Antisemitismus unter dem Aluhut

Im Videoclip „Zurück in die Jewkunft“ reist Martin McFly in die Vergangenheit, um seinem antisemitischen „Doc“ die Fälschung der „Protokolle der Weisen von Zion“ zu beweisen. Das Online-Projekt „Wahrewelle.tv“ versuchte es im Auftrag der deutschen Bundeszentrale für Politische Bildung mit Satire. Foto: ©wahrewelle/bpb

Mit dem Fortschreiten der Covid-19-Krise werden Verschwörungstheorien und Antisemitismus laut. Die Grenze zwischen den beiden Phänomenen verläuft dabei fließend. Obwohl „die Juden“ ebenso wenig die Welt regieren wie Echsenmenschen.

Es erweckt den Anschein eines Naturgesetzes, ist aber keines: Kommt es zu einer Krise oder Katastrophe, wächst der Antisemitismus. Dafür reicht auch eine persönliche Krise, wie der ehemalige FPÖ-Obmann und angeblich geläuterte Antisemit Heinz-Christian Strache demonstriert hat. Im Zuge der Durchsuchung seines Wohnsitzes wurde ein selbstgezeichnetes Netzwerk-Organigramm gefunden, mit welchem der ehemalige Vizekanzler die Verschwörer hinter dem Ibiza-Video zu entlarven versuchte: Das Bundesamt für Verfassungsschutz, die niederösterreichische Volkspartei, Oligarchen, Freimaurer und – wie könnte es anders sein? – die IKG stecken hinter dem katastrophalen Ende seiner Politkarriere.

Was in diesem konkreten Fall einer tragischen Komik nicht entbehrt, ist im Allgemeinen jedoch bitterer Ernst. Antisemitismus entspricht in Form und Inhalt seiner jeweiligen historischen Gesellschaft. Und dabei handelt es sich – anders als von der aktuellen Diskussion im Feuilleton nahegelegt – keineswegs um einen überholten Aberglauben aus dem Mittelalter, dem die Leute bedauerlicherweise noch immer anhängen (als wären Antisemiten einfach nicht up to date), sondern Antisemitismus verfügt in seiner jeweiligen Zeit über theoretische und praktische politische Funktionen. Er unterstützt nach Andreas Peham (DÖW) die Gemeinschafts- und Identitätsbildung, stiftet Sinn und Pseudo-Erkenntnis, stärkt reale Machtstrukturen mittels der Verlagerung und Mobilisierung rebellischer Gefühle gegen „die Juden“ und legitimiert den dabei erzeugten Hass.

Alles Übel auf Erden

Der Antisemitismus der Moderne ist also mitunter der Versuch, die aus ihr gewachsene komplizierte Gesellschaft einfach zu erklären, er beantwortet das Versagen des Logos mit dem Mythos und stellt seinen Subjekten dabei ein theoretisches Modell bereit, das sie die Welt verstehen lässt: Irgendwo arbeiten im Geheimen boshafte Verschwörer daran, Macht und Reichtum an sich zu reißen. Und für dieses Unterfangen verursachen sie, also „die Juden“ oder Bill Gates, alles Übel auf Erden. Anders als beim Rassismus wird dabei nicht auf das Andere gezielt, sondern auf das Fremde, das Unbekannte, das dem Eigenen eben nicht unterlegen ist, sondern überlegen – eine unbekannte Macht. Es handelt sich, anders als beim Hass gegen andere Minderheiten, nicht um eine autoritäre Aggression nach unten, sondern um eine rebellische Aggression nach oben, die anstelle einer hochkomplexen gesellschaftlichen Struktur die einfache Herrschaft der Juden herbeifantasiert.

Ein konkretes Beispiel, um die Unterscheidung der Ressentiments klarzumachen: Der jüdische Milliardär George Soros wolle aus Hab- und Machtgier Europa zerstören, indem er arme, ungebildete Flüchtlinge nach Europa holt, die dann den Europäern die Jobs, die Sozialhilfe, die Kultur und die Handys wegnehmen. Erschreckenderweise wurde diese antisemitische Verschwörungstheorie, anders als jene der Covid-19-Krise, nicht nur von Aluhut tragenden Internet-„Truthern“ erzählt, sondern auch von europäischen Regierungspolitikern.

Weltherrschaft jetzt!

Diese Erklärungsfunktion des Antisemitismus, die seine Anhängerschaft aus ihrer Ohnmacht und ihrem Unverständnis befreien soll, macht deutlich, wie integral Verschwörungstheorien für dieses Ressentiment sind. In der Umkehrung lässt sich jedoch feststellen, dass Verschwörungstheorien auch ohne Juden auskommen. Doron Rabinovici hält in seinem Sammelband Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte (2019) fest, dass „es bei Antisemitismus nicht nur um Juden geht, sondern um die Feindschaft gegenüber einer komplexen Gesellschaft“.

Die Aufhebung dieser Komplexität ist dabei das Ziel einer jeden Verschwörungstheorie, egal, ob die herbeifantasierten Verschwörer jüdisch sind oder nicht. Das bedeutet, dass jede Verschwörungstheorie strukturell und potenziell antisemitisch ist, dass sich die Denkbewegungen gleichen und das Ziel nur nominal unterschieden wird: Juden, Zionisten, Freimaurer, Illuminaten, Neue Weltordnung, Lobbyisten, Spin-Doktoren, Politbonzen, Silbersteins, Rothschilds, Banker, Echsenmenschen, Börsenhaie, George Soros, Bill Gates, und so weiter. Emmanuel Macron ist nach Harald Vilimsky (FPÖ) gleich alles auf einmal, also „Zentralist, Globalist, ein Diener der Banken und Finanzwirtschaft, er war ja selbst bei Rothschild lange Zeit Investmentbanker.“

Es gilt also mit Vehemenz festzuhalten, dass antisemitische Verschwörungstheorien im doppelten Sinne ohne Juden auskommen: einerseits, weil Juden und Jüdinnen in der Realität nicht die Welt beherrschen und somit nicht an ihrer Schlechtheit Schuld sind, sie also nur als Fiktion, als Phantasma ein Teil der Verschwörung sind; andererseits, weil sich auch dieses Phantasma durch allerlei austauschen lässt.

Noch vehementer gilt es aber festzuhalten, dass jüdische Menschen den Verschwörungstheorien nicht auskommen, da diese in ihrer Praxis für sie zur realen Gefahr werden, was hier keiner weiteren Erklärung bedarf.

Mutationen für Medien

In den Vereinigten Staaten riefen jüngst „White Supremacists“ dazu auf, bei positiven Covid-19-Testergebnissen die eigenen Körperflüssigkeiten in jüdischen Einrichtungen und Geschäften zu versprühen, wie das FBI bekanntgab. Dem voran ging die (nicht nur in besagtem Umfeld verbreitete) Verschwörungstheorie, „die Juden“ hätten das Virus geschaffen, um die Weltbevölkerung zu reduzieren, von den negativen wirtschaftlichen Folgen an der Börse zu profitieren und schließlich einen Impfstoff zu entwickeln, um diesen dann wiederum teuer zu verkaufen.

Ähnliches wurde in regierungsnahen Medien in der Türkei geäußert. In der Tageszeitung Yeni Akit wurde etwa spekuliert, dem in Israel entwickelten Impfstoff würden Stoffe zur Unfruchtbarmachung beigemischt, um die Weltbevölkerung zu reduzieren. Das iranische Staatsfernsehen verlautbarte bereits im März, dass „zionistische Elemente“ eine noch tödlichere Coronavirus-Mutation hergestellt hätten, um diese mit ihren US-Verbündeten gegen den Iran einzusetzen.

Auch in Europa findet man antisemitische Verschwörungstheorien zu Covid-19 in allen Sprachen sowohl im Internet wie auch auf den Straßen – etwa bei den sogenannten „Corona-Demos“, bei denen nicht selten Rechtsextreme den Ton angeben. So wundert es nicht, dass auch ein Bericht der „Informations- und Beobachtungsstelle Antisemitismus“ (iba), der NU vorliegt, auf antisemitische Vorfälle in Telegram-Chats österreichischer „Corona-Rebellen“ hinweist.

Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der deutschen Bundesregierung, warnte indes vor dem „krudesten Antisemitismus“, der sich in diesen Krisenzeiten schnell auf den Social-Media-Plattformen verbreite und rief dazu auf, in Anlassfällen einzuschreiten und die Urheber der Theorien zu melden.

Kein Ende in Sicht

Es ist zu bezweifeln, dass das Melden antisemitischer Verschwörungstheorien auf Facebook und Co. als Gegenmittel taugt, obschon es im Einzelfall helfen kann. Das Internet ist unendlich, es bedeutet die vermutlich größte Revolution der Informations- und Kommunikationstechnologie seit der Erfindung des Buchdrucks. Jeder noch so bedeutungslose Wahnsinnige kann eine eigene TV-Show, ein eigenes Nachrichtenportal, einen eigenen Radiopodcast produzieren und damit Verhetzung und Desinformation in einer Form, die noch vor kurzem undenkbar war. Dem frühen (sowie späten!) Erlernen eines quellenkritischen Umganges mit Onlinemedien sollte dementsprechend höchste Priorität beigemessen werden.

Vielleicht ein gutes Konzept für ein Zoom-Webinar?

Die mobile Version verlassen