Wo bitte geht

Ich habe mich entschlossen, diesen Kommentar zu nutzen, um meine Mitbürgerinnen und Mitbürger vor der drohenden Hegemonie des Bagels zu warnen.
Von Philipp Steger

Bevor ich mich jedoch dem eigentlichen Thema zuwende, kann ich nicht umhin, an dieser Stelle eine erst unlängst festgestellte Unwissenheit einzugestehen. Jahrelang habe ich im naiven Irrglauben dahinvegetiert, das Wort „Ostküste“ beschreibe eine geographische Gegebenheit, die Atlantikküste der USA eben. Und so habe ich immer wieder ganz arglos Ostküste gesagt, wenn ich Ostküste meinte und damit womöglich Unbeabsichtigtes kommuniziert. Sagte ich etwa „Der Paul Miller ist von der Ostküste“ hätte ein ostküstenkundiger Österreicher meinen können, dass ich ihm durch die Blume zu verstehen geben will, dass Paul Miller eigentlich Abraham Rosenthal heißt, Pejes trägt und in seiner Freizeit freiwilliger Mitarbeiter der zionistischen Weltverschwörung ist.Die Tragweite dieses Kommunikationsrisikos wurde mir erst bewusst, als ich vor kurzem auf einer deutschen Website las, dass „Ostküste“ ein „in Österreich geläufiges antisemitisches Klischee“ ist. Der Terminus „Ostküste“ wurde also usurpiert von jenen, die für sich in Anspruch nehmen, erkannt zu haben, wie die Dinge wirklich liegen in den USA (und natürlich in der Welt).Mit diesem Wissen ausgestattet, war ich imstande, mir eine neue Sprachregelung zu geben. Das, was auf der Landkarte von vorne gesehen rechts von der Mitte liegt, nannte ich von da an nur mehr „Atlantikküste“. Im Nachhinein geniere ich mich natürlich ein wenig dafür, dass mir vorher nichts aufgefallen ist. Zu meiner Verteidigung kann ich aber einiges einbringen. Woher hätte ich wissen sollen, dass 293 Millionen Amerikaner von rund zwei Millionen amerikanischen Juden im Nordosten der USA regiert werden? Und, bitte schön, was wäre denn das für eine Verschwörung, wenn ein jeder gleich merken könnte, dass die Juden das Land hier beherrschen? Was also folgte, war ein böses Erwachen. Denn wenn einmal Misstrauen gesät, der erste Verdacht geweckt ist, dann sieht man plötzlich überall Zeichen und es fällt einem förmlich wie Schuppen von den Augen. Die harmlosesten Dinge zeigen sich da in einem ganz neuen Licht. Denken Sie etwa an die typische Kopfbekleidung des modernen Amerikaners, die Baseballmütze. Je nach Alter des Trägers, Ausmaß der zur Schau gestellten Lässigkeit, oder – seltener – Funktionalität kann sie verschieden getragen werden. Angepasste Amerikaner tragen sie normal, d. h. mit dem nach vorne, mehr oder weniger parallel zur Nase ragenden Schirm. Jene, die auf die Baseballmütze als Accessoire nicht verzichten wollen, ihrer Unangepasstheit aber dennoch Ausdruck verleihen wollen, tragen sie umgedreht, d. h. mit dem Schirm nach hinten, was – vor allem bei engen Kappen – auch erklärt, warum diese Personen nach Abnahme der Mütze einen Abdruck des Verschlusses auf der Stirn tragen.Nun gehen manche Kommentatoren so weit, die Baseballmütze nicht nur als eines der zentralen Symbole der USA, sondern als ein wesentliches Symbol des 20. Jahrhunderts zu bezeichnen. Das neue Wissen über die Ostküste erlaubt mir jetzt tiefe Einsichten: An der Baseballmütze lässt sich die Rolle der Juden in den USA deutlich nachweisen: Stellen Sie sich eine Baseballmütze ohne Schirm vor. Was sehen Sie dann? Eine Kippah natürlich. Da haben wir es: Ganz Amerika trägt Kippahs mit Schirm!Ich glaube aber, dass sich wegen der Baseballmützen allein in Österreich niemand ernsthaft Sorgen zu machen braucht. Die Mode wird sich nicht wirklich durchsetzen – schwer vorstellbar, dass etwa alle Hut tragenden Autofahrer auf Baseballmützen umsteigen oder in Zukunft auf Baseballmützen Gämsbärte angeklebt werden. Die weite Verbreitung der Kippah mit Schirm in den USA ist also nicht dazu angetan zu erklären, warum die Ostküste den Antisemiten so suspekt ist. Auch die absurden Phantasien über die Beherrschung der Wall Street und des amerikanischen Kongresses durch die Juden sind ja so dumm, dass keiner sie ernst meinen kann.Die Erklärung ist viel einfacher und heißt Bagel-Neid. Zugegeben, der Ausdruck ist noch nicht so weit verbreitet wie der von Freud geprägte Terminus einer anderen Neidmanifestation, aber er hat gute Chancen darauf, in der pathologischen Diagnose von Antisemitismus eines Tages eine wichtige Rolle zu spielen. Psychiater der Zukunft werden die Stirn runzeln, nachdenklich den Kopf wiegen und dann dem Patienten mit ernster Miene mitteilen: „Ich befürchte, Sie leiden an Bagel-Neid.“ Es wird kaum jemandem entgangen sein, dass der Bagel in den vergangenen Jahren in Europa enorm an Popularität gewonnen hat. Ich würde sogar fast so weit gehen zu behaupten, Bagels – oder zumindest ihr Verzehr – gelten vielerorts als „cool“. Der noch im 19. Jahrhundert in Europa begonnene und in den USA im 20. Jahrhundert vollendete Siegeszug des jüdischen Bagels muss doch so einem Antisemiten gegen den Strich gehen. Man stelle sich das mal vor: Da wird so eine verhinderte Semmel mit einem sinnlosen – in jeder Hinsicht ineffizienten – Loch in der Mitte aus Europa verjagt, lässt sich jedoch nicht unterkriegen und erobert in einem Feldzug, der nachweislich seinen Ausgang von der Ostküste aus nahm, das mächtigste Land der Erde. Bagels gibt es heute nicht bloß an der Ostküste und nicht nur an der ohnehin auch leicht verdächtigen Westküste, sondern sogar im mittleren Westen. Das ganze Land ist Ostküste!Und als wäre dies der Schmach nicht genug, kehrt nun der Bagel nach Europa zurück und erlebt eine neue Hochblüte. Als ob es ordentliches Brot oder anständige Semmeln nicht auch täten. Und das obwohl wir in Österreich ohnehin schon alle Hände voll zu tun haben, um unser Land vor der drohenden Übernahme durch ausländische Elemente zu retten. Dass beispielsweise Wien weder Chicago noch Istanbul werden darf, weiß ja inzwischen wohl jeder, aber dass ganz Österreich die schleichende Bagel-Invasion droht, scheint nur die ganz Hellhörigen zu kümmern. Und so ist es an mir, die Österreicher zu warnen, dass Bagel statt Semmel wahrlich keine Bagatelle ist. Die Ostküste nämlich bäckt immer und überall.

Die mobile Version verlassen