Die Kinder aus Wien

Großbritannien, das die größte Anzahl der Kinder aufnahm, erweckte den Schein eines sicheren Hafens. Doch auch die Ankunft auf der Insel bedeutete das Ende der Kindheit. Bild: ©USHMM

Zwischen Ende November 1938 und dem 1. September 1939 gelang etwa 10.000 unbegleiteten jüdischen Kindern die Flucht aus dem Nazireich. Oft waren sie die einzigen aus ihren Familien, die den Holocaust überlebten. An sie erinnert die Ausstellung „Jugend ohne Heimat. Kindertransporte aus Wien“ im Jüdischen Museum Wien.

„Meine Österreicher sind geschmackvoll, witzig, gescheit und ironisch“, schrieb der Schriftsteller, Hörspielautor und Regisseur Jakov Lind in seinem Gedicht Kassandrische Melodie. Am 12. Dezember 1938 wurde der damals Elfjährige mit dem ersten Kindertransport in die Niederlande geschickt, gemeinsam mit seinen zwei Schwestern und noch unter seinem Geburtsnamen Heinz Landwirth. Die Niederlande gehörten – neben Belgien, Frankreich, Schweden, den USA und der Schweiz – zu jenen Ländern, die nach britischem Vorbild verfolgte Kinder aus Nazi-Deutschland und dem ehemaligen Österreich aufnahmen, keines allerdings so viele wie Großbritannien. Kinder, die in ein Land kamen, das später von der deutschen Wehrmacht besetzt wurde, mussten unter abenteuerlichen Bedingungen eine weitere, noch gefährlichere Flucht antreten. Nicht allen gelang sie.

Heinz Landwirth alias Jakov Lind überlebte. Seine lebensgefährliche Odyssee mag Beispiel für viele sein: Er lebte in drei verschiedenen Kinderheimen und ebenso vielen Pflegefamilien. In Gouda wurde er in einem Hachschara-Lager auf ein Pionierleben in Palästina vorbereitet, die zwei letzten Kriegsjahre verbrachte er zuerst als Knecht auf einem Bauernhof und danach als Schiffsjunge auf einem Rheinschlepper. Mit gefälschten Papieren überlebte er mitten unter Nazis. 1945 emigrierte er nach Palästina, zwei Jahre nach der Staatsgründung Israels kehrte er nach Europa zurück. Er lebte in Amsterdam und studierte am Max Reinhardt Seminar in Wien. Die Stadt würdigte den Schriftsteller, der seine letzten Lebensjahre in London, New York und auf Mallorca verbrachte, spät: 1997 erhielt er die Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt Wien in Gold, 2009 wurde in der Leopoldstadt eine Straße nach ihm benannt. Den Theodor-Kramer-Preis bekam er erst 2007, im selben Jahr starb er 80-jährig in London. 

Nur mehr wenige der damaligen Kinderflüchtlinge leben noch, die meisten hochbetagt in Großbritannien und den USA. Die Vereinigten Staaten hatten während des Krieges nur wenige unbegleitete Kinder aufgenommen; die meisten kamen erst nach dem Krieg, als explizit dazu aufgerufen wurde, jüdische Flüchtlinge und Überlebende aus Europa aufzunehmen. Ihre Kinder und Kindeskinder haben einen bedeutenden Anteil an der Bewahrung der Geschichte ihrer Eltern. Melissa Hacker beispielsweise ist – als erstes Mitglied der zweiten Generation – Präsidentin der „Kindertransport Association“ mit Sitz in New York. Mit ihrer Dokumentation My Knees Were Jumping leistete die Tochter der gebürtigen Wienerin Ruth Morley, die mit einem Kindertransport den Nazimördern entkam, 1996 Pionierarbeit.

Wie Brot schmeckt

Viele Überlebende und ihre Familien folgten vorigen Herbst der Einladung des Jüdischen Museums Wien zu einer Jause ins Österreichische Kulturforum in New York. Die Atmosphäre war beschwingt, man tauschte Erinnerungen an die verlorene Heimat aus, an die Flucht, das Ankommen und Heimischwerden in den USA. Viele lernten einander erst kennen, andere kannten einander zwar, wussten aber nichts von den Parallelen in ihrem Leben. Zwei Töchter von Überlebenden waren sogar Highschool-Freundinnen, hatten aber bis zu diesem Tag nicht gewusst, dass jeweils ein Elternteil mit einem Kindertransport gerettet worden war. Es war ein Zusammentreffen außergewöhnlicher und warmherziger Persönlichkeiten, die ihr Leben als ein unerwartetes Geschenk anzusehen scheinen. Wer, wie ich, noch mehr hören mochte, wurde sogar zum Frühstück eingeladen. So liegt es nun an mir, dankbar zu sein für die damit einhergehenden, unvergesslichen Gespräche. Lore Segal, die ihre schriftstellerische Karriere 1961 mit dem Artikel The Children’s Transport im New Yorker begründete, servierte Kaffee, Eier und Schwarzbrot. Dieses Brot erinnerte mich an ihre Kurzgeschichte Black Bread, mit der sie dem selbstgebackenen Brot ihrer Großmutter ein literarisches Denkmal setzte. Dieses hier käme ihm schon halbwegs nahe, sagte sie, doch das Brot ihrer Kindheit sei in der Neuen Welt nicht wiederzufinden.

Das Essen war und ist für viele Flüchtlinge tägliche Erinnerung an die verlorene Heimat. So ist es kaum erstaunlich, dass Gretel Beer – auch sie eine durch einen Kindertransport Gerettete – als Kochbuchautorin, etwa mit Classic Austrian Cooking, in Großbritannien Erfolge feierte. 

Bei Josef Eisinger, der seine Muttersprache vermisst und unbedingt Deutsch sprechen wollte, bekam ich den Kaffee in dem gleichen Service, das auch meine Großmutter besitzt. Er zeigte mir sein Tagebuch, das er in England auf einer Farm begonnen hatte: „Ich bin ein Wiener. Ich bin in Wien geboren, bin in Wien in die Schule gegangen. Ich habe in Wien meine Kindheit erlebt, ich bin in Wien glücklich und unglücklich gewesen. Ich bin eben ein Wiener. Ich bin solange in dieser Stadt gewesen, bis mich ein Herr aufgefordert hat, sie zu verlassen. Es war Herr Hitler.“

Sabine Bergler ist Kuratorin der Ausstellung „Jugend ohne Heimat. Kindertransporte aus Wien“, ab 20. Mai, Jüdisches Museum Wien


Heimweh
von Hans Spielmann (1929–2013)

Ich ging in meine Heimat.
Doch erkenn ich meine Heimat nicht.
Sie hat sich so verändert.
Ich glaub, dass mir mein Herz zerbricht.

Die Jugend aber denkt ganz neu.
Und scheint den alten Werten treu.
Es liegt in ihren jungen Händen
Endlich den Rassenhass zu enden.


Der 1929 in Himberg bei Wien geborene Hans Spielmann ist einer jener zwanzig Jüdinnen und Juden, deren Lebensgeschichten, Schicksale, persönliche und berührende Erinnerungen und Fotos die in London lebende österreichische Fotografin Marion Trestler in dem von ihr herausgegebenen Buch Vienna – London: Passage to Safety gesammelt hat. Hans kam im März 1939 mit einem Kindertransport nach London, nachdem eine Tante Bürgen für ihn gefunden hatte. Vater Oskar Spielmann war nach Brasilien geflüchtet, Mutter Edith und die Großeltern konnten, wie Hans, nach England entkommen.

Die Kindertransporte wurden von mutigen Menschen organisiert und durchgeführt: Juden, aber auch Christen und Atheisten, die nicht mitgemacht haben bei dem nationalsozialistischen Wahnsinn, nicht mitgelaufen sind, nicht weggeschaut haben. Innerhalb von neun Monaten wurden hunderte Zugreisen organisiert, um Kinder in Sicherheit zu bringen. Getrennt von ihren Familien, ihren Freunden und ihrer gewohnten Umgebung, fuhren diese Kinder einer ungewissen Zukunft entgegen, mit nur einem Köfferchen, darin oft die letzte Erinnerung an die Eltern. Eines der Kinder, Francis Steiner, geboren 1922 in eine jüdisch-katholische Familie, der 1939 in einem der letzten Züge entkam, erinnert sich in Trestlers Buch: „Als der Zug aus dem Westbahnhof weggefahren ist, hab’ ich mich aus dem Fenster gelehnt und hab’ in die Nacht hineingerufen: ,Ich komme zurück!‘“ Die Eltern sollte er nie mehr wiedersehen. Sie wurden von den Nazis umgebracht. Nach dem Krieg arbeitete Steiner unter anderem als London-Korrespondent für die Katholische Presseagentur Österreich. 2018 starb er im Alter von 96 Jahren in England.

Hans Spielmann fand, wie er sagte, erst siebzig Jahre nach dem „Anschluss“ den Mut, die alte Heimat zu besuchen. Fünf Jahre später starb er 84-jährig in London.

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