Ein Universum für jüdische Helden

Kostümprobe: Tobey Maguire legt in Sam Raimis Blockbuster „Spider-Man“ (2002) das Trikot des Spinnenmanns an. ©Columbia Pictures/Marvel

Stan Lee machte mit Marvel Comics aus einer kleinen Verlagsabteilung einen der erfolgreichsten Comicbuchverlage und milliardenschweren Konzern. Vor allem aber schuf er jüdische Superhelden.

Von Mark Elias Napadenski

„Der Genuss, eine Geschichte zu lesen und sich zu fragen, was dem Helden als nächstes passiert, ist ein Genuss, der jahrzehntelang gehalten hat und der, wie ich denke, immer halten wird.“
Der wohl bekannteste Geschichtenerzähler als Comicautor – und Mitgründer von Marvel Comics – war Stan Lee. Der als Sohn rumänisch-jüdischer Einwanderer 1922 in New York als Stanley Martin Lieber geborene Lee ist der Schöpfer von unzähligen, mehrere Lesergenerationen begeisternden Superhelden. Man kennt sie alle, die mehr oder weniger unsterblichen Helden: Spider-Man, die X-Men, Ironman, The Fantastic Four, Hulk oder Thor.

Identifiziere dich!

Lee begann seine Karriere als 16-jähriger Büroassistent beim Verlag Timely Publications, durfte aber bald kreativ mitarbeiten – und drei jahre später die Verantwortung für die hauseigene Marvel-Reihe übernehmen. Er machte aus der Abteilung schließlich Marvel Comics und einen der erfolgreichsten Comicbuchverlage.

Als Gegenpol zu den klassischen Helden wie Superman oder Captain America schuf Stan Lee The Fantastic Four. In vielen Interviews berichtete er, dass er damals nichts zu verlieren gehabt habe, weil er ohnehin mit dem Gedanken gespielt habe, seine Position als Autor aufzugeben. Er wollte daher ein Buch ganz nach seinen Vorstellungen schreiben und auf die Anforderungen des Verlages pfeifen. Das Risiko, seinen Herausgeber zu verärgern, nahm er in Kauf. Doch die 1961 erschienene erste Ausgabe wurde ein derartiger Sensationserfolg, dass er von nun an freie Hand bekam.

Das Besondere an seinen Superhelden ist, dass sie mit ihren Alltagsproblemen eine Identifikationsmöglichkeit bieten. Peter Parker, wie Spider-Man mit bürgerlichem Namen heißt, bleibt trotz seiner Superkräfte ebenso ein Außenseiter wie der Nuklearphysiker Bruce Banner alias Hulk; und das mit einem versteinerten Körper ausgestatte The Thing aus The Fantastic Four wiederum hat große Schwierigkeiten mit zwischenmenschlichen Beziehungen, denn es leidet unter seinem Aussehen, seit ein Unfall Ben Grimm zu diesem Monster machte. Dazu kommt, dass Lees Geschichten nicht in einem fiktiven Universum spielen. Seine Helden stammen nicht von einem anderen Planeten wie Superman, sondern beispielsweise, wie Peter Parker, eben aus Queens.

Es gibt Stimmen, die behaupten, das Marvel-Universum verbreite grundsätzlich jüdische Werte und zeige inhaltliche Parallelen zu religiösen Schriften. Tatsächlich sind einige seiner Bösewichte und Superhelden jüdisch, auch das eine Konsequenz einer realistischen Darstellung inklusive historischer und kultureller Fakten. Bei den Fantastic Four gibt es Szenen, in denen The Thing betet; es wird auch explizit über den jüdischen Familienhintergrund von Ben Grimm gesprochen, der aus Lower East Side von Manhattan kommt, einem historisch jüdischen Stadtteil.

Mutierte Erzfeinde

Die ambivalenteste Superheldenfigur Lees ist wohl Magneto. Sein wahrer Name lautet Max Eisenhardt, ein aus Deutschland gebürtiger Jude, der während des Zweiten Weltkriegs in Auschwitz interniert war. Seine gesamte Familie wird ermordet, nur ihm gelingt unter dem Decknamen „Magnus“ gemeinsam mit seiner Freundin Magda die Flucht aus dem Lager. Zunächst werden sie in einem osteuropäischen Dorf sesshaft und bekommen eine Tochter namens Anya. Als sich allerdings erstmals seine Magnetkräfte zeigen, schreitet ein wütender Mob zur Lynchjustiz: Anya wird getötet, Eisenhardt zerstört in Notwehr das halbe Dorf, Magda verlässt ihren Mann voller Angst und bringt Zwillinge – die Mutanten Scarlet Witch und Quicksilver – zur Welt. Max Eisenhardt wiederum flüchtet verbittert in den neugegründeten Staat Israel und nimmt dort die Tarnidentität „Erik Lehnsherr“ an. In Israel trifft er den US-amerikanischen Mutanten Charles Xavier: Der spätere Professor X wird vom besten Freund rasch zum erbitterten Erzfeind. Während Magneto die Menschheit als „Barbarenrasse“ verabscheut, glaubt Xavier als überzeugter Pazifist an eine friedliche Koexistenz zwischen Menschen und Mutanten. Magneto gründet die Mutanten-Terrorgruppe „Bruderschaft der bösen Mutanten“, Xaxier im Gegenzug das Mutanten-Heldenteam X-Men. Interessant ist, dass Scarlet Witch und Quicksilver Magnetos erste Rekruten werden, ohne dass sie von ihrer Verwandtschaft wissen.

Ein weiterer jüdischer, wenngleich weniger prominenter Charakter in der Marvel-Welt ist Sabra, die als Ruth Bat-Seraph in der Nähe von Jerusalem geboren wird und nach der Manifestation ihrer Macht in einem speziellen Kibbuz aufwächst, der von israelischen Regierung betrieben wird. Ruth Bat-Seraph wird die erste übermenschliche Agentin, die dem Mossad dient. Sie wird zusätzlich zu ihrer Tätigkeit als Agentin auch Polizeibeamtin. Ihre erste öffentliche Handlung als Sabra ist ein Kampf mit dem Hulk, von dem sie fälschlicherweise glaubt, er arbeite mit arabischen Terroristen zusammen. Sabra trägt selbstverständlich ein blauweißes Kostüm, auf ihrer Brust prangt ein Davidstern – Assoziationen zur israelischen Flagge sind erwünscht.

Jüdisch oder nicht?

Oft zeigt sich, dass Comicautoren in ihren Werken persönliche Geschichten und Alltagsprobleme verarbeiten, das war bei Stan Lees Erzählungen für Marvel nicht anders. Diese Nahbarkeit der Figuren war jedoch ein Novum von Marvel – und verantwortlich für den Erfolg. So ist die Darstellung von New York in den Sechzigerjahren bis heute ein markantes Markenzeichen der Spider-Man-Reihe. Die Saga ist wohl eine der umfangreichsten und chaotischsten Heldengeschichten, die in mehreren Ausgaben existiert, sodass es mittlerweile verschiedene Spider-Man-Figuren in unterschiedliche Universen gibt.

Ist Spider-Man jüdisch? Ja und nein. Peter Parker erfüllt zwar einige Merkmale, die dafürsprechen; und in einigen Versionen ist er es tatsächlich auch, so wie im Film Into the Spider-Verse (2018), in der eine alternative Version, Peter B. Parker, jüdisch heiratet. Ob aber der originale Peter Parker von 1962 jüdisch ist, bleibt offen.

Die These, dass Marvel Comics bewusst als Gegengewicht zu anderen, nach christlichen Idealen konzipierten Superhelden geschaffen wurde, steht auf wackeligen Beinen. Denn auch die Produzenten und Autoren, die an der Entstehung des zweiten großen Comicverlages, DC Comics, mitwirkten, waren großteils jüdische Einwanderer. Der innere Konflikt und das konstante Hinterfragen der Gesellschaft tragen wesentlich zur Erfolgsgeschichte von Comics bei – und sind auch der Grund für die vielseitige und boomende Produktion von Graphic Novels.

Kostümprobe: Tobey Maguire legt in Sam Raimis Blockbuster „Spider-Man“ (2002) das Trikot des Spinnenmanns an. Absolvierte auch bejubelte Cameoauftritte in den Verfilmungen seiner Comics: Stan Lee (1982–2018). © Gage Skidmore/Wikimedia
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