Das Geschrei der gefüllten Ente

Helene Maimann über Mickey Katz, den in Vergessenheit geratenen Paten der Klezmer-Renaissance.
Von Helene Maimann

Anfang der Sechzigerjahre brachte mein Vater von einer Auslandsreise mehrere LPs heim, Chansons, Lieder, Kabarett in Jiddisch, zumeist amerikanischer Herkunft. Darunter drei von Mickey Katz. Ich verstand nur wenige Bruchstücke, aber seine Songs avancierten rasch zu den Favorits der Familie, und je öfter man sie hörte, umso besser ging es mit dem Verstehen. Er sang amerikanisches Jiddisch, Jinglisch, in rasantem Tempo, begleitet von einer Band, die „Kosher Jammers“ hieß und Klezmer Jazz spielte, einen furiosen Mix aus jüdischer Tradition, Jazz und Latino.

Meyer Myron „Mickey“ Katz (1909– 1985) kam in Cleveland zur Welt, als Sohn des Schneiders Menachem Katz, geboren in Litauen, und Johanna Herzberg, geboren in Lettland, beide aus Russland entkommen, bevor der Zar Menachem in seine Armee pressen konnte. „Das Wort vom Schmelztiegel traf haargenau auf das frühe Zwanzigste Jahrhundert in Cleveland zu, in das ich hineingeboren wurde“, schreibt Mickey in seinen Erinnerungen. „Die Stadt zählte an die siebenhunderttausend Menschen, sie war eine der ersten amerikanischen Mischgesellschaften. Junge, waren wir durcheinandergemischt! Iren, Italiener, Juden, Polen, Schwarze, Kroaten, Litauer, Slowenen, Jugoslawen, Griechen, Russen – Cleveland hatte sie alle! Vielleicht empfand ich von daher immer Toleranz für andere.“ Seine Mutter sprach Deutsch, Lettisch und Jiddisch, der Vater, ein echter Litwak, nur Jiddisch, Englisch lernten die Kinder in der Schule und auf der Straße die verschiedensten Idiome. Mit elf entdeckte Mickey die Klarinette, dann das Saxofon und begann früh in verschiedensten Formationen zu spielen, pure Fusion der gängigen Unterhaltungsmusik, gemischt mit Comedy. Ein Jahr lang trat er mit Spike Jones auf, berühmt für seine verrückten Bühnenshows, dann drängte es ihn, seinen eigenen Stil zu entwickeln. Es dauerte lange, bis er sich damit durchsetzen konnte. Er war fast vierzig, als es schließlich klappte.

Mickeys Spezialität waren schräge Parodien bekannter Schlager, zugleich bissige Kommentare über den Alltag im amerikanischen Yiddishland. Thema Nummer eins war das Essen. Die Nummern hießen Borscht Riders in the Sky, Bagel Call Rag, Hermendels Koch-Alain, The Poipel Kishke Eater, The Little White Knish that Cried, Hansel and Gensel und so weiter. Aus dem Hit Sixteen Tons über das harte Leben der Grubenarbeiter in Kentucky machte er eine Nummer über das Leben in einem New Yorker Deli. Das hörte sich so an:

Sixteen tons all kinds of smoked fishes
Latkes, blintzes und hejsse knishes
You load sixteen tons of lekach und tejgl
hering mislines, stuffed helsel and bagel …

(Sechzehn Tonnen geräucherte Fische
Kartoffelpuffer, Blintzes und Knisches
du schleppst sechzehn Tonnen Lekach und Teig
Heringgedärm, gefülltes Hälsel und Bagel …)

Mickey besang keine zärtlich gehegte Erinnerung an eine verlorene Welt, sondern einen sehr lebendigen Strom in der amerikanischen Küche. Und wie selbstbewusst er den in Europa verpönten sprachlichen Mischmasch der jüdischen Einwanderer einsetzte! Essen war offensichtlich eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, aber das Schmalz der amerikanisch-jüdischen Schlagerikonen wie der Barry Sisters gehörte nicht zu seinem Repertoire. Seine Coverversionen, alle zwischen 1947 und 1957 aufgenommen, waren anarchisch, frech und frei von Nostalgie. „Don’t let the schmaltz get in your eyes“, sagte er. „Don’t let the lox get in your socks.“

Als Bühnenstar feierte er bis in die Siebzigerjahre wahre Triumphe. „Er spielte jedes Mal so lange, wie das Publikum es wünschte“, erinnert sich sein Sohn Joel Grey, bekannt geworden durch seine Rolle als Conferencier in Cabaret. „Es war immer ein Genuss, wenn er um vier in der Früh von der Arbeit nach Hause kam und mich aufweckte, um zusammen eine Schüssel Himbeerjelly mit Schlagobers zu essen.“ Katz wurde zum Vorreiter einer neuen amerikanisch-jüdischen Identität, zum Verteidiger des kulturellen Erbes der Einwanderer, ihrer Musik, ihrer Sprache und ihrer Küche. Der Erfolg gab ihm recht. Was Jahre später als „New Radical Klezmer“ von den USA aus die internationale Jazz- und Folkszene zutiefst beeinflusste und heute aus keinem Weltmusikfestival wegzudenken ist, wurde von Mickey gegen viele Widerstände über die Radiostationen verbreitet. In seinen Erinnerungen schildert er folgendes Gespräch Anfang der Fünfzigerjahre mit einem Radiomanager in Philadelphia:

„Ich fragte ihn, warum er nicht meine Platten spielte. Er sagte: „Weil sie einige unserer Hörer beleidigen werden.“
Ich fragte: „Wen, außer Sie?“
Er sagte: „Das geht Sie nichts an.“
Ich darauf: „Oh doch, denn ich lebe davon. Sie spielen italienische und polnische Platten …“
Er unterbrach mich. „Ich werde keine einzige Platte mit Jiddisch spielen. Jiddisch ist die Sprache des Ghettos.“
„Lieber Freund“, sagte ich, „Jiddisch ist die Sprache unserer Vorväter.“
Wieder unterbrach er mich. „Dieser Sender wird keine jüdische Musik mit jiddischem Text bringen.“

1993 hörte ich seine Musik live in Wien, gespielt von dem großen Klarinettisten Don Byron, ein großartiges Konzert, in dem schwarze und jüdische Musiker auf der Bühne standen. „Mickey Katz war entscheidend daran beteiligt, wie sich ethnische Traditionen gegen den herrschenden Geschmack durchsetzen können“, erzählte Byron nachher. „Viele afroamerikanische Musiker sind von ihm inspiriert worden und dann in die Klezmerklassen der Musikhochschulen gegangen, um dort die Klarinettentechnik der Klezmorim zu erlernen. Mickeys Musik war auch ein politisches Statement gegen die Assimilation.“ In den Vierzigerjahren hatten große Klarinettisten wie Mezz Mezzrow (Milton Mezirow), Artie Shaw (Arthur Jacob Arshawsky) oder Benny Goodman es strikt abgelehnt, Klezmer in ihre Musik einfließen zu lassen. Fünfzig Jahre später begannen Musiker, die aus der Rockszene kamen, wie die Klezmatics, in einem Crossover traditionelle Musik aus Chassidismus, Folklore und jüdischer Arbeiterbewegung mit karibischem Ska, Jazz und Rock für ein junges Publikum zu fusionieren. Als ich die Klezmatics zum ersten Mal hörte, im Herbst 1990, flogen mir fast die Ohren weg. Das Publikum in der „Szene Wien“ wurde magnetisch nach vorne gezogen und fiel beinahe in Ekstase. Einige Leute, die sich ein gefühliges Konzert erwartet hatten, reagierten verstört. „Not so loud!“ rief jemand nach den ersten fünf Minuten. „We are a loud band“ kam es von der Bühne. (Inzwischen haben sie einen Grammy bekommen.) Und wer heute die verschiedenen Fusions der Balkan Brass Bands wie der von Shantel hört, weiß, dass Klezmer wieder dort angekommen ist, wo er herkommt, und weit über seine einstigen kulturellen Grenzen hinaus die jungen Musiker inspiriert. Den Paten dieser Renaissance kennen nur mehr wenige. Mein liebster Song ist der über das Wehgeschrei einer Ente, die mit anhören muss, wie sie um sechs Dollar verkauft wird, bevor der Geflügelhändler das Messer ansetzt, und sich ausmalt, was die Lady alles mit ihr anstellen wird: füllen, braten, das Schmalz auslassen … Anzuhören auf Youtube: Geshray of De Vilde Kotchke. Die arme gerupfte Katschke ist auf dem Cover von „Don Byron plays the music of Mickey Katz“ zu sehen, und einige von Mickeys Platten sind inzwischen auf CD zu bekommen.

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