Auf dem Weg ins Mittelalter

Orthodoxe Juden in Israel versuchen immer wieder, Frauen aus der Öffentlichkeit zu bannen. Die Publizistin und Menschenrechtsaktivistin Anat Saragusti erklärt, was die Frauenbewegung dagegen unternimmt.
Von Barbara Tóth (Interview)

NU: Frau Saragusti, wenn man Zeitungsberichten glauben darf, dann sind orthodoxe Juden in Jerusalem gerade dabei, Frauen aus dem öffentlichen Leben zu drängen: Busse mit eignen Sitzplätzen für Männer und Frauen werden geschaffen, es gibt Gehsteige, die für Männer reserviert sind, eigene Warteräume in Spitälern und Werbeanzeigen ohne Frauen. Sind das übertriebene Darstellungen oder hat die israelische Gesellschaft wirklich ein Problem?

Saragusti: Leider sind das richtige Beschreibungen der Realität in Israel. In der Tat geht es schon einige Jahre so. Es ist schwer zu sagen, wann das Ausschließen von Frauen aus dem öffentlichen Leben begonnen hat. Das Interessante ist, das vor einigen Jahren die Orthodoxie den Obersten Gerichtshof angerufen hat, um eine Erlaubnis für die Trennung von Männern und Frauen in öffentlichen Bussen zu bekommen. Als Begründung führten sie an, dass die Segregation eine kulturelle Angelegenheit ihrer Gemeinschaft sei, von ihr gebraucht und gewünscht werde und daher als kollektives Recht auch eingefordert werden kann. Der Gerichtshof gestattete ihnen diese Geschlechtertrennung, aber nur auf freiwilliger Basis und nur auf jenen Buslinien, die mitten in die orthodoxen Vierteln führen. Aber nach und nach begannen die Orthodoxen, auch andere Buslinien zu benutzen, auch solche, die in nicht orthodoxe Vierteln führen, und sie forderten auch dort ihr Recht auf separate Platzierung ein. Das ist ein Aspekt.

Bis es zu den ersten Konflikten kam, die auch in Europa und den USA Schlagzeilen machten.

Genau. Als ein Orthodoxer einem acht Jahre alten Mädchen ins Gesicht spuckte, weil sie im religiösen Sinne nicht höflich genug gewesen sei, explodierte die Geschichte. Das ganze passierte in Beit Shemesh, einer kleinen Stadt nahe Jerusalem vor einigen Monaten. Channel 2 News brachte dazu eine große Story im Freitagnachtmagazin, das Echo von Politikern, Aktivisten und der Öffentlichkeit war groß. Es gab mehrere Demonstrationen in der Stadt gegen diesen Akt und die Trennung von Frauen und Mädchen im Generellen. Ein andermal protestieren Mitglieder der Jerusalemer Stadtregierung und andere gegen die Verbannung von Frauen von Werbetafeln in orthodoxen Vierteln, die von den Orthodoxen eingefordert worden war. Seit damals ist die Öffentlichkeit für dieses Thema sensibilisiert, es gibt jetzt eine Koalition gegen die Ausschließung von Frauen, einen wöchentlichen Statusbericht dazu und jede Menge Aktionen vor Ort und auf Strategieebene. Das Problem ist, dass die Verbannung von Frauen aus der Öffentlichkeit aus Gründen des Respekts vor religiösen Gefühlen bereits weit vorangeschritten ist. Es passiert in Armeeeinheiten, bei öffentlichen Veranstaltungen, an vielen Orten. Und das ist wirklich beunruhigend.

Was kann die neue Regierung gegen diese Segregationstrends machen?

Das Problem mit der alten und der neuen Regierung ist, dass sie Angst vor den religiösen Parteien haben und deswegen nichts Drastisches zu unternehmen wagen, um diese Trends zu stoppen. Jeder, der Premier werden oder die nächste Regierung mitformen will, will die Orthodoxen nicht vergraulen, weil sie ihre Stimmen brauchen. Tzipi Livni war die einzige Politikerin, die die orthodoxen Parteien aus dieser Gleichung ausschloss, sie scheiterte damit, eine säkulare Koalition zu gründen und verlor an Netanjahu.

Frauen sind in Israels Politik nicht sehr präsent, liegt auch das an der Macht der religiösen Parteien?

Dafür gibt es mehrere Gründe. Es gibt manche Parteien, die keine Frauen wählen, das sind die religiösen Parteien. Sie blockieren Frauen ganz einfach als politische Kandidaten. Aber es gibt auch eine gesellschaftliche Verantwortung, die wir nicht beiseite schieben können. Frauen werden nur selten Mitglied von Parteien und politisch dominierten Institutionen. Nur auf lokaler Ebene konnten wir zuletzt einen leichten Anstieg weiblicher Funktionärinnen beobachten. Das könnte ein Weg sein, Frauen auch auf nationaler politischer Ebene präsenter zu machen. Es gibt keine Frauenquoten – nur in wenigen Parteien. Dort sind sie nicht bindend. Es gibt kaum Trainings für angehende Politikerinnen oder Rekrutierungsstrategien. Und dann dürfen wir nicht vergessen, dass unsere Gesellschaft sehr militärdominiert ist. Viele der säkularen oder gemäßigt religiösen politischen Führungspersönlichkeiten waren hochrangige Offiziere. Frauen haben in der Armee nicht die gleichen Aufstiegschancen. Derzeit sind fünf von acht Mitgliedern in unserer kleinen Sicherheitsregierung ehemalige Armeegeneräle. Eine Armeekarriere rechnet sich also.

Netanjahu hat angekündigt, die Zivilehe einzuführen. Wie würde das das Leben der Frauen in Israel konkret verändern?

Das ist ein Schlüsselthema in unserem Privatleben. Mindestens 300.000 Menschen können nicht heiraten, weil sie nicht als Juden anerkannt sind, nach den Regeln der Halacha – und es nicht die Möglichkeit gibt, standesamtlich zu heiraten. Viele säkularen Paare wollen nicht den religiösen Weg der Ehe gehen, weil sie Angst vor Geschlechterdiskriminierung haben, vor allem, wenn es um die Scheidung geht. Das Rabbinatsgericht schickt Frauen durch die Hölle, wenn sie eine Scheidung wollen, und es bevorzugt immer den Mann. Frauen müssen ihre Rechte und Ansprüche aufgeben, damit sie die Scheidung kriegen. Es gibt Fälle, wo es Jahre dauert, bis die Sache durch ist, wenn die Scheidung einmal vor dem Rabbinatsgericht gelandet ist.

Welche Rolle spielt die Frauenrechtsbewegung in Israel?

Sie ist sehr lebendig, wir kämpfen gegen die Frauensegregation im orthodoxen Umfeld, wie schon beschrieben, aber auch gegen Frauenbenachteiligung im staatlichen Bereich, der Armee. Wir haben schon einiges im Bereich des Arbeitslebens und der Einkommensgerechtigkeit erreicht, wir rufen immer wieder den Obersten Gerichtshof an, wir fördern die Solidarität mit Frauen in schlechtbezahlten Berufen, mit alleinerziehenden Müttern. Es gibt Forschungsprojekte, Medienprojekte und Homepages zu diesen Themen. Das Wichtigste ist sicherlich, dass die Fälle von Diskriminierung oder Ausschließung von Frauen aus dem öffentlichen Leben viel Aufmerksamkeit bekommen haben, wir stehen ganz hoch oben auf der öffentlichen und medialen Agenda, und das gibt uns die Möglichkeit, immer wieder über den Status von Frauen zu sprechen.

Aber wie kann die Frauenbewegung in die Orthodoxie hinein agieren, wie kann sie die Frauen dort erreichen?

Auch die orthodoxe Gemeinschaft durchläuft einen sehr interessanten Prozess der Feminisierung. Es gibt starke Kräfte innerhalb dieser Gruppen, die auf mehr Gleichstellung drängen. Das sind sehr langsame Prozesse, sehr tiefgreifende, und sie haben mit viel Gegendruck und Antagonismen zu kämpfen, aber dennoch können sie nicht ignoriert werden. Ich glaube aber, dass die aktuellen Fälle von Frauenverbannung aus der Öffentlichkeit diese inner-orthodoxe Feminisierung wieder zurückwerfen. Die Gemeinschaftsführer, die Rabbiner, sind alarmiert und versuchen, ihre Tradition zu schützen und zu erhalten. Logischerweise wehren sie sich heftig gegen jeden Hauch von Feminisierung, Säkularisierung oder Modernisierung. Es gibt ein paar bürgergesellschaftliche Initiativen religiöser Frauen, die versuchen, Frauen zu stärken und zu ermächtigen. Nicht zu unterschätzen ist auch, dass es die Frauen sind, die in der Orthodoxie aus dem Haus gehen, um zu arbeiten, während ihre Ehemänner jeden Tag in die Jeschiwot lernen gehen. Orthodoxe Frauen sind also mehr in Kontakt mit der Außenwelt, sie müssen realistischer sein, sich mit dem Leben konfrontieren und sie lernen dadurch, Managerinnen zwischen diesen beiden Welten zu sein, der säkularen Welt und ihrer Gemeinschaft. Es gibt auch orthodoxe Frauenführerinnen, die hin und wieder in der israelischen Frauenbewegung mitmachen. Unsere Bewegung ist sehr kooperativ, wir führen Kampagnen als offenen, koalitionären Prozess, damit es offene Kanäle gibt zwischen den verschiedenen Gesellschaftsgruppen. Agenda, die Organisation, die ich führe, veranstaltet derzeit etwa spezielle Medien- und Kommunikationsseminare für orthodoxe Frauen. Wir bringen ihnen bei, wie sie Mainstreammedien nutzen können, um Dinge zu verändern. Wir organisieren auch Treffen von Journalistinnen, die in großen, nationalen Medien arbeiten, mit Kolleginnen aus religiösen Medien. Diese Runden sind sehr interessant – und meistens finden sich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede.

Anat Saragusti ist Juristin und hat lange Zeit als Journalistin gearbeitet. Seit dem Jahr 2008 ist sie Geschäftsführerin von Agenda, einer NGO, die sozialen Bewegungen in Israel kostenlose Mediendienste zur Verfügung stellt. Sie ist Dozentin für Medien und aktiv in verschiedenen Menschenrechtsorganisationen. Anat Saragusti ist Vorstandsmitglied der Association for Civil Rights in Israel, Gründungsmitglied der Women Lawyers for Social Justice und Gründungsmitglied der International Women Commission for Just and Sustainable Peace between Israel and the Palestinians.

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