Der Griffel des Rabbiners

© KURIER/Gerhard Deutsch

Gʼtt schützt alle – besonders Rabbiner, die Artikel schreiben.

Immer, wenn ich was Kluges schreiben möchte, drehe ich mein Handy kurz ab, damit ich nicht gestört werde. Auch die telefonfreie Zeit im Flugzeug, besonders auf einem langen Flug von Wien nach New York, verbringe ich mit Lesen und Schreiben. Zu diesem Zweck trage ich immer ein kleines, grünes Notizbuch von Harrodʼs bei mir. Ursprünglich notierte ich die Gedanken auf losen Zetteln. Das erwähnte Notizbuch schenkte mir ein Freund aus London, als ich ihm erzählte, dass meine Haushaltshilfe die Zettel wegwarf, weil sie dachte, dass dies nur unnützes Geschmiere sei.

Am Flughafen deutete ein anderer Passagier auf mein grünes Büchlein und sagte: „Sie wissen schon, dass wir 2019 haben. Normale Menschen schreiben ihre Gedanken in ein ‚Notebook‘, nicht in ein Notizbuch.“ Ich erklärte Ihm, dass mein Notizbuch moderner sei als alle technischen Gadgets, denn es benötigt weder W-LAN noch Batterien noch ein Aufladegerät, und es ist in jedem Land sicher vor Hackern. „Wieso ist es sicher?“, fragte der Fluggast. „Es kann doch jeder öffnen, lesen und ihre Ideen stehlen.“ Darauf ich: „Es ist sicher, weil niemand meine Handschrift lesen kann.“ Er nahm meine Antwort stillschweigend hin.

Plötzlich erinnerte ich mich, dass mit dem grünen Notizbüchlein noch nicht alles gelöst ist. Ich hatte nämlich keinen Stift bei mir. Und einen im Flugzeug zu kaufen, kostet sicher zu viel. Eigentlich habe ich nie ein Masel mit Schreibgeräten, sie geben viel zu schnell den Geist auf oder verschwinden auf geheimnisvolle Weise. Mein erster Gedanke war: Zehn Stunden ohne Stift! Also fragte ich meinen neuen Freund in der Abflughalle, ob er einen Kugelschreiber habe, den er mir während des Fluges borgen könne. Hatte er leider nicht. Ich ärgerte mich. Denn um ja nicht ohne Kugelschreiber unterwegs zu sein, hatte ich noch vor ein paar Tagen für sieben Euro eine riesige Box mit 24 Stiften gekauft – ein echtes Schnäppchen. Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass die Box bedeutend schöner war als die Kulis. Nun war ich am Flughafen und die Box daheim. Man muss jeden Tag etwas Neues lernen. An diesem Tag lernte ich, dass ein Flughafen nicht gerade der perfekte Ort ist, um einen Kugelschreiber zu kaufen. Der einzige Stift, den ich fand, war einer für Touristen, auf dem das Riesenrad von Wien aufgedruckt war, sowie groß und gut lesbar: „I love Vienna“. Das an der Kugelschreiber-Spitze angebrachte rote Herz wackelte bei jeder Bewegung. Dieser Kugelschreiber kostete mehr als alle 24 Stifte samt der schönen Box. Ich überlegte, ob es sich lohnte, einen derart teuren Kuli zu kaufen, doch dann kam der letzte Aufruf zum Boarding. Als früherer Mathematiker rechnete ich mir aus: Den Flug zu verpassen und ein neues Ticket zu kaufen, kostete eindeutig mehr als der Stift. Also kaufte ich ihn und eilte zum Gate.

Nun saß ich im Flugzeug mit einem Kuli, der ein echter Blickfang war und die Leute zu sarkastischen Kommentaren aufstachelte. Just diese Kommentare der anderen schrieb ich in mein kleines grünes Notizbuch. Um ehrlich zu sein, waren die Reaktionen und Kommentare zu meinem Kuli äußerst interessant. In New York, wo es bekanntlich genügend Kugelschreiber zu kaufen gibt, traf ich einen alten Freund. Dieser sprach mich auf meinen „I love Vienna“-Stift an: „Kannst du mir sagen, warum du in der Öffentlichkeit mit einem derart komischen Kugelschreiber deine Notizen schreibst?“ Ich erklärte ihm, dass dies ein Notkauf gewesen sei und ich ihn sowieso bald austauschen würde. Interessanterweise schrieb ich nach sechs Wochen immer noch mit demselben auffallenden Kugelschreiber. Warum ist das so außergewöhnlich? Ich verliere ständig meine Stifte. Diesen nicht. Das wiederum, weil ich mich das erste Mal wirklich bemühte, ihn nicht zu verlieren. Schließlich hatte ich, wenn ich einen verlor, bei 24 Stiften in der Box genügend andere zur Auswahl, dieser aber war ein Unikat.

Richtige Fehler

Ein Rabbiner lernt nicht nur aus der Tora, sondern auch aus den Geschehnissen. Für einen frommen Mann gibt es keine Zufälle, sondern der liebe Gʼtt hat dies gefügt, damit er daraus etwas lerne. Was kurzfristig als Verlust erscheint (die billigen Kulis), kann langfristig ein Gewinn sein. Hätte ich mit einem ganz gewöhnlichen Kugelschreiber geschrieben, hätte sich niemand zu einem Kommentar hinreißen lassen.

Dazu passt folgende Geschichte: Ein Talmudschüler aus einer Jeschiwa kaufte ein Los, dessen Nummer er selbst ausgewählt hatte, und gewann damit in der Lotterie 5000 Zlotys, also sehr viel Geld. Aber woher wusste er, welche Nummer gewinnen würde? Er erzählte seinen Kollegen einen Traum. In diesem Traum erschienen ihm die Zahlen 28, 365 und 9. Er zählte diese Zahlen zusammen und kam auf die Summe 409. Also kaufte er auch das Los 409.

Jetzt habe ich Sie nicht betrogen, sondern nur geprüft. Denn wenn man diese drei Zahlen zusammenzählt, kommt man auf die Summe 402 und nicht 409. Auch seine Kollegen rechneten nach und wiesen ihn auf seinen Rechenfehler hin. Er lachte: „Baruch Hashem, Gʼtt sei Dank, bin ich froh, dass ich nicht gut in Mathematik bin. In der Schule fanden meine Lehrer und ich es als Nachteil, dass ich nicht addieren konnte. Jetzt aber stellt es sich als Vorteil heraus. Und der liebe Gʼtt hat sogar geholfen, dass ich den richtigen Rechenfehler mache.“ Auch in diesem Fall wurde ein früherer Nachteil ein späterer Vorteil. Also seid nicht frustriert, wenn etwas falsch zu laufen scheint. Denn der liebe Gʼtt könnte daraus immer etwas Gutes machen.

Von Mosche Rabbenu, unserem Lehrer Moses, wird in der Tora berichtet, dass er einen Sprachfehler hatte. Wie es dazu kam, werde ich heute nicht erzählen. Wer das wissen will, muss ab Rosch Haschana in eine meiner Schiurim – Tora-Stunden – kommen (bitte um Anmeldung unter chaimke@gmx.at).

Der Vorteil vom Nachteil

Die Rabbiner wenden ein, dass Moses, der größte unserer Propheten, eigentlich keinen Sprachfehler haben sollte. Aber sie haben zu jeder Frage eine Antwort, und meistens wissen sie die Antwort schon, bevor Sie die Frage formuliert haben. Die anderen Propheten, die verschiedene spirituelle Botschaften an das jüdische Volk richteten, mussten ihre Worte mit viel Fantasie und Redegewandtheit ausschmücken. Die Aufgabe von Moses war allerdings, die Tora dem jüdischen Volk wörtlich zu überbringen, so wie sie ihm der Ewige „diktiert“ hat, und nichts hinzuzufügen oder wegzulassen. Hier wäre Rhetorik unangebracht. Denn es ging ja, wie schon gesagt, um die wörtliche Überlieferung. Also ist auch da der Nachteil ein Vorteil.

Rosch Haschana heißt „Kopf des Jahres“ und es bedeutet, dass wir selbst uns bessern müssen oder dass sich Dinge zum Guten entwickeln. Manchmal stellt sich heraus, dass etwas, das wir als schlecht empfanden, gut war: so wie die Tatsache, dass ich den Stift verloren habe. Oder dass der junge Mann nicht gut rechnen konnte. Ein wesentlicher Teil der jüdischen Identität ist, nicht aufzugeben oder die Hoffnung zu verlieren, wenn etwas nicht gut verläuft. Dies hat mit dazu beigetragen, dass es uns noch gibt.

Zu Beginn des neuen Jahres erinnern wir uns immer an die Dinge, die wir falsch gemacht haben. Die jüdische Identität besteht darin, nicht in Schuldgefühlen zu versinken, sondern zu versuchen, es im neuen Jahr besser zu machen. Schana tova.

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