Die Kabbalisten von Wien

Kabbala begeistert Hollywood-Stars. Aber auch in Wien gibt es Anhänger der jüdischen Geheimlehre. Echte und selbsternannte. NU besuchte zwei verschworene Kabbala-Gemeinschaften, die gar nichts miteinander zu tun haben wollen.
Von Martin Engelberg

Es ist zwei Uhr früh in der Oberen Augartenstraße in Wien. Einige etwas verschlafene Männer haben sich, wie jede Nacht, im neuen Kabbala-Zentrum „Baum des Lebens“ eingefunden. In einem liebevoll adaptierten Gassenlokal, ausgestattet mit allerhand technischem Schnickschnack, lauscht eine Gruppe Verschworener über drei Stunden den Vorträgen von Rabbiner Laitman aus Israel – in einer Live-Übertragung mit Simultanübersetzung ins Deutsche. Unter ihnen ist auch ein stämmiger Mann mit Tätowierungen. Es ist Harald Hauke. Er war bis vor zehn Jahren der König der Wiener Unterwelt, saß dann wegen Vergewaltigung drei Jahre im Gefängnis und hat sich wieder im Bordell- und Barbetrieb etabliert, berichtete der „Falter“ vor einigen Monaten.

Der „Baum des Lebens“ ist die eine Seite von Kabbala in Wien. Gleichzeitig lebt seit Jahren – bisher weitgehend unbemerkt – Rabbiner Chaim Malowicki in Wien. Er ist der Direktor der bedeutendsten orthodoxen Einrichtung zum Studium der Kabbala, der Akademie „Sha’ar Haschamaim“ (Tor des Himmels), mit besten Verbindungen und tiefem Wissen über die Gemeinschaft der Kabbalisten.

Nicht nur in den USA und Israel schossen in den letzten Jahren neue Kabbala-Zentren aus dem Boden – wie durch Pop-Star Madonna und andere Hollywood-Größen bekannt.

Auch in Wien sind Ausläufer der zunehmenden Verbreitung der Kabbala zu bemerken.

Über viele Jahrhunderte wurde die Kabbala nur im Verborgenen studiert. Es ist jener Teil der Lehre des Judentums, welcher sich mit der Philosophie, Mystik und auch der Magie beschäftigt. Jene, die sich dem Studium dieser Lehre verschreiben, streben nach der Erfahrung einer unmittelbaren Beziehung zu Gott. Vorträge, die Beziehung zu einem Lehrer, das Leben in einer verschworenen Gemeinschaft von Kabbala-Studierenden sollen es ermöglichen den Zustand des gewohnten Alltags-Ich zu transzendieren.

Schon früh wurde von den Rabbinern die Gefahr erkannt, welche von der Beschäftigung mit solchen Themen ausging. So wird von vier großen rabbinischen Gelehrten berichtet, die sich mit der Kabbala beschäftigten und von denen nur einer – der berühmte Rabbi Akiba – „unversehrt“ blieb, während die anderen vom Glauben abfielen oder gar verstarben. Seither galt die Regel, dass das Studium der Kabbala ausschließlich Personen vorbehalten ist, die zumindest 40 Jahre alt sind und die tief im Glauben und im orthodox-jüdischen Leben verwurzelt sind.

Unter den Hollywood-Stars und ihrem Bedürfnis nach Selbsterfahrung, pseudo-religiösen Lehren und Spiritualität, hat Kabbala im Laufe der letzten Jahre einen wichtigen Platz neben Scientology oder Buddhismus eingenommen. Zuletzt trat sogar Paris Hilton mit jenem dünnen roten Bändchen auf, von dem jeder seit Madonna weiß, dass dieses die Trägerin als Anhängerin der Kabbala identifiziert. Inzwischen haben sich zu Madonna auch Demi Moore samt Ehemann Ashton Kutcher und angeblich auch Supermodel Naomi Campbell sowie Oscar-Preisträgerin Charlize Theron gesellt.

Diese Stars sind Mitglieder jener weltweit etwa 50 Kabbala-Zentren, die mit den traditionellen Studienzentren der Kabbala wohl – außer dem Namen – nichts mehr gemein haben. In einem Gespräch mit der FAZ gibt einer der modernen Kabbala-Lehrer auch offen zu: „Die Kabbala ist keine Religion, sondern ein universelles System der Selbstverwirklichung“. Anstelle starrer Regeln gelte es, Freude zu erleben und dauerhafte Erfüllung zu erfahren. Ein gefundenes Fressen für Menschen, die oft sehr jung alles zu haben scheinen – Reichtum, Ruhm und Erfolge – und merken, dass dies alleine dennoch nicht glücklich macht.

Die Produktpalette für diese „Kunden“ reicht von den roten Bändchen über Kurse, Bücher und CDs bis zum Heilwasser, mit welchem Madonna angeblich zuletzt für $ 10.000,- ihre Heizungsanlage auffüllen ließ. Überraschenderweise stört Rabbiner Malowicki, dem in Wien ansässigen Direktor der Kabbala-Akademie „Sha’ar Haschamaim“ (siehe Portrait), diese – wie er es nennt – „Instant Junk Food Kabbala“ gar nicht so sehr: „Die besitzen zumindest eine gewisse intellektuelle Redlichkeit, in dem sie zugeben, dass sie mit dem traditionellen, authentischen Mystizismus gebrochen haben, um so etwas wie eine Pop-Art-Version von Kabbala-Studium anzubieten, die an die Bedürfnisse des Aquarius-Zeitalters angepasst sind.“

Malowicki ist Rabbiner Laitman, der auch die Leitfigur des neuen Wiener Kabbala-Zentrums „Baum des Lebens“ ist, ein viel größerer Dorn im Auge. Dieser berufe sich mit seinen Lehren auf große kabbalistische Autoritäten wie Rabbi Yehuda Ashlag (1885–1954), einem höchst respektierten Verfasser kabbalistischer Schriften und Kommentare, und vermittle so den Eindruck, er würde eine mainstream-orthodoxe Richtung vertreten. Doch dem sei nicht so: Menschen, die sich mit Kabbala beschäftigen, würden sich ihr ganzes Leben mit dem Studium der Tora und des Talmuds beschäftigen und erst mit 40 Jahren mit dem Studium der Kabbala beginnen. Das seien Menschen, die nicht ein einziges Mal die Erfüllung der Shabbat-Gesetze, der Kashrut oder die Pflicht, in die Mikwe (rituelles Bad) zu gehen, verfehlt hätten; ganz ehrliche, fromme, sehr bescheidene Menschen, erklärt Rabbiner Malowicki und deutet damit an, dass die Anhängerschaft von Rabbiner Laitman diesem Bild nicht entspricht.

Tatsächlich widerspricht Herr A.B. [Name der Redaktion bekannt], der Leiter der Wiener Gruppe von Rabbiner Laitman, diesem Bild (siehe Interview). Auch die Besucher des neuen Kabbala-Zentrums „Baum des Lebens“ sind bunt gemischt. Bei den nächtlichen Sitzungen versammeln sich 10–15 Männer, einige tragen Kippa (traditionelle jüdische Kopfbedeckung), einige sind Juden, aber offensichtlich nicht religiös, einige sind Nicht-Juden. Man lauscht andächtig und konzentriert den Worten von Rabbiner Laitmann, dessen Lehrstunde live übertragen und simultan übersetzt wird. Einem Laien ist es völlig unmöglich, den vorgetragenen Gedanken zu folgen. Es beschleicht einen jedoch der Verdacht, dass es den anwesenden Kabbalisten mitunter nicht anders geht. Einer der Teilnehmer gibt dann später auch zu: „Der sagt eh immer das Gleiche – es geht um Nächstenliebe. Viel mehr verstehe ich auch nicht.“

Je mehr man von dieser Gruppe erfährt, desto sektenartiger wirkt sie. Es gibt eine spirituelle Leitfigur, an der sich alle orientieren, und sehr starre, regressiv wirkende Rituale, wie die nächtlichen Zusammenkünfte an sechs Tagen der Woche und noch zusätzliche Treffen während des Tages. Dabei gibt es auch geselliges Beisammensein, gemeinsames Singen und Tanzen. Die Mitglieder der Gruppe rufen sich auch ständig an und bestärken sich in ihrem Zusammenhalt und ermahnen einander zur Teilnahme an den Versammlungen. Jedes Mitglied liefert weiters ein Zehntel seines Einkommens für die Erhaltung des Zentrums ab. Viele Rituale muten sehr männerbündlerisch an: Alle Kabbalisten begrüßen einander betont herzlich, mit Schulterklopfen und Umarmen; man ist besonders nett und freundlich zueinander und zu Gästen. Ein auffälliger Brauch ist auch das ständige wiederkehrende Angebot, einander etwas zum Trinken oder Essen aus der Küche zu holen. Fragen, wie sehr denn die Gruppenarbeit das Familien- und Arbeitsleben beeinträchtigten, werden fast verständnislos zurückgewiesen. Obwohl es gar nicht leicht vorstellbar ist, wie die Mitglieder alle mit sechs Stunden Schlaf, noch dazu aufgeteilt auf zwei Hälften, auf Dauer auskommen. Tatsächlich gibt es in der jüdischen Gemeinde Berichte von bereits gescheiterten Ehen, wo die Ehefrauen der Kabbalisten einen Aufstand machten. Die Männer wären jeden Tag fix und fertig gewesen, hätten die Familie und Arbeit vernachlässigt und sich von der übrigen Gesellschaft abgekapselt.

Auch hätten die Ehemänner aufgehört, religiöse Gesetze und Traditionen zu halten – dies mit dem Argument, man würde ohnehin Kabbala lernen. Schließlich wären die Frauen gezwungen worden, ganz genau Buch über ihre Ausgaben zu führen, damit das an die Gemeinschaft abzuführende Zehntel auch ganz richtig ermittelt werden konnte.

Und wie sieht es der Unterweltkönig Hauke? Er gelang über den Umweg von Tai-Chi zur Kabbala-Gruppe. „Ich komm’ sowieso erst um sechs, sieben Uhr zum Schlafen. Wie ich das erste Mal da reingekommen bin, habe ich mir gedacht: Was redet denn der da, des ist ja ein Guru. “, erzählt er in breitem Wienerisch. „Wir sitzen miteinander, essen, tanzen. Einige haben sich was vorgenommen, gemeinsam zu machen, keiner rennt davon, es wird immer besser. Jeder mit unterschiedlicher Einstellung, mit einem Ziel: sich miteinander zu verbinden. Vollkommene Egoisten, die sich miteinander verbinden, um Nächstenliebe zu erlangen. Ich bin in einem Heim aufgewachsen. Die Gemeinschaft, was da ist – die ist mir wichtig.“

Im „Baum des Lebens“ hat sich offenbar eine Gruppe gebildet, die den Mitgliedern vor allem ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl und die Überzeugung vermittelt, etwas Sinnstiftendes in ihrem Leben zu machen. Kabbala, vielleicht auch das.

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