„Das ganze Geheimnis war, sich tot zu stellen.“

Georges Jorisch, der mit seinem Vater während des Zweiten Weltkriegs in Brüssel untertauchen musste, spricht über sein Leben.
Von Thomas Trenkler

Der Schätzwert beträgt 25 Millionen Dollar, Experten tippen aber auf einen weit höheren Preis: Am 2. November gelangt bei Sotheby’s in New York „Litzlberg am Attersee“ von Gustav Klimt zur Versteigerung. Einbringer ist Georges Jorisch. 1928 in Wien geboren, wuchs er in einer Villa des Sanatoriums Purkersdorf auf, das zu einem Drittel seiner Großmutter Amalie Redlich, geborene Zuckerkandl, gehört hatte. 1939 floh er mit seinem Vater nach Brüssel. Versteckt von Fremden, überlebte er das NSRegime. Und 1957 ging er nach Kanada. Vier Jahrzehnte später erfuhr Jorisch, dass sich Österreich per Gesetz zur Rückgabe von NS-Raubkunst verpflichtet hat. Da seine Großmutter, 1941 deportiert, u. a. zwei Landschaftsbilder von Klimt besessen hatte, wandte er sich an die Kommission für Provenienzforschung: „Beide ganz ähnlich, mit Wasser im Vordergrund und das Ufer parallel zum Rahmen. Alles in Grün und Blaugrün mit ein paar roten Dächern durch die Bäume schauend.“ Aber man konnte ihm nicht weiterhelfen. Ab 2001 gingen die Provenienzforscherin Ruth Pleyer und der Anwalt Alfred Noll der Sache nach. 2010 erhielt Jorisch „Kirche in Cassone“ aus Grazer Privatbesitz zurück: Das Bild wurde in London bei Sotheby’s versteigert, der Gewinn geteilt. Und Ende April 2011 erklärte sich das Land Salzburg bereit, „Litzlberg am Attersee“ zu restituieren. Mitte Mai besuchte ich Georges Jorisch in Montreal. Mit seiner Frau lebt er am Stadtrand in einer Seniorenresidenz. Auf meine Fragen antwortete Jorges Jorisch in Deutsch, wiewohl er es seit 1939 kaum mehr gesprochen hatte. „Ich war überrascht“, sagte er. „Ich hätte niemals geglaubt, dass so etwas zustande kommen könnte. Das Land Salzburg ist hoch anständig. Der Landeshauptmannstellvertreter hat mir einen unglaublich netten Brief geschrieben. Die Zeiten haben sich vollkommen geändert.“ Und Jorisch zeigt sich erkenntlich: Er spendet 1,3 Millionen Euro für den Um- und Ausbau des Wasserturms neben dem Museum der Moderne am Mönchsberg. Dieser soll künftig den Namen Amalie Redlich tragen.

NU: Herr Jorisch, würden Sie mir bitte Ihre Geschichte erzählen?

Jorisch: Gerne. Bin 1928 geboren. Meine Eltern ließen sich scheiden. Da war ein ständiger Krach gewesen. Von 1933 an lebte ich mit meiner Mutter und mit der Großmutter in Purkersdorf. 1938 war der Anschluss. 1939 hat mich mein Vater mitgenommen, als er nach Belgien geflohen ist. Er war ein ausgesprochener Legitimist. In Belgien lebte Otto Habsburg, er hatte dort ein Schloss. Und er organisierte die Emigranten. Die Idee war, dass die Emigranten in kleine Gruppen aufgeteilt werden und nach Frankreich gehen. Mein Vater sollte eine dieser Gruppen leiten. Aber das ließ sich nicht mehr umsetzen. Deutschland hat Belgien und Holland im Mai 1940 überfallen. Und da mussten wir wieder laufen. Denn die Belgier verhafteten alle Ausländer. Mein Vater bekam über die Legitimisten von der belgischen Regierung ein Papier, dass er in Ordnung ist. Und wir haben versucht, uns durchzuschlagen. Wir gingen nach Ostende. Und da sind wir zurückgeblieben. Wir sind daher zurückgegangen nach Belgien. Wir hofften, dass sich alles beruhigen würde. Es war dann auch Frieden – bis 1942, als die Deutschen angefangen haben, alle Immigranten und alle Juden zu fassen und wegzuschicken. Mein Vater hatte Verbindungen und wir sind für ungefähr zwei Jahre untergetaucht. Bis zum September 1944, als die Engländer nach dem Durchbruch in der Normandie Belgien befreit haben. Und dann bin ich wieder in die Schule gegangen. Mein Vater ist 1949 gestorben. Da war ich dann allein, musste mich allein durchschlagen. Das ist ungefähr die Geschichte.

Jetzt würde ich Ihre Geschichte gerne noch einmal hören – genauer.

 

Fragen Sie genau!

Zuerst haben Sie mit Ihrem Vater und Ihrer Mutter hinter der Votivkirche gewohnt?

Ja, in der Ferstelgasse 1. Dort war das Büro von Zeiss, es gab eine Auslage mit Feldstechern. Nach der Scheidung ist die Mutter ins Sanatorium übersiedelt. Und der Vater ist geblieben. Er hat sich die Wohnung geteilt mit einem Geheimrat oder Hofrat.

Wie war das Leben im Sanatorium Purkersdorf, das Ihrer Familie gehörte?

Es war ein großes Grundstück. Ich konnte herumgehen, wo ich wollte, meistens mit dem Kindermädchen. Für ein Kind war es einsames Leben. Ich hatte einen Freund, der einmal in der Woche zu Besuch kam. Sonst war nicht viel los, ich war allein mit den Erwachsenen. Wir lebten in einer Villa, die Eugen-Villa hieß. Alle anderen Häuser wurden nach den Zuckerkandls benannt: Emil, Otto, Amalia und so weiter. Aber wer der Eugen war, das hab ich niemals herausgefunden.

Wie war Ihre Großmutter Amalia Redlich?

Die war sehr streng: „Kein Krawall!“ und „Bei Tisch sich benehmen!“ Aber: Die Kinderstube vergisst man nicht.

Hatten Sie damals Kontakt mit Ihrem älteren Cousin Emil?

Ein bisschen. Aber meine Großmutter war mit allen auf Kriegsfuß, ich weiß nicht warum. Sie hatte die Eltern Emils nicht gern, und sie hatte die B. Z., die Berta Zuckerkandl, überhaupt nicht gern. Sie hat sich immer separiert. Und man hat mich nicht ermuntert, mit dem Emil zu spielen oder zu sprechen. Man hat es nicht verboten, aber es wurde nicht gern gesehen.

Sie sind in Purkersdorf in die Volksschule gegangen?

Erst in der vierten Klasse. Davor hatte ich einen Hauslehrer, ein gewisser Atzinger, sein Sohn lebt noch in Purkersorf. Von Herbst ’37 an bis zum Schulende ’38 an bin ich in die Volksschule gegangen.

Können Sie sich an Hitlers Einmarsch erinnern?

O ja! Im Radio sagte der Schuschnigg: „Gott schütze Österreich!“ Und meine Großmutter sagte: „Das ist nicht viel.“ Und dann sind wir auf einer Bank vor dem Tor gesessen und haben gesehen, wie die Deutschen einmarschiert sind. Das Kindermädchen sagte: „So viele Panzer!“ In Österreich gab es keine Panzer. Und dann ist Hitler vorbeigefahren. Die Hitler-Freunde sind Spalier gestanden und haben gebrüllt: „Sieg Heil!“ Die ökonomischen Zustände waren für die meisten Leute schlecht. Die haben an die Propaganda geglaubt, dass es unter dem Hitler ein Honiglecken sein wird. Das hat zwei, drei Jahre gedauert – bis zum russischen Feldzug.

Was passierte nach dem Einmarsch im März 1938?

Es kamen Leute ins Haus, die haben uns das Silber und den Schmuck weggenommen. Und die meisten Leute, die wir kannten, sind geflüchtet. Es war ein sehr einsames Leben dann. Der Winter ’38/’39 war absolut nicht angenehm.

Ihr Vater wollte das Sorgerecht für Sie.

Ja, da war ein Prozess. Meine Mutter wollte mich nicht loslassen. Zum Glück hat sich der Richter auf die Seite meines Vaters gestellt. Er hat gesagt: „Der Führer will, dass alle Juden ausziehen.“ Und damit hat mein Vater gewonnen.

Ihr Vater wollte so schnell wie möglich weg – aus Angst vor dem KZ?

Er hatte, glaube ich, nicht Angst vor dem KZ. Aber das Leben war unmöglich. Man konnte nicht arbeiten, man konnte nichts machen.

Und Ihre Mutter wollte unbedingt in Wien bleiben?

Ja, sie hat gesagt: „Das wird sich legen.“ Und meine Großmutter sagte auch: „Das wird sich legen.“ Und mein Vater hat gesagt: „Da ist nichts zu machen, da muss man weg.“ Er hatte einen Freund, der, glaube ich, nach Südafrika ging. Das muss ’36 gewesen sein. Er verabschiedete sich von meinem Vater: „Das wird hier schlecht enden. Das Land ist unterwühlt.“

Man hat schon eine Ahnung gehabt?

Oh ja! Alle, die gescheit waren, haben gewusst, dass der Krieg losgehen wird.

Sind Sie gerne mit Ihrem Vater weggegangen?

Ich habe verstanden, dass da keine Zukunft war. Ich war elf Jahre alt, schon gescheit genug, um zu sehen, was sich da abspielt. Ich habe gesehen, wie die Kinder der Schule sich in ein paar Wochen verändert haben. Alle waren in der Hitler-Jugend, der Kopf wurde voll gemacht mit den Ideen. Ich habe gesehen, dass es unmöglich ist, in der Schule zu bleiben.

Waren die Mitschüler hässlich zu Ihnen?

Nicht unbedingt hässlich, aber man hat gemerkt, dass sie unter Druck standen, nicht mit mir zu tun zu haben, sich nicht mit mir abzugeben, nicht mit mir zu spielen, nichts zu reden. Da war viel Druck auf diesen zehnjährigen Kindern. Und da waren auch Lehrer, die Nazis waren. Nicht alle, es gab ein paar, die sehr anständig waren. Aber die mussten den Mund halten, die haben Angst gehabt. Sie können sich nicht vorstellen, was eine solche Diktatur mit den Leuten macht!

Sie konnten Ihre Mutter nicht überreden, mit Ihnen mitzukommen?

Nein, da war nichts zu machen. Was sehr deprimierend war, weil ein ganzer Haufen Leute Selbstmord beging – und wir hörten davon. Das war nicht gerade angenehm.

Wie sind Sie mit Ihrem Vater geflohen?

Wir sind mit dem Zug gefahren bis nach Köln. Und dort über die Grenze gegangen. Mein Vater hatte Verbindungen zu einem Mann, der Leute über die Grenze schmuggelte. Denn die Deutschen wollten die Leute nicht hinauslassen. Und die Franzosen wollten die Leute nicht hereinlassen. Einzig Leopold III., der belgische König, hat die Leute hereingelassen.

Ihr Vater war Rechtsanwalt. Hat er in Belgien arbeiten können?

Mein Vater hatte sich umschulen lassen, Schuhe zu richten. Man hat ihn genannt den „Schusterdoktor“. Auf diese Art hat er in Brüssel ein bisschen Geld verdient, um leben zu können.

Und Sie gingen dort in die Schule?

Ja, am dritten Tag in Brüssel sagte mein Vater: „Jetzt gehst du in die Schule!“ Und er gab mir ein Schulbuch. Wie ich die Akzente sah, sagte ich: „Um Gottes Willen, was ist das?“ Er sagte: „Das ist Französisch. Du wirst es lernen müssen.“ Bis heute beherrsche ich die Akzente nicht vollständig. Meine Frau macht es ziemlich gut. Aber sie ist auch eine waschechte Belgierin.

Anfangs konnten Sie in Brüssel ganz normal leben?

Ja. Die Schüler haben aber nicht verstanden, was ein Immigrant ist. Für all diese Kinder war ich der „le boche“, der Deutsche. Die haben nicht begriffen, dass es Leute gibt, die Deutsch sprechen – und nicht mit dem Deutschen Reich einverstanden waren.

Aber Sie hießen nicht mehr Georg.

In der Schule hieß ich Georges.

Und wie hat Sie Ihr Vater gerufen?

Ich wurde selten beim Namen gerufen. Man hat zu mir gesagt: „Komm her!“ oder „Tu das!“ Es waren nicht viele da, dass man sagen musste: „Georg!“ oder „Peter!“

Wie war Ihr Vater?

Mein Vater war ein Despot. Er hat keinen Widerspruch geduldet. Einmal hab ich zu ihm gesagt: „Das ist nicht wahr.“ Er tobte: „Das sagt man einem Vater nicht! Bestenfalls sagt man: Du irrst dich!“

Warum war Ihr Vater Legitimist, ein Getreuer von Otto?

Die Monarchie war gut zu den Juden. Für die Generation meines Vaters war es unter der Monarchie das gute Leben gewesen. Mein Vater war konservativ. Absolut.

Als Mitte Mai 1940 die Deutschen Belgien besetzten, flohen Sie mit Ihrem Vater nach Ostende.

Mein Vater sagte: „Der Plan der Legitimisten fällt auseinander, wir werden es ganz allein machen.“ Wir wollten nach England. Aber Rommel war bereits durchgebrochen und ein Teil der englischen Armee war in Ostende eingekesselt. In den letzten Stunden, in denen die Engländer Ostende evakuierten, kam die Royal Air Force: Ich sah Hunderte von Flugzeugen, dicht über den Bäumen. Dann war für ein paar Stunden Stille. Und dann kamen die Deutschen.

Ihr Vater wollte mit Ihnen auf ein Schiff gehen.

Mein Vater sprach Englisch. Er erklärte einem Offizier, dass wir Flüchtlinge sind. Ich glaube, er war ein Major, ein höheres Vieh. Der konnte ziemlich viel machen, was er wollte. Er sagte: „Ich werde euch mitnehmen, aber zuerst muss ich schauen, was mit meinen Leuten ist.“ Er ging mit zwei Männern weg und nur die zwei Männer kamen zurück. Sie sagten, dass er verwundet oder erschossen wurde, ich weiß es nicht. Sie konnten sich nicht entschließen, uns mitzunehmen. Sie waren nur Unteroffiziere. Und so sind wir zurückgeblieben. Die Engländer haben alles zurückgelassen, die Autos und so weiter, und sind weg.

Und so sind Sie mit Ihrem Vater zurück nach Brüssel gegangen.

Ja, es war nichts anderes möglich. Als wir wieder in Brüssel waren, waren schon seit ein paar Tagen die Deutschen da.

Das muss gefährlich gewesen sein.

Nein, es war nicht unbedingt gefährlich. Die Deutschen haben die Leute ziemlich in Ruhe gelassen, sie wollten den Belgiern beweisen, dass sie korrekt sind. Aber die Belgier haben ihnen nicht getraut.

Konnten Sie weiter in die Schule gehen?

Ja, ich bin weiter in die Schule gegangen. Ixelles hieß die Gemeinde.

Und Ihr Vater hat wieder als Schuster gearbeitet?

Ein bisschen. Und er hat jemandem Deutschlektionen gegeben.

Haben Sie noch mit Ihrer Mutter telefonieren können?

Telefonieren nicht, wir haben Briefe geschrieben. Sie konnte aber nicht viel erzählen. Sie musste aufpassen, was sie schrieb. Wegen der Zensur.

Trotz der Zensur wollte sie nicht weg aus Wien?

Ab einem bestimmten Augenblick war es nicht mehr möglich. Zuerst wurde sie mit meiner Großmutter aus der Villa geschmissen, sie lebten dann in einem Haus, das nicht mehr existiert, und dann wurden sie in eine Sammelwohnung verfrachtet. Und von dort wurden sie deportiert.

Nach Polen. Was war das letzte Lebenszeichen von ihr?

Im Frühjahr 1942 sagte mein Vater zu mir: „Der letzte Brief ist zurückgekommen.“ Ich fragte: „Was bedeutet das?“ Er sagte: „Ich weiß nicht.“ Er hat ganz genau gewusst, was es bedeutet hat. – Mein Vater ist ziemlich gut ausgekommen mit den Belgiern. Die Emigranten haben sich jede Woche in einem Café getroffen und der Besitzer des Kaffeehauses war ganz antifaschistisch eingestellt. Er agierte im Untergrund, wurde verhaftet und ist verschwunden. Und die meisten der Leute, die da waren, sind auch umgekommen.

Wann mussten Sie untertauchen?

1942. Mein Vater hatte Freunde. Die kamen zu uns und sagten: „Ihr müsst weg! Geht dahin und dahin!“ Und dort waren Leute. Die sagten: „Ihr könnt nicht mehr hinaus gehen, ihr müsst im Haus bleiben.“ Wenn die Leute aus dem Haus waren, durften wir kein Licht anmachen. Das ganze Geheimnis war, sich tot zu stellen. Wir sind über Nacht weggegangen und waren verschwunden. So war es für zwei Jahre.

Das war mitten in Brüssel?

Ja, an drei verschiedenen Orten. Wir sind von einem zum anderen gezogen. Eines Tages kam die Frau, die uns aufgenommen hatte, in der Früh um sieben ins Zimmer und sagte: „Kinder, geht weg! Die Gestapo ist nebenan beim Nachbarn.“ Der Nachbar hatte scheinbar Butter am Kopf.

Was meinen Sie damit?

Er hatte den Verdacht der Gestapo erregt. Ich weiß nicht genau, was er gemacht hat. Mein Vater sagte: Er hat auf beiden Seiten gespielt. Aber er konnte irgendwie über die Gartenmauer fliehen.

Wie ging es weiter?

Es wurde abgemacht, dass jeder seinen eigenen Weg geht und man trifft sich bei Nacht an einem anderen Ort. Und ich, der ich viele Räubergeschichten gelesen hatte, wusste, dass der sicherste Platz möglichst nah beim Feind ist. Und so ging ich zu dem Platz, wo die deutschen Soldaten trainiert haben. Da waren Kinder, die zugeschaut haben. Ich setzte mich zwischen diese Kinder – und blieb dort. Als es anfing, dunkel zu werden, ging ich zu dem verabredeten Ort. Und dort traf ich meinen Vater.

Das waren Bekannte, wo Sie Unterschlupf gefunden haben?

Das waren Bekannte von Bekannten. Für diese Leute bestand Gefahr. Und es gab Leute, die uns mit Lebensmittel geholfen haben. Ja, die Belgier waren ziemlich anständig.

Sie waren mit Ihrem Vater allein?

Einmal waren für ein paar Wochen amerikanische Flieger im Haus, die abgeschossen wurden. Das hatte mein Vater nicht gern. Er hat gesagt: „Je mehr Leute da sind, desto gefährlicher ist es.“

Sie gingen natürlich nicht in die Schule.

Mein Vater sagte: „Ich werde dir Latein lernen!“ Und so hat er mir Latein gepaukt. Und Algebra. Jeden Tag.

Stimmt es, dass Sie eine Inschrift vom Justizpalast in Wien auswendig kennen?

Ja. „Fiat Justitia et pereat mundus.“ (Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde.) Verschiedene Inschriften: Das lernt man eben, wenn man Latein macht. Und dann lasen wir noch einen römischen Schriftsteller, Cornelius Nepos. „De viris illustribus“, das Leben der berühmten Männer, darunter Hannibal und Perikles.

Hatten Sie große Angst, entdeckt zu werden?

Man gewöhnt sich daran. Man denkt nicht an Angst.

Und wie kamen Sie mit der Einsamkeit zurecht?

Bei der einen Frau gab es einen ganzen Haufen Bücher. Ich hab viel gelesen, Voltaire zum Beispiel. Diese Frau hatte hunderte Bücher! Das war gut für mich: Ich konnte mein Französisch verbessern.

Hatten Sie eine Ahnung, wie lange sich das Verstecken hinziehen würde?

Wir hörten Radio: BBC und Radio Paris Allemand. Im Herbst 1942 hörte man schon, dass es für die Deutschen schlecht geht, sie mussten zurück vom Kaukasus und dann, im Winter, kam die Schlacht von Stalingrad. Da drehte sich die Sache. Zudem hörten wir, dass die Engländer Rommel in Afrika geschlagen haben. Da wussten wir: Das ist der Anfang vom Ende.

Und Sie hatten keine Freunde.

Das war unangenehm. Man gewöhnt sich daran. Aber als ich dann, nach dem Krieg, ins belgische Gymnasium ging, hatte ich bald Freunde. Drei Freunde. Der eine wollte Diplomat werden. Er hatte einen Autounfall und starb ganz jung. Das war ’50 oder ’52. Der andere hat zu viel getrunken und ist an einer Leberkrankheit zugrunde gegangen. Und was mit dem dritten passiert ist, weiß ich nicht. Der lebt vielleicht noch.

Am 3. September 1944 wurde Brüssel von den Alliierten befreit.

Und dann war wieder alles ganz normal. Papiere wurden ausgestellt und so weiter. Mein Vater hat sich sofort darum gekümmert, dass wir österreichische Pässe bekommen.

Im Mai 1945 war der Zweite Weltkrieg zu Ende. Wollte Ihr Vater nach Österreich zurückkehren?

Er trat in Verbindung mit Hans Stephenson. Er war vor dem Krieg der Verwalter von Purkersdorf gewesen. Ein guter Mann. Den haben wir 1949 getroffen. Aber dann ist mein Vater gestorben.

Sie waren 1949 in Wien?

Ja. Die Stadt hat schlecht ausgeschaut – puh. Es waren die Russen da. Und die haben auch nicht berühmt ausgeschaut. Mein Vater stellte sofort fest: „Soldaten mit ungeputzten Stiefeln!“

Sie wollten nicht in Österreich bleiben?

Mein Vater wollte sich das überlegen. Ich fuhr auf Ferien nach Bad Aussee. Und währenddessen starb mein Vater. Ein Herzschlag. Ich kannte niemanden. Niemanden, der mir helfen konnte. Alle waren weg, die meisten gestorben. In Belgien hatte ich Freunde.

Was haben Sie gemacht?

Ich habe in Belgien das Gymnasium beendet. Und dann habe ich versucht, mich durchzuschlagen – als Illustrator und so weiter. Ich habe auch als Dreher gearbeitet in einer Fabrik. Die haben Eisenbahnwaggons für Persien gebaut.

Studieren?

Das wäre nicht möglich gewesen.

Was hätten Sie denn gerne studiert?

Ich weiß nicht genau. Das ist schon so lange her. Aber nicht Advokat. Vielleicht etwas Grafisches.

Konnten Sie eigentlich Kontakt aufnehmen mit den Zuckerkandls, die nach Algier geflohen waren? Haben Sie Ihren Cousin Emil gesehen?

Mein Vater fuhr 1946 nach Paris, um Fritz Zuckerkandl zu sehen. Er war damals der Direktor der Penizillin-Fabrik. Emil hat einen schweren Fehler gemacht: Er hat den Neubauer (Franz Neubauer), den Advokaten meines Vaters, abgesetzt – und durch einen gewissen Biró (Ludwig Biró) ersetzt, der sich als völlig unfähig herausgestellt hat. ’47 oder ’48 ist Emil nach Brüssel gekommen, um meinem Vater zu erklären, was er gemacht hat. Mein Vater hat getobt.

Es ging um die Rückgabe des Sanatoriums Purkersdorf, das der Nationalsozialist Gnad arisiert hatte.

Gnad hat alles verkauft, was er konnte. Er fällte die Bäume und sagte: Die Russen haben das gemacht.

Waren Sie 1949 im Sanatorium?

Nein. Gnad hat einen gerichtlichen Beschluss. Emil durfte hineingehen, weil er französischer Staatsbürger war. Aber wir waren Österreicher, wir durften nicht. Die Verhandlungen haben sich gezogen und gezogen. Und es ist nichts Gutes herausgekommen.

Der Vergleich, der schließlich geschlossen wurde, war eine extreme Ungerechtigkeit.

Ja.

Sie gingen zurück nach Brüssel und lernten Ihre Frau Eliane kennen. Das war auch 1949?

Ja. Ich hab meine Frau kennengelernt bei Freunden. Ich kann mich noch erinnern: Ich hab ihr bei den Latein- Aufgaben geholfen. ’55 oder ’56 haben wir geheiratet.

Sie haben weiter als Illustrator gearbeitet?

Ich habe Biografien von berühmten Leuten illustriert. Aber damit war nicht viel Geld zu verdienen. Dann hab ich als Werbegrafiker gearbeitet. Aber die Leute waren unfreundlich, die hatten nicht gern Ausländer. Die haben einen Krach aufgebaut. Und da hab ich beschlossen, wegzugehen. Das war in ’57.

Ihre Frau war einverstanden, nach Montreal zu gehen?

Ja. Das Leben in Belgien war schwer, nicht nur für die Ausländer.

Sie fuhren mit dem Schiff. Wussten Sie, dass es ein Abschied für immer ist?

Oh ja, das haben wir gewusst.

Wie war die Ankunft?

Es war nicht einfach. Aber nur am Anfang. Zunächst war ich bei einer Fabrik, die hat Bierflaschen hergestellt. Sie machte Pleite. Dann hab ich in einer Papierfabrik gearbeitet. Die haben mich hinausgebissen. Und von da an arbeitete ich in einem Fotogeschäft.

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