Auschwitz war nicht als Erziehungsanstalt für Juden gedacht

Der neue israelische Botschafter in Wien, Aviv Shir-On, sprach mit NU über die Sehnsucht des ehemaligen Panzerfahrers nach Frieden in der Region, über Antisemitismus und Antizionismus als Brüder im Geist, und über seine Pläne in Österreich.
Von Danielle Spera und Peter Menasse (Interview) und Peter Rigaud (Fotos)

NU: Wie würden Sie sich unseren Lesern vorstellen?

Shir-On: Als einen Israeli, der in Israel geboren, dort groß geworden ist und das Privileg hat, den unabhängigen jüdischen Staat im Ausland zu repräsentieren. Ich bin ein stolzer Jude, und die Geschichte meines Volkes ist mir wichtig. Deswegen bin ich auch äußerst froh, dass ich hier in Österreich den Staat Israel vertreten darf. Meine Familie kommt aus dem deutschsprachigen Raum und ich war als Botschafter schon in Deutschland und in der Schweiz. Jetzt schließe ich diesen Kreis mit Wien, einer großen Kulturhauptstadt. Kultur spielt für mich und für meine Frau eine wichtige Rolle und so sind wir umso glücklicher, dass wir jetzt hier gelandet sind.

Woher genau kommt Ihre Familie?

Meine Mutter verließ Deutschland als Kind im Jahr 1936, weil ihre eigene Mutter unter den Klugen war, die geahnt hatten, was kommen wird. Meine Mutter kommt aus Gliwice, zu Deutsch Gleiwitz. Das ist eine Stadt im Kohlenrevier und gehört heute zu Polen. Mein Vater kommt aus Ungarn, doch er spricht ebenfalls Deutsch.

Das heißt, Sie sind mit der deutschen Sprache und mit der deutschen Kultur aufgewachsen?

Richtig. Zuhause mit meiner Familie habe ich zwar nicht Deutsch gesprochen, aber die deutsche Kultur war mir nicht fremd. Ich sage immer, die Sprache meiner Mutter ist Deutsch, aber meine Muttersprache ist Hebräisch.

Haben Sie sich ein bisschen mit den aktuellen Ereignissen in Österreich befasst? Es gab hier einen Wahlkampf, wo Plakate in den Straßen hingen „Abendland in Christenhand“. Oder der Wahlkampf in Vorarlberg, wo Antisemitismus eine nicht geringe Rolle gespielt hat. Welche Gefühle löst das in Ihnen aus?

Also Antisemitismus ist natürlich ein Phänomen, welches die Menschheit seit Tausenden von Jahren kennt. Der Staat Israel ist von seiner Gründung weg zur Speerspitze des Kampfes gegen Antisemitismus geworden. Dieses Phänomen ist überall vorhanden, leider auch in Österreich. Ich glaube, dass es unsere gemeinsame Aufgabe ist – von Christen, Muslimen, Juden, von wem auch immer –, dagegen anzutreten. Es ist dies nicht nur die Aufgabe einer jüdischen Regierung in Israel, sondern aller Gesellschaften, aller Regierungen in Europa. Leider sind wir Zeugen einer Entwicklung, wo Antizionismus und Antiisraelismus den Antisemitismus ersetzen. Weil es politisch inkorrekt und in vielen Ländern sogar strafbar und nicht salonfähig ist, offen Antisemitismus zu zeigen, nehmen viele Antisemiten den Antizionismus als Ersatz. Auch das sollte in allen Ländern bekämpft werden.

Wie kann das ein Diplomat im Gastland?

Ich glaube, was Österreich angeht, ist es eine Aufgabe der Regierung, der Menschen, der Medien, der Gesellschaft selbst, dies klar zu machen. Ich bin sicher, hierzulande werde ich in dieser Hinsicht viele Verbündete haben, wir müssen nur dafür sorgen, dass das auch im Rahmen der Politik, des Rechtssystems, der Gesellschaft, des Schulwesens und des Erziehungssystems geschieht. Wir müssen über Israel und über die jüdische Gemeinde und das Zusammenleben aufklären. Auch in Österreich gibt es oft Antizionismus in den Medien. Wer antizionistische Haltung einnimmt, weiß sicherlich nicht, was Zionismus bedeutet. Zionismus ist nicht mehr und nicht weniger als die politisch nationale Bewegung des jüdischen Volkes, das genau wie alle anderen Völker das Recht hatte, und immer noch hat, seine Selbstbestimmung selbst zu definieren und sie auch zu erreichen. Das war genau das Ziel des Zionismus Ende des 19. Jahrhunderts. Gerade weil Wien mit der Geschichte des Zionismus so sehr verbunden ist, sehe ich es als eine Art Pflicht und ebenso als Privileg, hier diese Idee zu präsentieren und zu erklären.

Es gab tolle Projekte der Israelischen Botschaft in Wien, wie den Tel Aviv Beach oder die Israel-Straßenbahn. Wird es so etwas weiterhin geben?

Sicherlich, die Botschaft hat in dieser Hinsicht Großartiges geleistet. Ich war im Übrigen im Außenamt in Israel dafür zuständig. Wir versuchen heute, den Menschen das wahre Israel näherzubringen. Unser Problem war es immer, dass wir aus verständlichen Gründen versuchten, die Welt dazu zu bringen, den Konflikt durch israelische Augen zu sehen. Aber das führte zum unerwünschten Ergebnis, dass die Welt Israel ausschließlich durch die Augen des Konfliktes betrachtet hat. Wir wollen jetzt viel stärker das richtige Bild Israels an die Menschen bringen, denn Israel ist so viel mehr als nur ein Konflikt. Spannung und Terror haben uns seit der Entstehung des Staates Israel begleitet, aber trotzdem waren wir in der Lage, eine funktionierende Demokratie aufzubauen und eine lebendige Gesellschaft zu entwickeln. In Wissenschaft und Wirtschaft gibt es Errungenschaften, die sich sehen lassen können, so zuletzt auch wieder einen Nobelpreis in Chemie. Das will ich mit meinem Team hier in Österreich zeigen.

Kennen Sie das Bild der Österreicher zu Israel und wenn ja, sind Sie damit zufrieden?

Ich kenne es einigermaßen, nicht gut genug. Ich bin jedenfalls froh, dass mein Vorgänger, Botschafter Dan Ashbel, so viel unternommen hat und dafür auch den Titel eines „Kommunikator des Jahres 2008“ bekommen hat. So soll es sein. Ich hoffe, dass alle Israelischen Botschafter Kommunikatoren des Jahres werden, wo immer sie sind und sein werden.

Die österreichische Delegation ist bei der Rede Ahmadinejads vor der UNO sitzen geblieben. Was sagen Sie dazu?

Ich empfinde hauptsächlich Enttäuschung, denn der Iran ist mittlerweile eine Gefahr, die nicht nur Israel bedroht, sondern die gesamte internationale Gemeinschaft. Ich bin froh darüber, dass diese Tatsache inzwischen weitgehend klar geworden ist. Bedrohung wird normalerweise anhand zweier Faktoren festgestellt, nämlich der Absichten und der Fähigkeiten. Wenn ein 5-jähriges Kind im Kindergarten morgen erklärt: „Ich will die Welt erobern“, wird man vielleicht nicht sehr erfreut sein über eine solche Äußerung, aber wissen, dass nicht viel dahintersteckt. Wenn die Schweiz, ein neutrales Land, ein Symbol für Frieden und Ruhe, morgen ein nukleares Programm beginnt, wird man vielleicht auch nicht sehr erfreut darüber sein, als eine Bedrohung wird man das jedoch nicht verstehen. Aber wenn Ahmadinejad, der immer wieder erklärt, er wolle Israel von der Landkarte fegen, wenn einer, der über eine der größten Armeen der Welt verfügt, ein nukleares, militärisches Programm betreibt und Raketen von 3.000 und 5.000 km Reichweite entwickelt, kommen Absichten und Fähigkeiten zusammen, die eine klare Bedrohung bedeuten. Ich war enttäuscht, als die österreichische und andere Delegationen der Rede Ahmadinejads einfach zuhörten. Jemandem zuhörten, der versucht, eine Atombombe zu entwickeln, Raketen zu bauen, einem zuhörten, der den Holocaust leugnet und den jüdischen Staat vernichten will. Als Israeli und als Jude ist es für mich eine Enttäuschung, wenn so jemand für salonfähig gehalten wird und ich werde versuchen, das politisch und diplomatisch zum Ausdruck zu bringen.

Ihr Außenminister war in Wien, gab es da schon eine Gelegenheit, das auch offiziell mit dem österreichischen Außenminister zu besprechen?

Ja, es gab ein offizielles Gespräch und wir sind dem österreichischen Außenminister Spindelegger dankbar für die Gelegenheit dieses Gesprächs mit Außenminister Avigdor Lieberman. Es war klar, dass das Thema Iran zur Sprache kommen wird und ich kann sagen, dass die beiden Minister einen guten und nützlichen Austausch zu diesem Thema hatten.

Avraham Burg schreibt in „Hitler besiegen“, die Israeli sollten sich von der gemeinsamen Identität der Shoah lösen, um frei zu werden und nicht immer auf dieses Thema fokussiert zu sein. Wie ist Ihre persönliche Meinung dazu und wie ist die Aufnahme in Israel, welche Diskussion läuft dazu?

Das ist natürlich ein Thema, über das viele Diskussionen geführt worden sind und sie finden immer noch statt. Ich glaube, hier ist es schwer, eine ganz klare, einheitliche Meinung zu bekommen. Es leben noch Menschen in Israel, die den Holocaust erlebt haben, Überlebende des KZ. Meine Großmutter, die vor einem Jahr gestorben ist, hat Auschwitz überlebt. Meine Mutter musste aus Deutschland fliehen, einzig und allein, weil sie jüdischer Herkunft ist. Ich bin zwar in einer Familie groß geworden, die mit dem modernen Deutschland gut leben kann, aber dass es persönliche, gefühlsmäßige Ressentiments immer noch gibt, das ist doch ganz natürlich. Klar hat Burg das Recht, seine Meinung zum Ausdruck zu bringen, aber ich kann ihnen versichern, dass sein Vater (Anm. der Redaktion: Josef Burg, vielfacher israelischer Minister und Vorsitzender der Nationalreligiösen Partei) sicherlich alles anders gesehen hätte, würde er heute noch leben. Er kam aus Dresden, für ihn war der Holocaust eine der schlimmsten Ereignisse in seinem Leben. Ich stimme zu, wenn man sagt, dass das moderne Israel sich nicht nur mit dem Holocaust befassen darf. Wir sind ein moderner Staat und leben im 21. Jahrhundert und die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Kultur, auch die heutige Politik sind wichtig. Die Politik in Israel, im Nahen Osten und der ganzen Welt wird nicht nur aufgrund der Geschichte gemacht. Aber dieser Teil der Geschichte des jüdischen Volkes, dieser Teil der Geschichte Europas und der israelisch-jüdischeuropäischen Beziehungen wird immer von Bedeutung bleiben. Die Frage ist „Wie geht man damit um?“ Ich glaube nicht, dass es richtig wäre jetzt zu sagen, der Holocaust oder die Geschichte interessiert uns nicht mehr. Ich glaube, es war Richard von Weizsäcker, der meinte, dass wir nur eine Zukunft haben, wenn wir uns an unsere Vergangenheit erinnern. Das heißt nicht, dass man jeden Tag nur an der Vergangenheit festhalten soll, aber dass sie eine Rolle in unserem Leben spielt, das ist nun mal eine Tatsache.

Könnte man sagen, weil Israel sich stark auf den Holocaust bezieht, zieht die Gesellschaft daraus eine Art moralische Rechtfertigung, Konflikte ausschließlich kriegerisch anzugehen? Oder anders: Versucht Israel in ausreichendem Maß eine friedliche Lösung zu finden?

Ich war Panzeroffizier auf den Golanhöhen 1973 im Jom-Kippur- Krieg, ich wurde in diesem Krieg auch verletzt. Ich habe viele Freunde verloren und wenn mit mir über Krieg und Schlachtfelder gesprochen wird, dann hat das mit dem Holocaust überhaupt nichts zu tun, sondern mit meinen persönlichen Erfahrungen. Wenn es um einen gewaltsamen Konflikt geht, gibt es verschiedene Meinungen darüber, wie das Problem am besten gelöst werden kann. Ich glaube, dass in Israel und auch in den Nachbarländern klar geworden ist, dass diese Konflikte nicht militärisch gelöst werden können. Aber das heißt noch lange nicht, dass wir auf unser Selbstverteidigungsrecht verzichten. Ich bin in Ashkelon groß geworden, einer Stadt unweit des Gazastreifens. Die Schule, in der ich gelernt habe, dass man friedliche Lösungen suchen soll, dass Koexistenz die beste Lösung in allen Konflikten ist, diese Schule wurde von einer Rakete getroffen, die aus dem Gazastreifen abgefeuert wurde. Abgefeuert von Leuten, die von einem Zusammenleben nichts wissen wollen. Und da müssen wir uns schon verteidigen dürfen.

Aber wie schaut dann die Lösung aus?

Wie löst man einen gewaltsamen Konflikt? Als Israeli habe ich oft den Vorwurf gehört, wir Juden wären doch selbst Opfer gewesen und müssten anders vorgehen. Da sage ich aber schon: Auschwitz und Dachau waren nicht als eine Erziehungsanstalt für das jüdische Volk gedacht. Meine Großmutter, die auch in Auschwitz war, hat mir immer gesagt, „Ich will mit den Deutschen nichts mehr zu tun haben. Ich kaufe keine deutsche Ware, ich fahre nicht nach Deutschland, ich will sie einfach nicht sehen.“ Meine erste Aufgabe als Diplomat führte mich nach Bonn am Rhein. Sie hat mich zu sich gerufen und gesagt: „Du weißt, wie ich zu Deutschland stehe, daran kann man nichts mehr ändern. Ich war in Auschwitz, aber du jetzt, als ein gebürtiger Israeli zweiter Generation, ich finde es genau richtig und gut, dass du jetzt nach Deutschland gehst, um die Brücken wieder zu schlagen, damit die Zukunft nicht mehr so wird, wie ich die Vergangenheit erlebt habe.“ Ich glaube, dass viele Juden, die in Israel geboren sind, genauso denken. Nur werden wir uns weiterhin verteidigen, weil wir es tun müssen, und gleichzeitig werden wir versuchen, den Dialog und den Frieden zu erreichen. Das ist genau das Thema, das für uns Israelis von existenzieller Natur ist. Als Offizier habe ich auf den Golanhöhen viele Freunde meiner Militäreinheit, Freunde meiner Generation verloren. Dann wurde ich Diplomat und hatte das Privileg, bei fast allen Kapiteln des Friedensprozesses dabei zu sein. Zeitweilig war ich Mitarbeiter von Yosef „Yossi“ Beilin, des Initiators der Oslo-Gespräche, und ich habe mich bemüht, nicht nur für mich oder für uns Israelis, sondern für alle Menschen im Nahen Osten Frieden zu erreichen. Wer wie ich aus einem Panzer geschossen hat, weiß genau, was geschieht, wenn ein anderer Panzer getroffen wird. Ob da jetzt ein Israeli drinnen sitzt oder ein Syrer, das macht keinen Unterschied, nicht für die Person, nicht für seine Mutter in Damaskus oder in Tel Aviv. Deswegen war ich froh, dass ich die Gelegenheit bekam, beim Friedensprozess mitzumachen. Leider gab es bis jetzt mehr Enttäuschungen als Erfolgserlebnisse, aber wir haben die Hoffnung nicht aufgegeben. Wir versuchen unser Bestes, obwohl es andere in der Region immer noch vorziehen, in einem Panzer zu sitzen.

Was sind Ihre persönlichen, familiären Wünsche?

Mein Vater war schon vor dem Zweiten Weltkrieg im Heiligen Land, ging als Freiwilliger in die jüdische Brigade der Englischen Armee. Er kämpfte gegen Rommel, in Nordafrika, in Italien, später kam er als Besatzungssoldat nach Köln. Als englischer Besatzungssoldat wurde er 1946 entlassen, daraufhin ging er nach Tel Aviv zurück und kämpfte zwei weitere Jahre gegen die Engländer im Heiligen Land, um die Unabhängigkeit zu erlangen. Dann kam der Krieg mit all unseren arabischen Nachbarn und er wurde wieder Soldat, diesmal in der Israelischen Armee. Er hoffte so sehr, dass sein Sohn nicht mehr kämpfen würde müssen. Das hat sich leider nicht erfüllt. Dann war es an mir zu hoffen, dass meine Söhne nicht mehr kämpfen bräuchten. Doch auch sie mussten Israel verteidigen. Jetzt gilt all unser Wünschen der Hoffnung, dass unsere noch nicht geborenen Enkelkinder keinen Krieg mehr erleben werden. Das wäre so wichtig, nicht nur für uns, sondern für alle Menschen in Israel und der gesamten Region.

Aviv Shir-On wurde am 31. Oktober 1952 in Israel geboren. Seine Frau Arnona hat er auf der Hebräischen Universität von Jerusalem kennengelernt, wo er Internationale Politikwissenschaft studierte. Seit 1978 ist er Diplomat, er war unter anderem in Washington, Bonn und Bern stationiert. Von 1997 bis 2000 amtierte er als Pressesprecher des Israelischen Außenministeriums. Er hat an mehreren internationalen Friedensgesprächen teilgenommen. Arnona und Aviv Shir-On haben drei erwachsene Söhne, von denen zwei in New York leben. Der Jüngste hat soeben seinen Wehrdienst in Israel abgeschlossen

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