„Auch Juden wissen oft zu wenig übers Judentum“

Theodor Much im Gespräch mit Andrea Schurian. ©Nathan Spasic

Facettenreich, informativ und humorvoll macht Theodor Much auf dreihundert Buchseiten die „Faszination Judentum“ nachvollziehbar. Es sei ein All-Inclusive-Buch für Juden und Nichtjuden gleichermaßen, sagt der in Israel geborene Gründungspräsident der jüdisch-liberalen Gemeinde Or Chadasch Wien.

Eigentlich klar, dass man Theodor Much für ein Gespräch am ehesten im Gemeindezentrum von Or Chadasch, der liberalen jüdischen Gemeinde Wiens, in der Robertgasse im zweiten Bezirk antreffen kann: Schließlich war es nicht zuletzt seiner Beharrlichkeit, seiner Begeisterung und seinem Engagement zu verdanken ist, dass es Or Chadasch in Wien gibt. In der Schweiz war er erstmals in Berührung mit dem Reformjudentum gekommen. Das Interesse war geweckt, das sprichwörtliche Licht ging ihm allerdings erst viele Jahre später auf, als er 1989 zu einer Hochzeit in einer Londoner Reformsynagoge eingeladen – und „kolossal beeindruckt“ war. Vor dem Rückflug setzte er sich in den Green Park, zufällig lag auf der Parkbank The Jewish Chronicle. „Ich blätterte darin und stieß auf den Artikel: ,Which Judaism is authentic?ʼ von Sindney Brichto, einem berühmten liberalen Rabbiner. Darin erklärte er theologisch, dass heute keine Richtung des Judentums von sich behaupten könnte, alleine authentisch zu sein. Und er erklärte auch, warum und wieso verschiedene Gesetze und Traditionen reformiert oder gar außer Kraft gesetzt wurden.“

Zurück in Wien, suchte und fand er Gleichgesinnte, 1990 wurde der Verein für progressives Judentum in Wien gegründet und Theodor Much dessen erster Präsident. Or Chadasch – was so viel heißt wie Neues Licht – ist die einzige progressive jüdische Gemeinde in Österreich, Mitglied der European Union for Progressive Judaism (EUPJ) und der World Union for Progressive Judaism (WUPJ). Seit vierzehn Jahren ist eine ehemalige Druckerei Heimstatt von Or Chadasch, 2017 übernahm Lior Bar-Ami das Rabbinat, unter seinen sechs Vorgängern waren auch zwei Rabbinerinnen, Eveline Goodman-Thau und Irit Schillor.

Judentum ist im wichtig, sagt Theodor Much, geboren 1942 in Tel Aviv, lange Jahre Primarius der Hautambulanz des Hanusch-Krankenhauses und Autor mehrerer theologischer und medizinischer Sachbücher sowie satirischer Essays – und Reformjudentum ist ihm Herzensangelegenheit. In seinem jüngsten Buch, Faszination Judentum: Grundlagen–Vielfalt–Antijudaismus, vermittelt er Grund- und Spezialwissen zum Judentum, schreibt über die Bedeutung der Halacha, über Feste, Riten, zum Status der Frau im Judentum, Jenseitsvorstellungen, über Gebete, medizinisch-ethische Fragen, über Zionismus, Antijudismus und Antisemitismus.

NU: Ihr Buch ist spannend, informativ, theologisch aufschlussreich, auch sehr humorvoll. An wen richtet es sich: an Juden oder Nichtjuden?

Es ist ein All-Inclusive-Buch für Nichtjuden ebenso wie für Juden. Denn nicht nur Christen, auch Juden wissen oft viel zu wenig übers Judentum, wie übrigens auch meine Eltern, obwohl sie zwanzig Jahre in Israel lebten. Mein Vater war ein überzeugter Zionist, die Eltern gingen bereits 1937 nach Israel und lebten zwanzig Jahre dort. Sie waren typische Jeckes, haben die Sprache nie gelernt, ihre gesamter Freundeskreist hat Deutsch gesprochen. Ich habe erst im Kindergarten und auf der Straße Ivrit gelernt. Doch als ich dreizehn war, haben die Eltern beschlossen, Israel zu verlassen: Die Mutter litt unter der Hitze, die Kaffeehäuser fehlten ihnen.

Unser Schwerpunktthema ist „Jüdische Diaspora heute“: Würden Sie sich als Diaspora-Juden bezeichnen?

Nein, nicht wirklich, obwohl ich als in Israel Geborener ja ein echter Sabre bin. Eine Zeitlang wollte ich allerdings schon wieder zurück, habe sogar die Facharztprüfung für Israel gemacht. Aber ich weiß gar nicht, ob ich mich heute noch dort wohlfühlen würde. Ich besuche Israel immer wieder, weil ich das Land liebe und Freunde dort habe. Aber meine eigene Familie ist hier.

Sie behandeln in Ihrem Buch auch Antijudaismus, Antisemitismus, Antizionismus und wie eins ins andere übergeht. Erleben Sie persönlich Antisemitismus?

Much: Als ich als Dreizehnjähriger aus Israel nach Wien kam, durchaus. Ich habe 1963 maturiert, von zwanzig Mitschülern im Gymnasium im 19. Bezirk waren gewiss zehn antisemitisch. Auch im Stadtpark, wo ich damals Fußball gespielt habe, erfuhr ich Antisemitismus. Aber heute? Kaum. Die Frage ist ja, was man unter Antisemitismus subsummiert. Ist jede blöde Bemerkung bereits antisemitisch? Ich würde sagen, es gibt zehn bis 15 Prozent Antisemiten; und dann gibt es viele, die Vorurteile haben, die aber aus Unwissenheit entstehen. Zum Beispiel der rein theologische Begriff des „Auserwähltseins“: Man wirft uns Juden oft vor, wir würden sagen, dass wir auserwählt sind. Doch dieser Begriff hat nichts mit „besser zu sein als andere Menschen“ oder Arroganz zu tun. Auch das Christentum beansprucht im Neuen Testament die Auserwähltheit für sich. Im Neuen Testament steht an drei Stellen: „Wir sind das auserwählte Volk in der Nachfolge Israels“.

Eine Frage in Ihrem Buch lautet: Wer ist Jude, was ist Judentum?

Es gibt keine hundertprozentige Definition zum Thema „was ist Judentum?“. ,Volkʼ definiert sich durch gemeinsame Sprache und gemeinsame Kultur, das stimmt nicht für alle, ganz bestimmt nicht für orientalische oder indische Juden. ,Religionʼ trifft nur teilweise zu, denn es gibt unter Juden viele Atheisten oder Agnostiker. ,Schicksalsgemeinschaftʼ trifft es auch nicht, denn amerikanische Juden haben ein anderes Schicksal als europäische Juden. Am treffendsten finde ich ,Traditionsgemeinschaftʼ, denn man kann auch nicht religiös sein, aber trotzdem viele Traditionen gerne haben und sogar leben.

Sie sind im progressiven Judentum engagiert. Was sind die größten Unterschiede zu den orthodoxen oder konservativen Juden?

Zwischen Konservativen und Progressiven existiert kaum ein Unterschied, auch im konservativen Judentum gibt es zum Beispiel Rabbinerinnen. Aber es gibt unter anderem unterschiedliche Auffassungen darüber, wer die hebräische Bibel schrieb. Die Orthodoxie meint, dass Moses die gesamte Thora und die mündliche Lehre quasi wortwörtlich ,diktiertʼ bekam. Wir wissen aber aufgrund wissenschaftlich-historischer Analysen, dass es über die Jahrhunderte verschiedene Verfasser gibt. Leider wissen sehr viele Menschen – auch Juden – wenig oder gar nichts über das progressive Judentum, obwohl es weltweit bereits die zahlenmäßig größte Strömung ist. Wir sind kein Judentum light, natürlich achten auch wir die Halacha, aber stets im Bewusstsein, dass das jüdische Gesetz sich seit Urzeiten immer wieder weiterentwickelte und notwendige Reformen zuließ. Auch dass Frauen zur Tora aufgerufen werden können, kann man theologisch begründen. Leider werden unsere Konvertiten von der Israelitischen Kultusgemeinde nicht als Juden anerkannt, obwohl natürlich auch bei uns mindestens ein Jahr gelernt und vor einem Rabbinatsgericht eine Prüfung abgelegt werden muss. Aber deren Kinder dürfen nicht die jüdische Schule in Wien besuchen, das ist schon sehr diskriminierend. Gleichzeitig sind unsere Beziehungen zur IKG sehr gut und wir verdanken ihr die schönen Räumlichkeiten unserer Synagoge.

Theodor Much
Faszination Judentum
Grundlagen–Vielfalt–Antijudaismus
LIT Verlag, Berlin 2018
352 Seiten, EUR 34,90
E-Book: www.litwebshop.de

Die mobile Version verlassen