BMW und der vergessene Jude

Der Autohersteller BMW feiert in diesem Jahr sein hundertjähriges Jubiläum. Das Unternehmen verdankt seine Existenz dem österreichischen Juden Camillo Castiglioni, der die Firma 1919 vor dem Untergang rettete und sie zu einem der bedeutendsten Automobil- Hersteller machte. In den Festschriften von BMW fehlt allerdings jede Spur von Castiglioni.
VON RENÉ WACHTEL

 

Camillo Castiglioni, im Jahre 1879 im damals zur Habsburgermonarchie gehörenden Triest geboren, war der Sohn des späteren Oberrabbiners von Italien, Vittorio Castiglioni. Während sein Bruder Arturo ein Medizinstudium absolvierte, interessierte sich Camillo für die Finanzbranche und absolvierte eine Lehre in einer der vielen Wechselstuben der Hafen- und Handelsstadt Triest. Dort erlernte er auch den Handel mit Wertpapieren und Devisen und den Umgang mit internationalen Kunden. Darüber hinaus begeisterte er sich für Autos und Flugzeuge. Mit knapp 20 Jahren wurde er von der Österreichisch-Amerikanischen Gummiwerke AG (später Semperit) nach Konstantinopel entsandt. Zwei Jahren danach war er bereits deren Exportleiter in Wien und alsbald, mit knapp 28 Jahren, gar Generaldirektor. Wieder zwei Jahre später übernahm er die Aktienmehrheit bei Austro-Daimler, dem größten k.u.k. Automobil- und Flugzeughersteller. Technischer Direktor war zu dieser Zeit der geniale Ferdinand Porsche. Das kongeniale Duo machte Austro-Daimler zu einem der größten Automobilhersteller und dann während des Ersten Weltkrieges zum wichtigsten Waffen- und Flugzeugproduzenten der Monarchie.

Einer der reichsten Männer Mitteleuropas

Trotz der Niederlage der österreichischen Monarchie im Ersten Weltkrieg waren Camillo Castiglioni, Austro- Daimler und die vielen damit verbundenen Unternehmen nicht vom Untergang bedroht. Nach dem Ende der Monarchie konnten die in den Kronländern Geborenen die Staatsbürgerschaft ihres Geburtslandes annehmen; Castiglioni wurde italienischer Staatsbürger und konnte somit in den frühen 1920er-Jahren ohne Probleme reisen und seine Geschäfte abwickeln.

Es begann die Zeit der großen Finanzjongleure, und Camillo Castiglioni war einer der begnadetsten unter ihnen. Er kaufte in ganz Mitteleuropa Firmen zu Spottpreisen auf, wobei er immer nach demselben Muster agierte: Er leistete eine kleine Anzahlung und bekam später wegen der galoppierenden Inflation die Firmen fast geschenkt.

So auch bei BMW, damals noch die Bayerische Flugzeugwerke AG. Nach dem Krieg wollten die Aktionäre das Unternehmen liquidieren, aber Castiglioni, der als einziger an eine Zukunft für die Firma glaubte, übernahm sie im Jahr 1919 und rettete sie damit vor dem Untergang. 1920 verkaufte er seine Anteile an die Knorr-Bremse AG in München (heute ein weltweit führender Hersteller von Bremssystemen für Schienen- und Nutzfahrzeuge), revidierte seine Entscheidung jedoch und kaufte das Unternehmen im Jahr 1922 wieder zurück. Danach folgte die Neugründung als Bayerische Motorenwerke AG (BMW). Der Kaufvertrag mit Knorr-Bremse schloss neben allen Produktionsstätten in München und dem Maschinenpark auch sämtliche Patente und die Markenrechte mit ein, und bei der Finanzierung des 75-Millionen- Mark-Deals stellte Castiglioni seinen Geschäftssinn unter Beweis. Die Knorr-Bremse AG akzeptierte eine Anzahlung von 10 Millionen Mark, der Restbetrag sollte bis April 1923 überwiesen werden. Dazu ist in der jüngst erschienenen Biografie (Der Haifisch: Aufstieg und Fall des Camillo Castiglioni von Reinhard Schlüter) zu lesen: „Trotz der sich nun auch in Deutschland dramatisch beschleunigenden Inflation scheint Camillo Castiglioni bei den Verhandlungen der Einzige zu sein, der die Geldentwertung ins Kalkül zieht! Tatsächlich wird der Restbetrag im Laufe des Jahres zu einer Marginalie zerbröseln!“

Camillo Castiglioni war zu diesem Zeitpunkt am Höhepunkt seiner Macht. Er galt als einer der reichsten Männer Mitteleuropas. Er besaß ein Palais in der Prinz-Eugen-Straße in Wien mit einer einmaligen Bilder- und Skulpturensammlung und eine Villa am Grundlsee (die heute noch zu bestaunende Villa Castiglioni). Er reiste unermüdlich durch ganz Europa, stets in den neuesten und aufregendsten Limousinen, die von Ferdinand Porsche für Austro-Daimler entwickelt wurden, oder aber im eigenen Salonwagen (dem ehemaligen Salonwagen von Kaiser Franz Joseph), wenn er mit der Bahn unterwegs war.

Camillo Castiglione, ein „Sicherheitsrisiko“

BMW richtete er vollkommen neu aus. Er machte seinen Freund Franz Josef Popp (einen ehemaligen Direktor von Austro-Daimler) zum Generaldirektor und setzte mit ihm gemeinsam die neue Strategie um. Im Jahr 1923 entwickelten die Techniker Max Friz und Martin Stolle das erste BMW-Motorrad, die BMW R32 in der noch heutigen gültigen Bauweise: Zweizylinder- Boxermotor mit quer zur Fahrtrichtung angeordneten Zylindern, direkt am Motor angeblocktes Schaltgetriebe und Kraftübertragung über eine Welle anstelle einer Kette oder eines Riemens. Diese zentralen Merkmale sind bis heute für BMW-Motorräder mit Boxermotor charakteristisch.

Gleichzeitig konnte Castiglioni gemeinsam mit Franz Josef Popp für BMW einen Lizenzvertrag mit Pratt & Whitney in den USA zum Erwerb von Sternflugzeugmotoren abschließen. Mit diesem Lizenzvertrag schlug die Geburtsstunde der bis heute erfolgreichen Motorenproduktion von BMW. Nach wie vor baut die Marke BMW auf dieser Technologie auf. Auch der Einstieg in die Automobilproduktion wurde mit dem Kauf der Eisenacher Automobilwerke von ihm gestartet.

1924 begann der Stern von Camillo Castiglioni zu verglühen. Um seine Geschäfte aufrechtzuerhalten, musste er aus seinen vielen Unternehmen massenhaft Geld herausziehen, was auch bei BMW immer wieder zu Zahlungsschwierigkeiten führte. 1924 verspekulierte er sich total. Er setzte in diesem Jahr auf den Verfall der französischen Währung. Zuerst gelang es ihm mit geschickten Leerverkäufen, den Wert des Franc innerhalb eines Monats um 40 Prozent zu drücken. Doch er hatte nicht mit J. P. Morgan gerechnet: Das amerikanische Finanzunternehmen ging gemeinsam mit der Banque de France zum Gegenangriff über und kaufte massiv Francs auf, wodurch der Wert der Währung wieder stieg. Castiglioni verlor fast sein gesamtes Vermögen.

Auch bei BMW ging es nun für ihn persönlich bergab. Obwohl das Unternehmen durch seine Neuausrichtung binnen vier Jahren zu einem prosperierenden Exporteur und als Flugzeugmotor- Marktführer zu einem Schlüsselunternehmen der deutschen Luftfahrtindustrie geworden war, brauchte Castiglione Geld von den Banken. Er war daher gezwungen, Anteile von BMW an ein Bankenkonsortium unter Führung der Deutschen Bank abzugeben – und das wurde ihm zum Verhängnis. Denn ab dem Jahr 1925 formulierte der größte Auftraggeber von BMW, die deutsche Militärluftfahrt, Bedenken gegen Camillo Castiglioni. Schon vor Hitlers Machtergreifung wurde die Aufrüstung der deutschen Militärluftfahrt betrieben, und da hielt das Reichswehr- und Reichsverkehrsministerium den „ausländischen Juden“ Camillo Castiglione mit einem Mal für ein „Sicherheitsrisiko“. Gemeinsam mit dem Bankenkonsortium schmiedeten die deutschen Militärs einen Plan, Castiglioni aus dem Unternehmen zu drängen. Die Ministerien vergaben Aufträge für Flugzeugmotoren über eine Tarngesellschaft an BMW zu nicht marktüblichen Preisen (teilweise wurden Rabatte von 50 Prozent gefordert). Durch die niedrigen Erlöse und die damit einhergehenden Verluste sollte Castiglioni gezwungen werden, sein verbliebenes Aktienpaket an ein Bankenkonsortium zu übertragen. Mit diesem wurde vereinbart, dass das Ministerium nach dem Ausscheiden von Castiglioni finanzielle Hilfe für BMW leisten würde, um die früheren Verluste auszugleichen.

Castiglioni versuchte noch, durch Kooperationsideen mit Daimler und Aktientausch einen Teil seines Einflusses bei BMW zu behalten, aber im Mai 1926 forderte ihn das Reichsverkehrsministerium „ultimativ“ auf, seinen Aktienanteil abzugeben und das Unternehmen zu verlassen. Sonst würden alle Aufträge des Ministeriums gestoppt werden. So musste er seinen 60-prozentigen Anteil an der Börse abstoßen. Das ist die Geschichte der Anfangsjahre von BMW. Sie ist untrennbar verbunden mit Camillo Castiglioni, dem Juden aus Triest, der die noch heute bestehende Unternehmensstärke mit Motorenbau, Motorrad- und Autoentwicklung in den 1920er-Jahren begründete. Das wird in allen Festschriften zur Jahrhundertfeier von BMW einfach weggelassen.

Nach einer diesbezüglichen Anfrage bei BMW wurde NU mitgeteilt, dass dem Unternehmen zwar die Bedeutung der Person Camillo Castiglioni für die Historie von BMW bewusst sei, aber der Fokus des 100-Jahr-Jubiläums auf der Zukunft liege. Camillo Castiglioni würde jedoch im BMW-Museum bei der Sonderausstellung „100 Meisterstücke“ erwähnt, und zwar sowohl im Ausstellungstext als auch im zugehörigen Ausstellungskatalog (erscheint im September 2016).

Der Mäzen

Camillo Castiglioni war zu Beginn der 1920er-Jahre auch ein bedeutender Kunstmäzen. Vor allem die Bekanntschaft mit Max Reinhardt war ihm sehr viel wert. Castiglioni war einer der ersten Sponsoren der Salzburger Festspiele, die 1920 mit der Erstaufführung von Jedermann am Domplatz begannen. Aber vor allem kaufte er speziell für Max Reinhardt das Theater in der Josefstadt und ließ es nach dessen Wünschen umbauen. Noch heute ist die damals gewählte Theaterarchitektur zu bewundern. Für Camillo Castiglioni begannen in den späten 1920er- und 1930er-Jahren schwierige Zeiten. Er verlor durch seine Spekulationen viele der unter seinem Einfluss stehenden Unternehmen, hatte laufend Gerichtsverfahren am Hals und büßte so sukzessive sein Vermögen ein. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs floh er in die Schweiz, wurde aber 1943 nach Italien ausgewiesen. Die letzten zwei Jahre des Krieges versteckte er sich, als Mönch getarnt, in San Marino. Gleich nach dem Krieg versuchte er wieder große Geschäfte zu machen, so verhalf er 1948 dem jungen Tito in Jugoslawien zu einem 40-Millionen- Dollar-Darlehen der staatlichen Export-Import Bank of the United States.

Am 18. Dezember 1957 starb Camillo Castiglioni im Alter von 78 Jahren in Rom.

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