Zu Hause oder im Exil?

Wie unterschiedlich Migrations-, Flucht- und Diasporageschichte erzählt werden kann, zeigt das Beispiel irakischer Jüdinnen und Juden in Israel. Nicht nur ihr Verhältnis zum Irak, sondern auch zu Israel ist von unterschiedlichen Narrativen geprägt. Vergangenheit und Gegenwart des Irak spiegeln sich darin ebenso wie der Nahost-Konflikt.
Von Thomas Schmidinger

„Ich bin Iraker. Ich bin im Irak geboren. Aber ich bin auch Israeli“, wiederholt Avraham Kehila in seinem kleinen Büro im Jerusalemer Vorort Gilo. Hier im Untergeschoß einer kleinen Synagoge befindet sich das „Haus der Zionistischen Bewegung im Irak“.

Der beinahe Achtzigjährige war bereits als Jugendlicher in der zionistischen Bewegung des Irak aktiv und wollte hier seinen Kollegen von einst ein Denkmal setzen und zugleich einen kleinen Raum der Erinnerung an den Irak schaffen. Avraham Kehila war zwölf Jahre alt, als er in Baghdad 1941 die Farhud erlebte, ein Ereignis, das wohl nicht unwesentlich dazu beigetragen hat, dass sich der Jugendliche schließlich einer zionistischen Gruppe anschloss. Kehila kann sich noch genau daran erinnern, wie die Anhänger Rashid Ali al-Gaylanis die jüdischen Häuser zerstörten und das jüdische Viertel stürmten: „Ein muslimischer Nachbar hat uns vor dem marodierenden Mob beschützt. Er hat meinem Vater angeboten, dass wir zu ihm kommen könnten“, erzählt der Mann in Jerusalem: „Mein Vater hat den Muslimen aber nie ganz getraut und deshalb hat er unter seiner Jacke ein Messer mitgenommen, als wir zu diesem Nachbarn gingen. Der Nachbar war dann aber recht nett zu uns und hat uns damit vielleicht das Leben gerettet.“ Genauso gut kann sich Avraham Kehila aber daran erinnern, dass die Söhne des Hausherrn in die jüdischen Häuser gingen, um zu plündern, während seine Familie zugleich beschützt wurde: „Das war schon etwas absurd, aber ich werde einfach nicht vergessen, dass sie die ganze Zeit über Möbel und alles Mögliche aus den jüdischen Häusern herangeschleppt haben, währen sie uns zugleich bei sich beschützt haben.“

Avraham Kehila wurde schließlich in einer zionistischen Jugendgruppe aktiv. „Wir jungen Juden gingen völlig unterschiedlich mit dem Schock um, den die Farhud bei uns hinterlassen hat. Während die einen in der Kommunistischen Partei ihr Glück suchten und nur auf eine Gleichstellung im Rahmen einer sozialistischen Revolution hofften, hielten ich und meine Freunde das für eine Illusion. Wir sahen keine Zukunft für die jüdischen Gemeinden im Irak. Deshalb haben wir uns der zionistischen Jugendbewegung angeschlossen.“

Einer, der seine Hoffnung auf die Emanzipation der irakischen Juden im Rahmen einer allgemeinen Emanzipation setzte, war Shimon Ballas, der sich in seiner Jugend der Irakischen Kommunistischen Partei anschloss. Ich war das erste Mal auf Shimon Ballas gestoßen, als ich den Film „Forget Baghdad“, von Samir, einem Schweizer Filmemacher irakischer Herkunft, gesehen hatte, in dem er vier irakische Kommunisten, die alle heute als Schriftsteller in Israel leben, porträtiert hatte. Über den Regisseur dieses einmaligen Filmporträts gelang es mir einen Kontakt zu Shimon Ballas herzustellen. In seiner Wohnung in einem Vorort von Tel Aviv erzählte der Schriftsteller und Professor für arabische Sprache und Literatur an der Universität Haifa davon, dass die Rolle der Zionisten in der jüdischen Bevölkerung Baghdads im heutigen Israel maßlos übertrieben würde: „Damals haben sich wesentlich mehr junge Juden den Kommunisten angeschlossen.“ Seine Kritik richtet sich dabei jedoch weniger gegen Avraham Kehila, als gegen die Präsentation der irakisch-jüdischen Geschichte im „Babylonian Jewish Heritage Center“ in Or Yahuda, einem Vorort von Tel Aviv, in dem ein großer Teil der irakischen Juden 1951 angesiedelt worden war.

In einem relativ umfangreichen Museum wird hier die Geschichte der irakischen Juden vom babylonischen Exil 587 v. Chr. bis zur Flucht 1950–1952 beschrieben. Dabei wird die Massenflucht aus dem Irak als Rückkehr aus einem 2.500 Jahr währenden Exil beschrieben, die die irakischen Juden wieder glücklich in ihr Land geführt hätte. Die zionistische Bewegung des Irak wird als Fortsetzung jahrhundertealter Sehnsucht nach Zion geschildert, die mit dem Psalm 137 untermauert wird: „An den Wassern zu Babylon saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. […] Es verdorre meine rechte Hand, wenn ich deiner vergesse, Jerusalem. Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht gedenke, wenn ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein.“

Tatsächlich bildeten die jüdischen Gemeinden zwar eine der ältesten Bevölkerungsgruppen des Irak, allerdings fühlten sich bis in die 1940er Jahre des 20. Jahrhunderts die allermeisten Jüdinnen und Juden als integraler Bestandteil der irakischen Bevölkerung. Zwar entstanden als Antwort auf den anwachsenden arabischen Nationalismus schon früh kleine zionistische Gruppierungen, die überwiegende Mehrheit der irakischen Juden, insbesondere jene des Bürgertums Bagdhads, dachte jedoch nicht im Traum daran nach Palästina auszuwandern. Shimon Ballas: „In diesem Museum wird das so geschildert, als hätten die irakischen Juden nichts anderes zu tun gehabt, als sich nach Jerusalem zu sehnen. Die meisten Juden in Bagdhad hatten aber völlig andere Probleme, als sich auf eine Auswanderung nach Palästina vorzubereiten!“ Ziel dieses Museums wäre es, so der immer noch auf arabisch schreibende Literat, die irakisch-jüdische Geschichte so darzustellen als hätten die Juden im Irak ebenso gelitten wie in Europa: „Das war aber nicht der Fall. Wir haben Jahrhunderte in bestem Einvernehmen mit unseren muslimischen und christlichen Landsleuten gelebt. Erst der Nationalismus hat dieses Einvernehmen zerstört.“

Ohne die Bombenanschläge gegen jüdische Einrichtungen, die im April 1950 begannen, wären wohl kaum so viele irakische Jüdinnen und Juden nach Israel ausgewandert, vermutet Shimon Ballas. Tatsächlich hinderte auch die Forderung der irakischen Regierung, das gesamte Eigentum zurückzulassen, viele wohlhabende Jüdinnen und Juden daran das Land nach der Staatsgründung Israels zu verlassen. Erst die Bomben, durch die in der Masuda Shemtov-Synagoge sogar drei Menschen ums Leben kamen, führten zu jener Massenpanik, bei der 120.000 der rund 130.000 irakischen Jüdinnen und Juden das Land verließen. Die Urheber dieser Bomben wurden bis heute nicht ermittelt und bilden immer noch die Ursache für heftige Kontroversen innerhalb der irakischen Jüdinnen und Juden.

Shimon Ballas ist sich sicher, dass zionistische Agenten Israels selbst die Bomben legten. Aber nicht nur Kommunisten, wie Shimon Ballas, auch einige Zionisten sind sich sicher, dass „ihre Leute“ selbst die Bomben legten, um die Auswanderung zu beschleunigen. Genährt wurden solche Verdächtigungen in der Vergangenheit durch den Umstand, dass 1954 in der nach dem damaligen israelischen Verteidigungsminister benannten Lavon-Affäre israelische Agenten in Ägypten Bombenanschläge gegen US-amerikanische und britische Einrichtungen verübt hatten. Mordechai Ben-Porat, der damalige Hauptorganisator der Auswanderung der irakischen Juden nach Israel, bestreitet diese Vorwürfe vehement. Für Ben-Porat ist der Vorwurf, er und seine Mitarbeiter wären in die Anschläge verwickelt gewesen, „fast wie eine der Ritualmordlegenden“ gegen Jüdinnen und Juden. Der 1923 in Baghdad geborene ehemalige Knesset-Abgeordnete, der nicht nur von irakischen Stellen, sondern auch vom von Uri Avneri herausgegebenen Magazin Haolam Hazeh beschuldigt wurde, hinter den Anschlägen gestanden zu haben, wehrt sich seit den 1950er Jahren gegen die gegen ihn gerichteten Vorwürfe und versuchte seine Unschuld zuletzt in einem umfangreichen Buch über die damalige Emigration und die Anschläge zu beweisen.

Mordechai Ben-Porat ist heute der Vorsitzende des „Babylonian Jewish Heritage Center“. Auf die Kritik Shimon Ballas’ angesprochen, im Museum würden die nichtzionistischen Jüdinnen und Juden völlig ignoriert und die Geschichte umgeschrieben, erklärt mir Mordechai Ben-Porat: „Wir haben mittlerweile ehemalige Kommunisten bei uns im Vorstand und erwähnen auch ihre Opfer.“ Tatsächlich wurden auf einigen Tafeln, die an im Irak hingerichtete Juden erinnern, einige Kommunisten erwähnt. Dass sie Kommunisten waren, kann man dort jedoch nicht nachlesen. Ihre Geschichte bildet im Museum in Or Yahuda bestenfalls eine Fußnote.

Erwähnt werden dabei v. a. die aus politischen Gründen in der Monarchie hingerichteten Juden, die als Kommunisten oder Zionisten gegen die Regierung aktiv waren und deren kommunistischer Teil heute noch als politische Opfer respektiert werden. Spätere Opfer des Baathismus, wie jene völlig unpolitischen Juden, die 1969 nach dem zweiten Putsch der Baath-Partei hingerichtet worden waren, sind nicht mehr Teil dieser Geschichte. Dass nach der großen Auswanderung noch immer eine – wenn auch zunehmend kleiner werdende – Gruppe von Juden im Irak verblieben war, gehört nicht in das dort präsentierte offizielle Geschichtsbild. Trotzdem hat selbst Mordechai Ben- Porat den Irak nie ganz aus den Augen verloren. „Wir haben uns sehr gefreut, dass wir den Sturz Saddam Husseins miterleben durften“, erklärt der 83 Jahre alte und durch Folterungen in einem irakischen Gefängnis schwerhörige Mann: „Dass der Irak nun dermaßen in der Gewalt versinkt, ist aber eine Tragödie, die wir alle niemals erwartet hätten.“

Auch Shimon Ballas verfolgt jeden Tag die Nachrichten aus dem Irak. Er freute sich über den Sturz Saddam Husseins, macht aber die US-amerikanische Besatzungspolitik für die derzeitige Situation mitverantwortlich: „Ich habe nach dem Sturz Saddam Husseins die Möglichkeit einer demokratischen Entwicklung im Irak gesehen. Die amerikanische Politik der letzten drei Jahre hat jedoch den Irak zerstört. Es war ein Fehler die Armee aufzulösen und auf die religiösen und ethnischen Führer zu setzen. Heute stehen wir vor einem Trümmerhaufen der ethnisierten und religiösen Gewalt.“

Wie Shimon Ballas verfolgt auch Avraham Kehila vom „Haus der Zionistischen Bewegung im Irak“ jeden Tag die Nachrichten: „Ich leide sehr mit der irakischen Bevölkerung mit.“ Kehila, der später als Berater des Jerusalemer Bürgermeisters Teddy Kollek und Politiker der Arbeiterpartei aktiv war, hat noch eine ganz persönliche Verbindung in den Irak. Eine Tante, die sich als Siebzehnjährige in einen Muslim verliebt hatte, zum Islam konvertierte und die ganze Zeit über in Baghdad geblieben war, lebt heute noch in der irakischen Hauptstadt. Erst nach dem Sturz Saddam Husseins war es wieder möglich Kontakt zu ihr aufzunehmen. Bei jedem Anschlag muss Avraham Kehila deshalb an seine Verwandten in Baghdad denken. Selbst wenn der Irak bald ein friedliches Land sein sollte, will Avraham Kehila nicht nach Baghdad zurück.

Eine Reise in die alte Heimat würde er aber gerne unternehmen, etwas was er mit Shimon Ballas und Mordechai Ben-Porat gemeinsam hat. Alle drei älteren Herren haben ungeachtet ihrer unterschiedlichen politischen Ausrichtungen immer noch nostalgische Erinnerungen an den Irak. Selbst im von Ben-Porat miterrichteten Museum in Or Yahuda wird man von der Musik von Salima Pasha, einer berühmten irakisch-jüdischen Sängerin, empfangen, der in den 1930er und 1940er Jahren Muslime, Juden und Christen in Baghdad gleichermaßen fasziniert lauschten. In den Kaffeehäusern von Or Yahuda spielen die Männer Domino und in den Restaurants lässt sich wunderbares Shish Kebab verspeisen. Jeden Freitagabend findet in einem Restaurant eine irakische „hafla“, eine Party mit Live- Musik und Tanz, statt. Die älteren Leute hier können alle noch Arabisch und beherrschen oft noch den alten jüdischen Dialekt von Baghdad.

Selbst manche jüngere Israelis irakischer Herkunft lernen wieder Arabisch. „In den letzten Jahren haben viele irakische Juden wieder ihre eigene Herkunft entdeckt“, erklärt Shimon Ballas. Sozialwissenschafter wie Yehouda Shenhav haben seit einigen Jahren wieder ihre irakischjüdische Herkunftsgesellschaften als Forschungsthemen entdeckt und dabei teilweise sehr scharfe Kritik an der aschkenasischen Dominanz in Israel geübt. Ofer, ein Israeli irakischer Herkunft, erinnert sich noch genau an seine kindlichen Spaziergänge mit seiner Mutter durch Jerusalem: „Meine Mutter konnte damals noch nicht gut Ivrit und sprach immer Arabisch. Ich habe mich für dieses Arabisch geschämt. Bei uns in der Schule wurde man nur verspottet.

Ich habe als Kind zu Hause nur Arabisch gehört und diese Sprache bewusst verlernt!“ Erst viele Jahre später empfand Ofer das als Verlust. Mit seiner Großmutter, die nie wirklich Hebräisch gelernt hatte, konnte er später kaum kommunizieren. Die Spur seines Großvaters verlor sich in den 1970er Jahren im Irak. Der alte Mann wollte nicht auswandern, da er sein Leben lang in Baghdad gelebt hatte und sein beträchtliches Eigentum nicht verlieren wollte. Wie alle irakischen Juden hätte auch er sein gesamtes Vermögen zurücklassen müssen, wäre er nach Israel ausgewandert. Wann und wie der alte Mann gestorben ist, hat nie jemand aus der Familie erfahren. Den staatlich verordneten Antisemitismus des Baath-Regimes unter Saddam Hussein hatten nicht viele irakische Jüdinnen und Juden überlebt.

Mehrere Tausend fanden seit den 1970er Jahren noch illegal den Weg ins Exil. Beim Sturz Saddam Husseins 2003 war nur noch eine 40 Köpfe zählende Gemeinde in Baghdad verblieben, die gerade noch über eine einzige Synagoge verfügte. Die alten Gemeinden in Basra, Mossul, Arbil, Sulemaniya, Kirkuk, Halabja oder Kifri hatten längst ebenso zu existieren aufgehört wie die kleine karäische Gemeinde in Hit. Lediglich einzelne Familien oder zum Islam konvertierte Jüdinnen und Juden konnten da und dort das Regime überdauern. Aus dem erhofften Neubeginn nach dem Sturz des Diktators wurde jedoch nichts. Der wenige Monate später beginnende Terror ehemaliger Baathisten und sunnitischer Gihadisten machte das Leben auch für die verbliebenen Jüdinnen und Juden zunehmend unmöglich. Von der Restgemeinde in Baghdad, die längst ihren letzten Rabbiner eingebüßt hatte, verließen nach 2003 weitere Mitglieder den Irak. Wer blieb, war entweder zu alt, um zu gehen, musste seine alten Eltern pflegen oder hatte andere wichtige persönliche Gründe in Baghdad zu bleiben.

Reisende berichten jedoch, dass sich die Verbliebenen kaum mehr aus ihren Häusern wagen. Wie für andere Irakerinnen und Iraker auch, wird das Leben mit der Zuspitzung religiöser und ethnischer Konflikte für die verbliebenen Jüdinnen und Juden zunehmend unerträglicher. Hoffnungen von aus dem Irak stammenden Israelis, wenigstens als Touristen in den Irak zurückkehren zu können, werden so völlig unrealistisch. Der alte jüdische Dialekt von Baghdad wird so eher in Or Yahuda oder Ramat Gan weitervermittelt, als in Baghdad selbst. Das Babylonian Jewry Heritage Center hat sogar Lehrbücher über den jüdischen Dialekt von Baghdad herausgebracht. Auch Sari Bashi lernt seit einiger Zeit Arabisch. Ihr Vater war bereits als Kind aus dem Irak nach Israel gekommen und später in die USA ausgewandert. Sie kam vor einigen Jahren wieder nach Israel, wo sie heute als Anwältin eine Menschenrechtsorganisation leitet, die sich v. a. mit der Vertretung von Palästinenserinnen und Palästinensern vor israelischen Gerichten beschäftigt.

Ihre Organisation „Gisha“ befasst sich primär mit Fragen der Bewegungsfreiheit für die Bewohnerinnen und Bewohner der besetzten Gebiete. Die junge Israelin findet es heute schade, als Kind nicht mehr Arabisch gelernt zu haben und bringt sich gerade palästinensisches Arabisch bei. „Es ist nicht irakisches Arabisch, aber immerhin Arabisch.“ meint sie schmunzelnd.

Die mobile Version verlassen