Die Flucht vor dem Wiener Ghetto

Ernst Eisenmayer, Jahrgang 1920, ging mit Erich Fried zur Schule, schaffte es aus Dachau und konnte nach London emigrieren. Er lebte später in Carrara, Amsterdam und Wien. Doch nun musste er die Stadt verlassen. Denn in das neue Altersheim im geplanten Gemeinde-Zentrum hinter dem Prater wollte er keinesfalls.
Von Rainer Nowak und Clemens Fabry (Fotos)

„Haben Sie die erstaunlichen historischen Berichte im Buch ,Der Jüdische Krieg‘ von Flavius gelesen?“ „Ähem, nein.“ Ein „Presse“-Redakteur kann das sagen: Ernst Eisenmayer beginnt die Konversation klassisch.

Er lebt heute bei der Familie seiner Tochter in einem Kibbuz nahe der Küste bei Caesarea. „Hier gibt es entlang des Strandes einen gut erhaltenen Aquädukt und die großen Ruinen der römischen Festung der Kaiser Vespasian und Titus aus dem frühen 1. Jahrhundert.“ Eisenmayer kommt fast ins Schwärmen, wenn er von seinem neuen Zuhause spricht. Dabei kann Eisenmayer auch ganz anders, sich nämlich richtig in Rage reden und schreiben. Etwa, wenn es um den eigentlichen Grund seiner Übersiedlung nach Israel geht. Der neben Arik Brauer prominenteste jüdische Maler aus Österreich hat Wien verlassen, weil er sich weigerte, in das neue jüdische Zentrum der Kultusgemeinde im beziehungsweise hinter dem Wiener Prater zu ziehen. Denn bisher wohnte, lebte und arbeitete er überwiegend zufrieden und glücklich im Seniorenheim der Gemeinde in Döbling. Er, der das KZ Dachau überlebte, werde sicher nicht freiwillig in ein neues jüdisches Ghetto in einer städtischen Wüste ziehen.

Und dass es sich um eine solche handelt, steht für Eisenmayer im NU-Interview fest: Er hat genau die Zahl aller Einrichtungen, Geschäfte und Institutionen erhoben, die es in Reichweite des bisherigen Standorts gibt, und am neuen nicht: Präzise zählt er die Anzahl von „ausgezeichneten chinesischen Restaurants“ (eines), Schuster (zwei), Drogerie (drei) und Bäckereien beziehungsweise Konditoreien (vier) auf. All das gebe es in „Ariel Muzicants neuer Trabantenstadt“, wie er sie nennt, nicht. Auf den Chef der Kultusgemeinde ist der prominente Wien-Rückkehrer und mittlerweile Wieder- Emigrant Eisenmayer nicht gut zu sprechen: Im alten Zentrum habe er ihn einmal offiziell besucht. Er behauptete, dass dort bei großem Regen Wasser in die Zimmer sickere, „was einfach nicht richtig war, das Wasser ist Richtung Grinzinger Hauptstraße abgeflossen.“

Wie sehr sich Eisenmayer im Maimonides- Zentrum wohlgefühlt haben muss, deutete ein Text von Michael Fleischhacker, Presse-Chefredakteur, im Spectrum 2004 an. „Der Raum strahlt zugleich penible Ordnung und große Behaglichkeit aus, konzentrierten Geist und farbenfrohe Kreativität. Der Besucher spürt auf der Stelle, dass er nicht nur ein Zentrum der Israelitischen Kultusgemeinde im 19. Wiener Gemeindebezirk betritt, sondern zugleich einen Tresor, in dem die Geschichte des 20. Jahrhunderts aufbewahrt wird, in Texten, Fotografien, Bildern.“ Doch auch das ist nun Geschichte. Wirklich erzürnt hat Eisenmayer Muzicants Aussage, dass der Begriff Ghetto nicht automatisch negativ konnotiert sei. „Na so was, vielleicht sollen wir es auch wie Theresienstadt nicht so negativ konnotieren?“ Und: „Wenn selbst die Gemeinde einräumt, dass der Anfang schwierig werde, muss ich fragen: Wie lange dauert so ein Anfang? Zwei, vier oder zehn Jahre?“ Für die Bewohner des alten Zentrums also möglicherweise zu lange?

Dass noch Geld für die Sicherheitskosten fehle und dass diese so hoch seien, sieht der Maler als weiteren Beweis für die Sinnlosigkeit des neuen Zentrums: „Wenn das mit einer Mauer gesichert werden muss, weil es eine Zielscheibe für Terroristen ist, warum baut man es dann? Warum zieht man die Gefahr auf sich?“ Zudem argumentiert Eisenmayer mit einer grundsätzlichen Einstellung: Wolle die jüdische Gemeinde Teil der Stadt, Teil des Landes, Teil der Gesellschaft sein oder sich in einer eigenen Stadt absondern? Zweites helfe sicher nicht, Gräben oder Missverständnisse zu überbrücken, glaubt der Künstler, der mit Erich Fried in der Schule war. Dass er sich prinzipiell an eine neue Umgebung gewöhnen könne, musste oder konnte der Maler mit der realistisch- expressiven Ausdrucksweise schon mehrmals unter Beweis stellen: Noch während des Nazi-Terrors gelang ihm die seltene Ausreise in die neue Heimat Großbritannien. In London entstanden viele Arbeiten, die seine Beobachtungen des Stadtbildes zeigen. Der legendäre, mittlerweile verstorbene österreichische Kunstkritiker Kristian Sotriffer schrieb 2002 anlässlich der großen Eisenmayer- Ausstellung im Jüdischen Museum Wien: „Ein 1960 entstandenes Bild trägt den Titel ,Schlackenhaufen‘. Aber es scheint mehr wiederzugeben als den in einer Industrielandschaft gefassten Eindruck. Der schwarze Berg, von Schlieren durchzogen, symbolisiert auch ein schwarzes Jahrhundert, eines, in dem Menschen verbrannt wurden.“

Doch Eisenmayer ist keineswegs ein Holocaust-Maler, einer, der stets die Erinnerung an die Shoah in Strichen, Farben und Stimmungen bannt, sondern einer, der sich immer neu erfindet. Schon als er seine ersten erfolgreichen Jahre als Maler in London hat, zeigt sich das. Davor hatte er sehr schwierige Jahre. Nach der glücklichen Ausreise aus Nazi- Österreich hatte er sogar einige Zeit in einem Internierungslager als „Enemy Alien“ auf der Isle of Man verbringen müssen. Doch kaum feierte er erste Erfolge, verstört er durch einen Wechsel von der Malerei ins Schmuckdesign. Später zieht er ins italienische Carrara, mehr der Liebe denn des Marmors wegen, dann zieht er zu seinem Sohn nach Amsterdam. 1996 kehrt er heim nach Wien. Stolz würdigt ihn die Stadt mit dem Goldenen Verdienstzeichen. Eisenmayer widmet sich in seiner Arbeit schon wieder neuen Gebieten, zuletzt spielt er mit Computergrafik. Nun arbeitet er eben nahe der historischen Orte, die Flavius einst beschrieb. Ernst Eisenmayer kann sich immer verändern. Aber er lässt sich nicht verändern.

Ernst Eisenmayer wurde 1920 in Wien geboren. Nach der Machtübernahme durch die Nazis wurde er nach einem missglückten Fluchtversuch über die deutsch-französische Grenze festgenommen und in das Konzentrationslager Dachau deportiert. 1939 gelang ihm in letzter Minute die Flucht nach England. Dort arbeitete er als Werkzeugmacher in einer Fabrik. Nach einem kurzen Studium an der Camberwell School of Art in den Jahren 1946/47 war er zunächst teilweise, später ausschließlich als Maler und Bildhauer tätig. 1944 stellte Ernst Eisenmayer zum ersten Mal ein Bild bei einer Gemeinschaftsausstellung über Kunst im Exil in den Räumen der „Austrian Women‘s Voluntary Workers“ aus. 1945 organisierte er im Rahmen der „Young Austria“-Bewegung eine weitere Ausstellung österreichischer Künstler. Zu seinen Freunden im Umkreis der „Young Austria“ gehörten die Künstler Georg Eisler, Ernst Deutsch sowie Erich Fried, mit dem er bereits in Wien das Wasagymnasium besucht hatte. 1961 fand in London die erste Einzelausstellung des Künstlers statt, auf die bis 1997 zwanzig weitere folgten. Von 1975 bis 1988 lebte er bei Carrara, zwischen 1988 und 1996 in Amsterdam. Dann zog er wieder in seine Geburtsstadt Wien. Vor Kurzem verließ die Stadt wieder und lebt heute in Israel.

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