Wie es Juden mit dem Sport halten

© KURIER/Gerhard Deutsch

Der erste Oberrabbiner von Israel, Abraham Isaak Kook, war ein großer Tora-Gelehrter, hatte aber auch Interesse am modernen Leben. Zu seiner Zeit wurde entschieden, dass am Schabbat in Israel keine offiziellen Fußballspiele stattfinden dürfen. Bei dieser Gelegenheit erklärte ein Trainer dem Oberrabbiner, der vorher keine Ahnung von Fußball hatte, die Regeln. Nach längerer Nachdenkpause sagte der Oberrabbiner, er habe zwei Fragen. Die erste ist: Wenn ein Spieler einen Ball bekommt, warum schießt er ihn dann sofort wieder weg? Die zweite: Wenn die Mannschaft, die am meisten Tore geschossen hat, gewinnt: Warum kommt dann die Heim-Mannschaft nicht eine Stunde früher und schießt viele Tore? (Hier lacht das verständige Publikum!)
Doch nun zum früheren Oberrabbiner von Wien. Mein seliger Vater war ausgesprochen unsportlich. Er hat aber gemerkt, dass ich mich sehr für Sport interessiere. Ganz selten bin ich auch auf ein Fußballmatch gegangen, doch da hat er mich nie begleitet. Als dann verschiedene Sportarten im Fernsehen übertragen wurden, setzte er sich manchmal zu mir. Er hat Interesse vorgetäuscht, um mit mir Quality-Time zu verbringen. Mit der Zeit hat er auch erfunden, dass er in seiner Jugend ein großer Sportler war. Und da ich wusste, dass er nicht sehr beweglich war, hat er besonders betont, was für ein hervorragender Skispringer er gewesen ist.
Im Alter von 17 bis 21 Jahren habe ich selbst in jüdischen Fußballmannschaften mitgespielt. Es gab in der Wiener Gemeinde mehrere Jugendvereine und Jugendbewegungen. Ich habe natürlich bei der Bnei Akiwa, also bei der religiösen Jugend, mitgespielt. Es gab auch Haschomer Hatzair, eine linke Gruppe, die jüdischen Hochschüler und Hakoah. Hakoah und Hochschüler waren meist älter und sportlicher als wir; und so wurde jedes Unentschieden bereits als großer Sieg gefeiert. Manche der Spieler in anderen Mannschaften waren vielleicht nicht beschnitten, aber in der Bnei Akiwa spielten ausschließlich jüdische Buben mit. Besonders tragikomisch war, dass die meisten Bnei Akiwa-Spieler mit Käppchen auf dem Kopf spielten, was während des Matches immer wieder zu lustigen Szenen führte, wenn die Kippa runterfiel und der Spieler entscheiden musste, was ihm wichtiger war: die Kappe aufzuheben oder den Ball nach vorn zu passen. Ich habe mich meistens für den Ball entschieden, und wenn er bei einem anderen Spieler war, habe ich die Kippa wieder aufgehoben.

Sieben Meter für die Kippa

Apropos: Es gibt eine Geschichte, wo das Schicksal der Juden in Schwebe und es daher notwendig war, einige Verdienste von Juden beim lieben Gott zu deponieren. Eines dieser Verdienste geht so, dass ein berühmter Rabbi dem Ewigen eine Kippa eines gottesfürchtigen Juden als Beweis der Treue darbot. Natürlich wusste dieser, was es mit dieser Kippa auf sich hatte, aber Ihr, liebe Leser, wisst es nicht.
In einem Gulag waren nicht nur Juden inhaftiert und mussten dort schwere körperliche Arbeit leisten. Wenn einer der Insassen sich „daneben benahm“, gab es eine besonders grausame Strafe. Zwanzig oder mehr Wärter stellten sich mit Holzprügeln in der Hand in zwei Reihen auf, und der zu Bestrafende musste durch dieses Spalier laufen. Dies war auch eine „sportliche Leistung“ – auch wenn man sehr schnell lief, kassierte man heftig Prügel. Einmal musste ein Jude diese Tortur auf sich nehmen. Er war schon fast ohnmächtig, als er merkte, dass seine Kippa einige Meter hinter ihm auf den Boden gefallen war. Obwohl es lebensgefährlich war, drehte der Jude um, rannte sieben Meter zurück, hob die Kippa auf und versuchte neuerlich, ans Ende der Schlägertruppe zu gelangen.
Version eins: Er war monatelang im Spital.
Version zwei: Er hat es nicht überlebt.
Als Rabbiner – und nicht als Sportler – möchte ich erwähnen, dass es vom Religionsgesetz, also von der Halacha, her richtiger gewesen wäre, wenn der Jude, um sein Leben zu schützen, nicht zurückgelaufen wäre. Trotzdem war diese Kippa einer der Beweise, der dazu führte, dass das Verhängnis über die Juden vom Ewigen abgewendet wurde.

Auf der Siegerseite

In Wien waren quasi alle jüdischen Burschen Anhänger der Austria. Mit ungefähr neun Jahren schien es mir langweilig, wenn alle Fans des gleichen Klubs sind und habe lauthals kundgetan, dass ich ein Rapidler sei. Das hätte ich nicht tun sollen! Noch heute, sechzig Jahre später, wird mir dies von vielen Juden zum Vorwurf gemacht.
Ich hatte keine Ahnung, wer Rapid oder Austria war, ich wollte nur, wie es bei mir oft vorkommt, aus der Reihe tanzen. Das ist auch eine sportliche Übung! Man wollte mich übrigens auch zu Dancing Stars einladen, aber ich habe abgelehnt: Nicht nur, weil es Freitag Abend stattfindet, sondern auch aus anderen Gründen.
Heute bin ich nur mehr Anhänger ausländischer Mannschaften und auch da nur von denen, die den Europacup gewinnen. Ich bin gerne auf der Seite der Sieger. Trotzdem ist es mir zu langweilig, Matches anzusehen, die neunzig Minuten oder noch länger dauern. Da gibt es jetzt die wunderbare Einrichtung, dass in der Spielpause und nach dem Schlusspfiff im Fernsehen die wichtigsten Szenen des Spiels zusammengefasst werden. Das reicht mir völlig.

Auswärtstore zählen nicht

Außerdem habe ich seit zirka dreißig Jahren eine Idee, wie man den Fußballsport fairer gestalten könnte und freue mich, dass inzwischen auch schon diskutiert wird, wie man „meine“ Idee verwirklichen könnte. Wenn zwei internationale Mannschaften im Europacup gegeneinander antreten – zum Beispiel Manchester gegen Barcelona – dann gibt es zwei Spiele, das Hin- und das Rückspiel. Man zählt die Ergebnisse beider Spiele zusammen, die Mannschaft, die mehr Tore geschossen hat, steigt auf. Allerdings ergibt die einfache Addition oft, dass beide Mannschaften gleich viele Tore geschossen haben. Und daraus folgt das Problem, welche Mannschaft aufsteigen darf. In alten Zeiten wurde das oft durch ein drittes Spiel oder Elferschießen entschieden.
Dann kam ein Verrückter auf die Idee, dass, wenn Mannschaft A zu Hause 2:1 gewinnt und die Mannschaft B zu Hause 3:2 gewinnt – beide also insgesamt vier Tore geschossen haben –, die Mannschaft aufsteigt, die auswärts mehr Tore geschossen hat.
Hier blitzt mein früheres Mathematikstudium heraus: Denn das ergibt (nicht nur) meiner Meinung nach weder mathematisch noch aus sportlicher Perspektive einen Sinn. Die Erklärungsversuche will ich gar nicht erwähnen, weil sie genauso verrückt sind wie diese Regel selbst.
Meine Idee wäre, zur alten Regelung zurückzukehren und bei gleich vielen Toren beider Mannschaften, egal ob zu Hause oder auswärts erzielt, die Entscheidung in anderer Form herbeizuführen: sei es durch ein drittes Match oder durch Elferschießen. Wie immer würde ich mich freuen, wenn ich Recht behalten würde…

Und jetzt zur nächsten Generation: Mein Sohn Kivi ist sehr sportlich. Er hat schon in Wien sehr gut Fußball gespielt und lief mit ungefähr zwanzig Jahren einen Halb- oder sogar Ganzmarathon. Er hält die sportliche Tradition hoch und hat auch schon seinen zweijährigen Sohn zu einem Baseballspiel ins Stadion in New York mitgenommen.
Kivi war und ist auch sonst ein guter Kerl und arbeitete im Sommer in Camps für behinderte Kinder als Councelor. Diese Kinder waren meistens so schwer krank und behindert, dass das Verhältnis zwischen Councelor und Kindern eins zu eins war, das heißt: Jedes Kind brauchte einen Betreuer. Zum Teil musste Kivi seinen Schützling, ein krebskrankes Kind, auf dem Camp herumtragen, weil es so schwach war. Als das Kind starb, war Kivi eine Woche lang nicht ansprechbar.
In letzter Zeit ist es in verschiedenen Ländern oder Organisationen üblich, Halb-, Viertel- und Ganzmarathons zu veranstalten, um auf das Schicksal Behinderter und Kranker aufmerksam zu machen und Fundraising zu betreiben. An ihnen nimmt auch Kivi teil. Womit wieder bewiesen wäre, dass Sport und Judentum kein Widerspruch sind.

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