Zeugin des Schweigens

Ihr Buch ist bereits Pflichtlektüre an den israelischen Schulen. Unter den wenigen Büchern, die von der zweiten Generation geschrieben wurden, ist „Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen“ von Lizzie Doron das beste von allen, meint die Tageszeitung Maariv. Ganz ohne Bitterkeit schildert Doron die soziale Isolation, die Fremdheit der Mutter in Israel und sich selbst als Zeugin des Schweigens. Ihre Geschichten über das, was war, beschreiben auch den Alltag im jungen Israel und sind trotz des Schattens der Shoa eine wunderbare Liebeserklärung an die Mutter.
Von Danielle Spera

Helena kommt von DORT nach HIER. Sie stammt aus Polen und hat die Shoa überlebt – als Einzige in ihrer Familie. Allein gelassen mit ihren Erinnerungen kommt sie nach Israel, wird Krankenschwester, lernt in einem Sanatorium ihren Mann kennen – einen Patienten. Die gemeinsame Tochter wird geboren – Elisabeth. Der Vater ist unheilbar krank, er muss im Sanatorium bleiben, Elisabeth lernt ihn nie kennen, er stirbt, als sie acht Jahre alt ist. Helena – die Mutter – wird so als Alleingelassene zur Alleinerzieherin, eine Fremde in einem ungeliebten Land, inmitten mutiger, stolzer, zionistischer Pioniere die so ganz anders sind als alles Bekannte. Sie sucht nach Spuren ihrer Herkunft, ihrer Familie. Im Radio wird ein Name genannt, der vertraut klingt, schon beginnt die Suche nach dieser Person. Gefunden wird Marek, ein starker, braun gebrannter Zionist, der ganz in seiner Arbeit in einem Moschav, einer der zahlreichen landwirtschaftlichen Gemeinschaften, aufgeht. Er sieht Helena und Elisabeth: Sein Kommentar: „Warum ist deine Tochter so blass und dünn? Und was soll diese Diaspora-Kleidung? Und warum, sag mir, bist du nicht vor dem Krieg gekommen?“ Helena beantwortet diese Fragen nicht. Danach suchte sie nie mehr nach Verwandten. Helena ist die Mutter der Autorin, Lizzie Doron – Elisabeth. Sie erzählt in kurzen Episoden Erlebnisse mit ihrer Mutter. Obwohl wir nie erfahren, was die Mutter erlitten und überlebt hat, kann man es wohl erahnen. Das Buch macht die unheilbaren Verletzungen der Seele in einer sehr sensiblen Weise deutlich und auch, wie sehr sie das Leben der zweiten Generation geprägt haben. Lizzie Doron hatte eigentlich nicht vor, die Erinnerungen aus ihrer Kindheit niederzuschreiben. Die Initialzündung kam durch ihre Tochter, die in der Schule ein Projekt über die Wurzeln ihrer Familie erarbeiten musste. „Ich war dafür die einzige Informationsquelle, nachdem aus unserer Familie sonst niemand mehr da war“, so Lizzie Doron im Gespräch mit NU. „Meine Mutter hatte mit mir nie über ihre Geschichte gesprochen, ich musste also meine Erinnerungen hervorkramen. Als meine Tochter in der Schule dann davon berichtete, zwangen mich die Lehrer fast dazu, die Geschichte meiner Kindheit und mein Leben mit meiner Mutter zu veröffentlichen. Für mich war es überraschend, dass irgendjemand an diesen Geschichten überhaupt Interesse haben könnte. “ Inmitten der Israelis scheint Helena mit ihrer Geschichte isoliert. Lizzie Doron meint dazu, dass sie eigentlich dabei auch Glück gehabt habe. „In dem Viertel, wo ich aufgewachsen bin, lebten ausschließlich Shoaüberlebende, im Süden von Tel Aviv, in Yad Elijahu. Dort habe ich kaum Hebräisch gehört, die Menschen sprachen polnisch, rumänisch, jiddisch, deutsch, ungarisch. Ich bin also eigentlich in einem Shtetl aufgewachsen. Ich habe lange gebraucht, um zu erfahren, dass es außerhalb der Grenzen unseres Viertels ein ganz anderes Leben gibt. Israelis, Sabres. Wir wuchsen dort mit großer Liebe auf. Für alle Bewohner waren wir – die Kinder – die einzigen Verwandten. Es waren lauter zerbrochene Familien, ohne einen Elternteil, ohne Großeltern, Onkeln oder Tanten. Über die Shoa wurde nicht gesprochen. Es gab wirklich nur Schweigen. Wir lebten wie in einem großen Flüchtlingslager. Eine große Gruppe isolierter Einwanderer mit den furchtbarsten Erinnerungen und Alpträumen. Und geringen Möglichkeiten, sich zu assimilieren, den Anforderungen Israels zu entsprechen.“Nach dem Sechstagekrieg verändert sich das Viertel, in dem Helena wohnt. Starke, selbstbewusste israelische Helden ziehen ein. In diesen Familien gibt es kein Schweigen, sondern Geschichten über die mutigen Kämpfer in der Verwandtschaft. Helena und Elisabeth werden zu Leuten mit „wilden Mähnen, Sandalen und uniformähnlicher Khakikleidung“ eingeladen. Helena kommt im roten Kostüm mit Lackschuhen und Lacktäschchen. Und sie stellt sich vor: Als Helena Wie-Lämmer-zur-Schlachtbank. Sie wissen schon.“ Die Gastgeber sind fassungslos. Mutter und Tochter werden nicht wieder eingeladen. In Helenas Wohnung trafen sich regelmäßig vier Frauen von DORT – zum Fünf-Uhr-Kaffee. Elisabeth erinnert sich nur an ihre Nummern, ihre Namen waren die reinsten Zungenbrecher, die Nummern waren leichter zu behalten. Sie stand auf dem Balkon und verkündete: 546772 kommt oder 94826 ist gleich da. Bei Kaffee und Kuchen fallen Sätze wie: Ich spüre schon seit Jahren keine Schmerzen mehr. Oder: meine Kleider sind lebendiger als meine Seele. Szenen wie diese prägen Lizzie Dorons Kindheit, in ihren skizzenhaften Erinnerungen erleben wir die traumatisierte Mutter aber auch als prinzipientreue Frau, die ihre versunkene Welt nicht vergessen kann und den Toten treu bleibt. „Meine Mutter hat mir nie erzählt, was sie erlebt hat. Sie hat sich entschieden, dass für mich nur die Zukunft relevant wäre. Der Nebeneffekt meines Buches war, dass mir viele Menschen Berichte zukommen ließen, sogar Dokumente über meine Eltern. Es haben sich Leute gemeldet, die mit meiner Mutter im Konzentrationslager waren. Ich konnte so die Puzzleteile zusammensetzen. Ich werde jetzt auch nie mehr aufhören, nach Spuren zu suchen. „Besuche von Verwandten kann es nicht geben. Zu Pessach lügt Helena, sie würde mit der Tochter wegfahren. Die Fensterläden werden geschlossen und Helena feiert in der finsteren Wohnung mit ihrer Tochter den Sederabend. Der Tisch ist für viele gedeckt – für die vielen ermordeten Verwandten. Helena spricht mit ihnen. Elisabeth hört schaudernd zu. Den Nachbarn erzählt Helena danach, wie schön der Seder war. Lizzie Doron im Interview mit NU: „Die Sederabende, an denen meine Mutter nur Tote „einladen“ konnte, habe ich als sehr belastend empfunden. Andererseits wusste ich nicht, wie die anderen Menschen diesen Abend feierten. Ich hatte keinen Vergleich. Aber ich war ein Kind und meine Mutter eine sehr warmherzige Person. Das Essen war gut und ich versuchte, mich an den positiven Dingen festzuhalten. Ich weiß nur noch, dass ich betete, diese Abende mögen zu Ende gehen.“ Trotz dieser für ein Kind erschütternden Erlebnisse ist es Lizzie Doron mit viel Fingerspitzengefühl gelungen, ihre Mutter als willensstarke, außergewöhnliche Frau zu skizzieren, die konsequent ihren Weg geht. Die Geschenke zu Lizzies Bat Mizwa werden genauestens überprüft, alles was „Made in Germany“ ist, wird aus dem Fenster geschmissen. In den Fotoalben übermalt Helena braune Augen blau und sie färbt sich selbst und Elisabeth die Haare blond. Heute sei ihr Verhältnis zu Deutschland und Polen sehr komplex, so Lizzie Doron. „Es ist so schwierig, weil Polen und Deutschland irgendwie doch meine Heimat sind. Meine Mutter liebte die deutsche Kultur, die Sprache, die Kunst, die Literatur. Sie war stolz darauf, sie las Heine und Goethe. Sie führte Selbstgespräche auf Deutsch, gleichzeitig schmiss sie Geschenke, die „Made in Germany“ waren, weg. „Mein Verhältnis zu Deutschland ist schizophren. Einerseits kann ich nicht vergessen, dass dieses Volk das schlimmste Verbrechen der Menschheit begangen hat – auch an meiner Familie. Andererseits sehe ich meine Mutter vor mir, wenn sie immer wieder zu sich selbst sprach: ,Ich muss jetzt hier in dieser Wüste leben, ohne meine Familie, meine Kultur, meine Sprache, ohne den Schnee. Wenn ich dort bin, kommt mir alles sehr vertraut vor.“ Lizzie Dorons Mutter lebte in zwei Welten gleichzeitig. Hier, das ist das Israel der Nachkriegsjahrzehnte. Dort, das sind Polen und Deutschland, wo Helena aufgewachsen ist, die vergangene Welt des osteuropäischen Judentums. „Dort hat sie gelitten, die ärmste, aber auch HIER ist sie noch DORT und das ist der schlimmste Schmerz von allen“, heißt es in „Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen“. Und weiter: „Sie weinte nicht nur über das, was einmal gewesen war und nicht mehr war, sondern vor allem über das, was hätte sein können und nie sein würde. Die Zerrissenheit hat Lizzie Doron geprägt, nachdem die Wurzeln ihrer Mutter vernichtet waren, fühlt auch sie sich nicht hundertprozentig irgendwo beheimatet. Und meint, sie sei eine gute Ausgabe des „wandering Jew“. Lizzie Doron zu NU: „Auch wenn ich den israelischen Pass habe, fühle ich mich wie ein Flüchtling. Ich weiß zwar, dass ich hierher gehöre, gleichzeitig träume ich von Deutschland. Deutschland ist für mich wie eine Peepshow. Ich kann die Träume meiner Mutter berühren. Viele Überlebende sind sehr böse auf mich, wenn ich sage, dass ich gern einen deutschen Pass hätte. Denn: Was meine Mutter mir mitgegeben hat an Erinnerungen, stammt aus Deutschland. Meine Vorfahren waren 400 Jahre lang dort. In meinen Träumen möchte ich nach Deutschland auswandern, ich bin keine gute Soldatin, keine gute Kämpferin. Ich habe auch nie dieses tiefe Gefühl einer Israelin gehabt, also z. B. dieses: Hier habe ich einen Zitronenbaum gepflanzt. Vielleicht sind es aber auch unsere „jüdischen Gene“ die bei mir durchschlagen. Dass wir, weil wir immer von irgendwo vertrieben wurden, von Geburt an mobil sind, das heißt, dass wir überall leben können, um ein besseres Leben, ohne Verfolgung, zu führen. Vielleicht sind wir dadurch auch flexibler, weil uns die Welt offen steht.“


Yur Person

Lizzie Doron,geboren 1953, lebt in Tel Aviv. Ihr 1998 auf Hebräisch erschienenes Buch „Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen“ wurde von der israelischen Kritik begeistert aufgenommen, sie erhielt den von Yad Vashem vergebenen Buchman-Preis. Auf Deutsch übersetzt erschien es kürzlich im Jüdischen Verlag. Dort kommt im Juli auch ihr neuestes Buch „Ruhige Zeiten“ heraus. Auch darin berichtet sie behutsam und humorvoll vom Balanceakt einer Gruppe von Shoahüberlebenden, die versucht, in Israel ein neues Leben zu beginnen, soweit das eben möglich war.

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