Die Religion als Kunst

Aus gemeinsamen abrahamitischen Wurzeln sind Judentum, Christentum und Islam erwachsen. In Helga Lannochs Skulptur „Orient und Okzident“ verweisen Davidstern, Kreuz und Halbmond darauf. © IMMANUEL GIEL/CC BY-3.0

Judentum, Christentum und Islam ähneln sich besonders in einem Punkt: Sie weisen alle logische Widersprüche auf, die auf ihre Entstehung zurückgehen. 

VON ERIC FREY

Die Ringparabel aus Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise ist eine der bekanntesten Erzählungen der deutschen Klassik und steht mit ihrer Botschaft ganz im Geist der europäischen Aufklärung: Alle drei abrahamitischen Religionen sind in Gottes Augen gleichwertig, keine ist besser als die andere. Lessing wurde dazu von seinem Freund, dem jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn, inspiriert. Aber wie der deutsche Judaist Christoph Schulte in seinem Buch Von Moses bis Moses: Der jüdische Mendelssohn darlegt, waren die drei Religionen für Mendelssohn nicht gleichwertig. Er blieb ein gläubiger Jude bis zum Ende seines Lebens und kritisierte vor allem die zentralen Glaubenslehren des Christentums als unplausibel und irrational: die Dreifaltigkeit, die Menschwerdung Gottes und auch die Tilgung der Sünden anderer Menschen durch Jesus’ Tod am Kreuz. 

Doch logische Widersprüche sind nicht auf das Christentum beschränkt. Auch das Judentum und der Islam bauen auf Vorstellungen und Lehren auf, die selbst gottgläubige Menschen mit vernünftigem Denken nicht nachvollziehen können und die vor allem in sich nicht stimmig sind. So gesehen kann man die Ringparabel auch anders auslegen: Keine der drei Religionen ist den anderen überlegen, weil sie durchgehend gedankliche Schwachstellen aufweisen. Und diese gehen bereits auf ihre Entstehung zurück.

Stammesdenken

Beginnen wir mit meiner eigenen Religion, dem Judentum. Sie ist eine Stammesreligion, die einzig und allein einem Volk dient, aber gleichzeitig einen universalistischen Anspruch verfolgt. Adonai ist der Gott Israels und regiert gleichzeitig die Welt. Die Israeliten wollen nicht die Welt erobern, sondern nur den ihnen von Adonai versprochenen Landstrich. Was außerhalb von Erez Israel geschieht, ist für diesen allmächtigen Gott offenbar zweitrangig. Die einzige Befreiungsgeschichte, die ihn interessiert, ist der Exodus; die Leiden und Triumphe anderer Völker tun es nicht. Bis auf die ersten Abschnitte der Genesis spielen sie in der jüdischen Religion keine Rolle.

Der Widerspruch zwischen Stammesdenken und universellem Anspruch zieht sich durch alle biblischen Texte, ebenso durch unzählige Gebete und Psalmen. Stets muss man sich dabei fragen: Wenn der Ewige so mächtig ist und seine Gesetze so gut, warum sind sie einem Volk vorbehalten und gelten nicht für die ganze Menschheit? Warum sind Juden nicht angehalten, diese Lehren in der ganzen Welt zu verbreiten? Der Verzicht auf die Mission Andersgläubiger hat das Judentum zu einer friedlicheren Religion gemacht als Christentum und Islam, gleichzeitig aber dem Vorwurf der Exklusivität und Überheblichkeit ausgesetzt. Das heizt seit Jahrtausenden – ohne jede Berechtigung – den Antijudaismus an.

Aber auch die universelle Perspektive ist ein zentraler Teil des jüdischen Glaubens, was auch den Beitrag von so vielen jüdischen Denkern, Forschern und Künstlern – Männern wie Frauen – zur allgemeinen Kultur erklärt. Diese beiden Stränge, das Stammes- und das Menschheitsprinzip, sind in der jüdischen Geschichte immer wieder aufeinandergestoßen – und tun das auch in der Gegenwart. Dieser Konflikt spaltet etwa die israelische Gesellschaft. Während aufgeklärte Israelis ihr Land als geistigen und moralischen Leuchtturm für die Welt sehen wollen, ist das Hauptziel der Nationalreligiösen die Besiedelung von einem Stück Land.

Diesen Widerspruch im Judentum hat das Christentum aufgelöst, allen voran der Apostel Paulus, der alle Menschen am Glauben an den jüdischen Gott teilhaben lassen wollte. Aber um dieses Ziel zu erreichen, ließ er nicht nur das strenge Gesetzeskorsett des Judentums fallen, sondern fand auch einen Weg, den fernen, unsichtbaren Gott den Menschen näherzubringen. Das geschah in der Gestalt von Jesus.

Widersprüche

Doch damit verstrickte sich die junge christliche Religion in eine ganze Reihe neuer Widersprüche. Denn wie kann eine Religion von sich behaupten, monotheistisch zu sein, und gleichzeitig einen Gottessohn bzw. die Dreifaltigkeit postulieren? Wie kann Gott in Gestalt von Jesus Mensch werden, warum sollte er das tun? War Jesus’ Kreuzigung durch die Römer eine Tragödie oder für die Erlösung der Menschheit notwendig und daher wünschenswert? Über manche dieser ungeklärten Fragen und rational nicht nachvollziehbaren Glaubenslehren haben sich Christen 2000 Jahre lang gestritten, einander deshalb bekämpft und in Scharen umgebracht. Aber zumindest den Theologen haben die vielen Inkonsistenzen des Christentums stets ausreichend Stoff geboten.

Der Islam hat diese Probleme nicht. Mohammed hat die einzige rein monotheistische Universalreligion geschaffen. Dafür hat er das Judentum für sich vereinnahmt, in einigen Punkten verschärft, in anderen gelockert, und vor allem den Glauben für die ganze Welt geöffnet. Allah ist an kein Volk gebunden; jeder Mensch kann, ja jeder Mensch soll Muslim werden.

Doch auch dabei sind neue Widersprüche entstanden. Denn der Religionsstifter Mohammed war nicht nur ein Prophet, sondern auch ein Politiker und Feldherr, der seinen Glauben mit dem Schwert verbreitet hat. Die von ihm geprägte Schrift, der Koran, ist daher voller politischer Botschaften aus dem 7. Jahrhundert. Und weil dies Gottes Wort ist und Mohammed eine viel zentralere Rolle im Islam spielt als etwa Moses im Judentum, fällt es Muslimen heute schwer, dieses politische Gerüst abzuwerfen und sich auf den reinen Glauben zu konzentrieren. Wer es tut, läuft Gefahr, von anderen Jüngern Mohammeds mit Gewalt an gewisse Lehren des Koran erinnert zu werden. Die mittelalterliche Entstehungsgeschichte steht einer modernen Religionsauffassung allzu oft im Weg.

Machtlosigkeit

Auch das ultraorthodoxe Judentum kennt dieses Problem. Aber in 2.000 Jahren Machtlosigkeit haben Juden gelernt, Religion von Politik zu trennen. Erst die Gründung des Staates Israel hat diese alten Konfliktzonen wieder aufbrechen lassen.

Kann es nicht eine Religion geben, die einfach nur einen Gott kennt, ganz ohne widersprüchliches historisches Beiwerk? So attraktiv diese Vorstellung auch erscheinen mag, so wenig bietet sie den Suchenden Sinn. Denn der Glaube an eine höhere Macht ohne moralische Gebote und Traditionen ist für die meisten Menschen blutleer und unbefriedigend. Eine Religion benötigt eine Offenbarung, in der die genauen Inhalte des Glaubens von Gott vermittelt werden. Doch dafür braucht es auch einen Propheten, der diese Botschaft empfängt und weitergibt. Und schon landet man in jener Mischung aus Geschichte und Mythos, die die Vernunft auf eine harte Probe stellt.

Die rationalen Brüche im Kern aller drei monotheistischen Religionen lassen sich nur mit den irrationalen Seiten des Glaubens überbrücken – mit Ritualen, mit Spiritualität und mit Frömmigkeit. Das ist auch gut so. So sehr uns viele Rabbiner, Priester und Imame vom Gegenteil überzeugen wollen – Religionen lassen sich nicht mit Vernunft erklären. Sie zwingen uns, dem logischen Denken eine Pause zu gönnen und einer anderen Seite des menschlichen Geistes Raum zu geben. Sie gehören viel eher zum Bereich der Kunst als der Wissenschaft. Auch darin sind alle drei abrahamitischen Religionen gleich.

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