der Mullahs hatten.

Wenn es den Europäern nicht gelingt, wieder ein positives Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte und Kultur zu finden, wird es bald nichts mehr geben, was beschützenswert ist. Als Erstes müssten die Europäer wieder den Unterschied zwischen ihrer eigenen und anderen Kulturen begreifen. Nichts von den Freiheiten und Sicherheiten, die wir nach wie vor genießen, ist selbstverständlich. Vom leidgeprüften Israel ist darüber eine Menge zu lernen.

Heinz Theisen ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln. Dieser Kommentar erschien am 29.4.2024 in der „Neuen Zürcher Zeitung“. Wir danken für die freundliche Genehmigung des Nachdrucks.

Die mobile Version verlassen