„Die Führung spielt keine Rolle“

Sieht die Regierungen der arabischen Länder aufgrund der Radikalisierung in großer Gefahr: Die Politologin Einat Wilf plädiert für eine neue Strategie in der sogenannten Palästinenserfrage. ©Einat Wilf

Von Martin Engelberg

NU: Frau Wilf, wir führen dieses Gespräch einige Zeit, bevor unsere Zeitschrift erscheint. Wenn wir vom heutigen Stand, also Ende Oktober, ausgehen: Bis dahin sollte die israelische Armee in Gaza die Strukturen der Hamas hoffentlich bereits zerstört haben. Wie sieht das Szenario für danach aus?

Einat Wilf: Das ist die schwierigste Frage, denn es wird nichts bleiben, wie es war. Seit Jahren haben die Kriege mit Gaza dasselbe Muster. Manchmal waren sie stärker, ein anderes Mal schwächer, doch es war klar, dass sie in ihrem Umfang limitiert sind. Jetzt erleben wir etwas, dass sich nicht nur auf die Region begrenzt, sondern auf die Welt ausdehnt. Wir erleben weltweit einen Anstieg antisemitischer Angriffe. Wir erleben die Mobilisierung der antisemitischen Linken, eine Allianz zwischen Linken und Islamisten. Wohin wird das führen? Es ist einer jener Momente, wo an entscheidenden Stellschrauben der Welt gedreht wurde und nichts an seinen früheren Platz zurückkehren wird. Wir sehen jetzt bereits die Seiten: Russland und China an der Seite mit dem Iran, den Palästinensern und auf der anderen Seite die USA, der Großteil Europas, Indien, Australien mit Israel. Gleichzeitig gibt es bereits Menschen, die den Horror des 7. Oktober mit diesem unfassbaren Massaker verleugnen. Wir dachten bei den Holocaustverleugnern, dass dies nur ein paar Verrückte seien, doch jetzt passiert es schon wieder und die schockierenden Morde an 1.200 Jüdinnen und Juden werden am nächsten Tag bestritten. Man sagt, es kann gar nicht so gewesen sein. In den 1930er Jahren haben die Briten auch gedacht, dass sie mit ihrer Appeasement Politik etwas bewirken können, man hat sich selbst eingelullt mit der Idee, die Nationalsozialisten im Zaum halten zu können. Beginnend mit der „Reichskristallnacht“ wurde so manchem bewusst, dass das Nazi-Regime ein schreckliches Ziel hatte. Aber selbst dann noch gab es einige, die meinten, man könne es befrieden. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, dass Menschen erkennen, was hier das Ziel ist: die Auslöschung des jüdischen Staates. Die Hamas verfolgt dasselbe Ziel wie die Nazis. Ich sage das schweren Herzens, aber es ist so.

Würden Sie meinen, dass selbst das Oslo Abkommen von der palästinensischen Führung nicht ernst genommen worden war?

Darum geht es in dem Buch The War of Return, das ich mit Adi Schwartz geschrieben habe. Ich glaubte an eine Änderung. Wir erinnern uns an die 1990er Jahre. Die Sowjetunion zerfiel, das Karfreitagsabkommen für Nordirland wurde unterzeichnet, die Apartheid in Südafrika ging zu Ende. Wir dachten, jetzt wird alles anders. Die Sowjetunion hatte ja die Palästinenser massiv unterstützt. Es hieß immer die „Befreiungsbewegung“ der Palästinenser, tatsächlich wollte man den Nahen Osten von der Existenz Israels befreien. Die Palästinenser wandten sich an Saddam Hussein, in der Hoffnung, dass er Israel zerstören würde. Als der irakische Diktator zunehmend isoliert wurde, wandten sie sich an westliche Staaten. Hier glaubte man ihnen, dass sie nach Selbstverwaltung streben und ein Ende der Besatzung wollen. Leider bedeutet ihre Form von „Gerechtigkeit“ mittelalterliche Rache. Ihre Vorstellung von Recht heißt, Israel muss von der Landkarte verschwinden. Die Menschen glauben ihnen, dass sie einen Staat neben Israel wollen. Ihr Ziel ist aber, dass Israel nicht mehr existiert. Es ist wichtig zu verstehen, dass sie leider nicht etwas für sich aufbauen, sondern nur zerstören wollen, was Jüdinnen und Juden aufgebaut haben. Während der Friedensverhandlungen von Oslo waren wir überzeugt, dass sich die Palästinenser einen eigenen Staat aufbauen wollen. Doch gleichzeitig pochten sie auf ein Rückkehrrecht. Das ist eine Idee, die nur sie verfolgen. Alle anderen Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich mit neuen Gegebenheiten abgefunden, sich in anderen Ländern ein neues Leben aufgebaut. Nur die Palästinenser wollen ewig in einem Flüchtlingsstatus verharren, daher müssen sie sich auch nicht weiterentwickeln. Sie geben ihren Status von Generation zu Generation weiter und sie brauchen auch gar nichts weiter zu tun, denn sie werden ohnehin von der Weltgemeinde in Form vieler Organisationen unterstützt.

Ist die Führung der palästinensischen Autonomiebehörde noch in irgendeiner Form handlungsfähig? Ich spreche jetzt nicht von Gaza, sondern vom Westjordanland. Gibt es eine Chance, dass es je eine palästinensische Führung geben wird, mit der man verhandeln kann?

Die Führung spielt keine Rolle. So lange die palästinensische Bevölkerung als ganzes Volk daran festhält, dass der jüdische Staat kein Existenzrecht hat, wird es immer eine Führung geben, die das reflektiert.

Wenn es morgen Wahlen im Westjordanland gebe, würde wohl die Hamas gewählt?

Jeder weiß das und gleichzeitig sagt jeder, dass die Hamas nicht das palästinensische Volk repräsentiert. Der einzige Unterschied zwischen der Hamas und der Fatah oder der Palästinensischen Autonomiebehörde ist, dass die Fatah nach der letzten Intifada zu dem Schluss gekommen ist, dass Massaker an Zivilisten für ihr internationales Standing nicht gerade hilfreich sind. Es hat aber letztendlich nicht zu einer Änderung ihrer Strategie geführt. Hamas und Fatah haben das gleiche Ziel: Es soll keinen jüdischen Staat im Nahen Osten geben. Sie diskutieren nur über die Mittel zum Zweck. Momentan hat die Hamas mit ihrer Strategie der brutalsten Gewalt Oberhand. Wie gesagt, es ist unwichtig, wer die Anführer sind, sondern wichtig ist, woran die Mehrheit der Palästinenser glaubt. Ich vergleiche es mit der Entnazifizierung in Deutschland und Österreich oder damit, wie sich die japanische Gesellschaft neu entwickelt hat. Ich habe diese Vergleiche angestellt, um aufzuzeigen, dass es nicht der Punkt war, Hitler oder den Kaiser von Japan umzubringen. Das Problem war, die gesamte Gesellschaft, die dem Nationalsozialismus gefolgt ist, wieder zu demokratischen Strukturen hinzuführen. Wir hören zwar in der arabischen Welt Stimmen, die ihre Regime in Frage stellen, wir hören aber keine Stimmen aus der palästinensischen Gesellschaft. Wer steht denn dort gegen die Hamas oder die Fatah auf? Wo sind denn Palästinenser in Berlin oder in Wien, die demonstrieren und rufen, lasst die Geiseln frei, oder dass die Jüdinnen und Juden einen eigenen Staat verdienen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es offenbar keine derartige Opposition gegen Hamas oder Fatah gibt. Vielleicht erst dann, wenn es keine Unterstützung für deren Agieren mehr gibt.

Die Frage ist, wer einen solchen Prozess ankurbeln könnte. Israel oder westliche Staaten kommen dafür nicht infrage. Saudi-Arabien oder Ägypten? Sie sind allerdings durch ihre Gesellschaftsformen auch keine verlässlichen Partner.

Eigentlich können es nur arabische Staaten sein, die ein Interesse haben sollten, diesen Konflikt zu einem Ende zu führen. Zur Staatsgründung Israels 1948 waren die Grenzen definiert. Die Briten hatten das Gebiet verlassen, die arabischen Staaten akzeptierten den jüdischen Staat nicht und begannen den Krieg. In den Jahrzehnten danach unterstützten die moslemische Welt und die Sowjetunion die Palästinenser finanziell, militärisch, mit allen Mitteln, bis man erkannt hat, dass sich da etwas entwickelt, das eine große Gefahr für die arabischen Staaten selbst darstellt, nämlich radikale Gruppen, wie ISIS oder Al Quaida und Hamas. Das hat in der arabischen Welt auch für einen Meinungsumschwung gesorgt. Was bedeutet es, ein Muslim zu sein und welche Vision haben wir eigentlich.

Das hat offenbar dazu beigetragen, dass die arabischen Staaten Friedensabkommen mit Israel abgeschlossen haben.

Ägypten oder Jordanien müssen verstehen, dass der Radikalismus bei den Palästinensern für sie selbst eine große Gefahr darstellt. Es wäre nötig, den Palästinensern eine Neuorientierung zu geben, dass es eine Anerkennung eines jüdischen Staats geben muss. Diese Aufgabe kann nur die arabische Welt übernehmen. Die arabischen Länder wissen, dass ihre Regime angesichts der Radikalisierung in großer Gefahr sind. Aus diesem Grund werden sie diese wichtige Rolle letztlich übernehmen müssen. Aus Nächstenliebe werden sie es wohl nicht tun.

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