Nach den Europawahlen vom Juni und weiterer jüngster nationaler Wahlgänge stellt sich die Frage in welche Richtung sich die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten künftig politisch orientieren werden. Wohin driftet Europa durch das Erstarken der Rechten und rechtspopulistischer Parteien?
Von Michael Reinprecht
Die politische Landschaft Europas ändert sich rasch. Das Auftauchen populistischer Parteien und „Anti-Establishment-Bewegungen“ seit der Jahrtausendwende ging mit einer schleichenden Anpassung der politischen Wirklichkeit sowohl auf nationalen Ebenen als auch auf der europäischen Bühne einher. Mit dem Erstarken radikal rechter Parteien hat das Tempo der Veränderung nun zugelegt. Das zeigen die Ergebnisse der Europawahlen von Mitte Juni ebenso wie etwa die jüngst stattgefundenen nationalen Wahlen in Portugal, in den Niederlanden und in Frankreich.
Was aber „eint“ die Radikale Rechte? Was sind die Bestrebungen, was die Ziele dieser Parteien des rechten Randes? Sind sie harmlos? Sind sie gefährlich? Sind sie drin im „Arco constituzionale“, oder stehen sie „außerhalb des Verfassungsbogens“, wie der ÖVP-Politiker Andreas Khol einst formulierte? Sind sie jetzt „rechtsradikal“, „rechtsextrem“ oder einfach „rechts-populistisch“? Sind Etiketten – wie etwa „postfaschistisch“ – mit denen Parteien, wie die Fratelli d’Italia der italienischen Ministerpräsidentin Georgia Meloni, gebrandmarkt werden, gerechtfertigt oder sind diese Etikettierungen lediglich Ausdruck von Vorurteilen? Ist die portugiesische Chega („Es Reicht!“) -Partei, die bei den jüngsten Parlamentswahlen 18% der Stimmen gewonnen hat, und nun drittstärkste Kraft im Lissaboner Parlament ist, rechts-populistisch? Ist deren Führer André Ventura rechts-extrem oder nur rechts-radikal?
Unisono hatten französische Medien Jörg Haiders FPÖ im Jahre 2000 als „extrême droite“ bezeichnet, zu einer Zeit als die FPÖ in Österreich von den etablierten Medien mehrheitlich lediglich mit dem Etikett „populistisch“ versehen wurde. Ein Vierteljahrhundert später stellt sich die Frage: Ist Herbert Kickl nun „Rechts-extrem“ oder „Radikal rechts“? Wikipedia jedenfalls ordnet Kickl den Begriff „Rechtsextrem“ zu und Bundeskanzler Karl Nehammer hat dies in der ORF-Pressstunde im Jänner dieses Jahres bestätigt, während der heimische Boulevard dieses Etikett aus seiner Berichterstattung entfernt hat.
Die österreichische Romanistin, Feuilletonistin und Presse-Kulturredakteurin Anne-Catherine Simon ortet hier „Missbrauch eines extremen Begriffs“ und ordnet dies einem Sprachproblem zu. In einem Presse-Essay vom 14. Juni beklagt sie die inflationäre Verwendung des Begriffs Rechts-extrem und befindet, diesem Begriff sei durch die wiederholte Verwendung Schärfe aber auch Unterscheidbarkeit genommen worden.
Es wirke hier ein Ansteckungseffekt, schreibt Simon: Ist irgendwann am politisch „Rechten“ das „Extreme“ genug betont, könne man das „Extrem“ weglassen und einfach einen „Kampf gegen Rechts“ führen. „Aus einem weiten Raum rechts der „Mitte“ mit dunklen Flecken wurde mit der Macht der Wiederholdung ein Reich der Finsternis“, kommt Simon zum Schluss.
Mag gut sein. Die US-inspirierte Carnegie Stiftung Europe jedenfalls konzentriert sich in einer breiten Studie zu den Auswirkungen erstarkter rechtspopulistischer Parteien auf die EU-Außenpolitik auf den in den USA gebräuchlichen Begriff „radical-right“. Zum Unterschied zu den Rechtsextremen, schreiben die Carnegie-Autoren, akzeptieren jene grundsätzlich das demokratische System, lehnen aber die eigentlich liberale Essenz, wie Minderheitenrechte, die Gewaltenteilung und Vorherrschaft des Rechts ab. Außerdem sind die radikal-rechten Parteien gegen Immigration und fordern besonders strenge Auflagen zur Akzeptanz von Flüchtlingen. Oft reden sie der Re-Migration das Wort, massenhafte „Ausschaffung“ sozusagen, um ein Vokabel aus dem Schweizer Diskurs zu verwenden. Diese Parteien sind nationalistisch ausgerichtet und dies stellt sie ins euro-skeptische Lager; sie lehnen den Green Deal großteils ab, teilen konservative oft christlich geleitete Werte, sehen die Familie als Nukleus der Gesellschaft und lehnen LGBTQ-Rechte sowie Frauenrechte ab.
Den radikal rechten Parteien wird vorgeworfen, „Putin-Versteher“ zu sein, jedenfalls einer militärischen Aufrüstung der Ukraine kritisch bis ablehnend gegenüberzustehen. „Es reicht“, hatte es auch auf den ersten FPÖ-Plakaten zur heurigen Europawahl geheißen. Und: „EU-Wahnsinn stoppen!“. Nicht Vladimir Putin wurde von den Freiheitlichen als Aggressor benannt, nein die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen und der ukrainische Präsident Volodymyr Zelensky wurden auf dem FP-Plakat – in angedeutetem Bruderkuss – vereint als Kriegstreiber bezeichnet.
Auf europäischer Ebene postulieren die radikal-rechten Parteien ein „Europa der Vaterländer“, wollen einen lockeren Verbund souveräner Staaten anstatt europäischer Integrationspolitik. An eine europäische Behörde abgegebene Souveränitätsrechte sollen „zurückgeholt“ werden. Radikale Rechte arbeiten an einer Renaissance der Nationalstaaten. Damit wäre der europäische Traum der EWG-Gründerväter Robert Schuman, Alcide de Gasperi und Altiero Spinelli ebenso ausgeträumt, wie der von Jacques Delors initiierte Binnenmarkt und die Ergebnisse der Versöhnungs- bzw. Friedenspolitik Helmuth Kohls und François Mitterrands in höchster Gefahr. Die wenigsten dieser Parteien aber wollen raus aus der Europäischen Union. Brexit war sichtlich doch kein nachahmenswertes Projekt. Frexit, Öxit oder auch Austrittsträume
holländischer oder italienischer radikal rechter Parteien scheinen von der politischen Agenda verschwunden.
Der Plan einer Marine Le Pen oder eines Geert Wilders ist es, die EU von innen zu ändern. „Unser Ziel ist nicht der Austritt aus der Europäischen Union. Unser Plan ist es, die EU zu erobern“, hatte der ungarische Premier Victor Orban diese Strategie schon im Februar in einem Financial Times-Interview verdeutlicht.
In diese Richtung wollen jetzt die sechs österreichischen FP-Europaabgeordneten gemeinsam mit den 78 Mitstreitern der radikal-rechten Fraktion „Patrioten für Europa“ (PfE) gehen. Unter der Führung des Jungstars der französischen radikalen Rechten, Jordan Bardella, Marine Le Pen-Schützling und seit 2022 Vorsitzender des Rassemblement National, schicken sich Abgeordnete u.a. der ungarischen Fidesz (Orban), der holländischen PVV (Wilders), der tschechischen HNO, der spanischen VOX, der italienischen Lega, der portugiesischen Chega-Partei an, die Europäische Union umzugestalten, oder um mit den Worten Viktor Orbans zu sprechen „zu erobern“. Rechts von ihnen steht die kleinere, 25 Mitglieder umfassende Fraktion „Europa Souveräner Nationen“ (EsN), deren Hälfte aus AfD-Abgeordneten besteht, die von der PfE-Vorgängerfraktion „Identität und Demokratie“ ausgeschlossen wurden, verstärkt durch Einzelkämpfer aus sechs weiteren Mitgliedstaaten wie der Reconquête-Partei (Rückeroberung) des französischen Rechtsradikalen Eric Zemmour und andere mehr.
Der Motor der europäischen Legislative aber sind die Parteien der Mitte: Christlichsoziale, Sozialdemokraten, Liberale. Im Vorfeld der Europawahlen war ja befürchtet worden, „dass es schon schwierig werden kann, wenn die Ränder stärker werden“, wie der österreichische Carnegie-Europaexperte und Diplomat Stefan Lehne Ende 2023 im NU-Interview sagte.
Dieses Szenario ist nicht eingetreten. Zwar haben die radikal-rechten Parteien zugelegt und es mit der neuen Fraktion PfE geschafft, die bislang Drittplatzierten, die Liberalen, auch die Grünen zu überholen, allein das EU-Gesetzgebungsverfahren verlangt Mehrheiten, die die radikalen Rechten arithmetisch nicht im Stande sind zu erreichen: im einfachen Gesetzgebungsprozess genügt zwar die einfache Mehrheit der bei der Abstimmung anwesenden Mandatare, das Quorum aber verlangt die Anwesenheit eines Drittels – und das sind 240 Abgeordnete. Und bei ganz wichtigen Abstimmungen – etwa zu Beitrittsverträgen, wie eines Tages vielleicht zum EU-Beitritt der Ukraine – ist eine Zustimmung der Mehrheit der MEPs erforderlich – und diese Hürde ist hoch, 361 JA-Stimmen wären dann nötig – egal wieviel Mandatare im Saal anwesend sind.
Lassen wir die Kirche im Dorf: selbst die beiden radikal rechts und extrem rechts stehenden Fraktionen kommen gemeinsam mit der von den Fratelli d’Italia Georgia Melonis und den polnischen PIS-Abgeordneten getragenen Fraktion der „Europäischen Konservativen und Reformer“ (EKR) auf weniger Abgeordnete als die Europäische Volkspartei. Sie stellt nach wie vor die stärkste Gruppe im Europaparlament, klassische Mitte schlechthin.