Dem kleinen Mann zum Trotz

Stefan Edlis und Maurizio Cattelan mit und neben einer Arbeit des italienischen Künstlers. © Gael Neeson

Maurizio Cattelan sorgt mit seinen humorvoll-provokanten Arbeiten immer wieder für Aufsehen. Das Jüdischen Museum Wien zeigt sein wohl am meisten diskutiertes Werk „Him“erstmals in Wien. Zu verdanken ist dies dem jüdischen Sammler Stefan Edlis.

VON DANIELLE SPERA

Wenn man sich der 2002 entstandenen Skulptur von hinten nähert, zeigt sie einen unschuldig wirkenden knienden Buben in einem grauen Straßenanzug. Von vorne erkennt man in der Figur Adolf Hitler, in kniender Haltung und mit zum Gebet gefalteten Händen.

Diese Figur, die nun erstmals in Wien zu sehen sein wird, spielte eine Rolle im 2018 entstandenen Dokumentarfilm The Price of Everything von Nathaniel Kahn, der sich mit den exorbitanten Preisen für zeitgenössische Kunst beschäftigt. In diesem Film kommt neben vielen Expertinnen und Experten auch ein Kunstsammler zu Wort. Dieser Sammler erregte durch seinen Humor und seinen Wortwitz meine Aufmerksamkeit. Im Interview wird er in seiner beeindruckenden Wohnung in Chicago gezeigt, er führt den Interviewer in die Bibliothek und zeigt auf eine Figur zwischen den Büchern. Es ist der kniende Hitler von Maurizio Cattelan. Lachend zeigt der Sammler – sein Name ist Stefan Edlis – auf die Bücher in seinem Regal. Hier müsse Hitler also jetzt hinsehen – auf jüdische Autorinnen und Autoren und auf die Psychopathia sexualis von Richard Krafft-Ebing, einem Buch, in dem erstmals sexuelle Abweichungen und Perversionen beschrieben werden. Kaum hat man sich von diesem Bild erholt, zeigt Stefan Edlis seinen Pass, ausgestellt in Wien 1939, mit dem eingestempelten J für Jude.

Durch Zufall lernte ich wenig später die Produzentin dieses Films kennen, die mich mit Stefan Edlis in Kontakt brachte. Im Laufe unserer Konversation äußerte er den Wunsch, seinen Pass und damit auch seine Geschichte dem Jüdischen Museum Wien zu übergeben. Wenig später starb er, sprach aber noch kurz vor seinem Tod davon, wie glücklich er sei, dass sein Reisedokument im Jüdischen Museum aufgehoben würde. Wir erhielten nicht nur den Pass, sondern viele Fotos und weitere Dokumente. Die Eltern von Stefan Edlis, Heinrich und Gisella, stammten aus Munkacs (heute Ukraine) und siedelten sich in Wien an, wo Heinrich einen florierenden Holzhandel aufbaute. Als er nur wenige Wochen nach dem „Anschluss“ 1938 starb, hinterließ er Gisella Edlis und die drei Kinder Lotte, Herbert und Stefan, wobei das jüngste erst knapp über ein Jahr alt war. Vom Zeitpunkt des „Anschlusses“ an versuchte Gisella verzweifelt, eine Ausreisemöglichkeit in die USA zu erhalten. Dort lebte bereits ein Teil der Familie Edlis. Ein Verwandter engagierte sich als Lokalpolitiker bei der Republikanischen Partei. Ihn kontaktierte Gisella Edlis mit der Bitte, ihr zu helfen. Fast im letzten Moment, Ende März 1941, gelang es ihr und den Kindern, in die USA auszureisen.

Dort wartete ein schwieriger Start in ein neues Leben, in einer ungewohnten Situation und einer fremden Sprache. Während Lotte Arbeit in einer Fabrik fand und ein Universitätsstudium begann, besuchte Herbert die Schule, studierte und wurde später Arzt. Stefan schloss sich der US Navy an und musste auf der pazifischen Vulkaninsel Iwojima die Leichen getöteter japanischer Soldaten bergen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann Stefan Edlis in einer kleinen Werkzeugfirma zu arbeiten. Mit viel Geschick gründete er eine Plastikfabrik, die unter anderem Bestandteile für elektronische Geräte herstellte und deren Erfolg ihm ein Vermögen einbrachte. Stefan gründete eine Familie, er heiratete, zwei Töchter folgten. Als die Beziehung zerbrach, schlug er auch beruflich einen neuen Weg ein. Er verkaufte seine Firma und wandte sich einem völlig anderen Betätigungsfeld zu: der zeitgenössischen Kunst. Gemeinsam mit seiner zweiten Frau Gael Neeson wurde er zu einem großzügigen Förderer von kulturellen und wissenschaftlichen Einrichtungen.

Eine besondere Freundschaft verband Stefan Edlis mit Maurizio Cattelan, vielleicht auch durch den Humor, mit dem beide auf das Leben blickten. Von der Skulptur Him gibt es insgesamt drei Stück. Eine dieser Figuren hat der französische Unternehmer, Sammler und Museumsgründer François Pinault gekauft; die zweite gehört der kanadischen Künstlerin Ydessa Hendeles, einer Tochter von Auschwitz-Überlebenden; die dritte schließlich erstand Stefan Edlis – trotz oder gerade wegen seiner dramatischen Lebensgeschichte. Jetzt wird die Skulptur für ein halbes Jahr im Jüdischen Museum zu sehen sein.

Stefan Edlis hatte sein Leben der Kunst gewidmet, sein Engagement wollte er mit vielen Menschen teilen. Auch die Konfrontation mit Cattelans Him erachtete er als wichtigen Lernprozess, dass nichts als selbstverständlich hingenommen werden sollte und er persönlich besonders zufrieden darüber war, wie erfreulich sich sein Leben durch Glück und Einsatz entwickelt hatte – dem kleinen Mann zum Trotz.

„Eine (un-)erfreuliche Reise. Stefan Edlis’ Leben nach IHM“
13. 4. – 2.10.2022
Jüdisches Museum Wien

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