Wir. Wir leben. Wir leben hier.

Von Martin Engelberg

Wir, bzw. unsere Eltern, haben sich entschlossen in einem Haus zu leben, in dem auch jene Familie lebt, die unsere Großeltern und andere Verwandte und Freunde ermordet und beraubt, im besseren Fall vertrieben hat und zwar mit dem klaren Signal, dass sie – dass wir – in diesem Haus nicht gern gesehen sind. Unsere Eltern, aber auch wir und zwar jeden Tag aufs neue, haben beschlossen zurückzukehren, und dennoch in diesem Haus zu leben.

Wie leben wir Juden in Österreich mit dieser Tatsache?

Zumeist mit Verdrängen, Verleugnen, Rationalisieren, etc. , also Abwehrmechanismen die uns vor diesem inneren Konflikt schützen. Schwierig wird es nur, wenn man sich selbst nicht damit auseinandersetzt und von außen – und zwar nicht sehr liebevoll und einfühlsam – an die Realität erinnert wird. Egal ob individuell von einem Bekannten, Arbeitskollegen oder Nachbarn, oder als Gruppe insgesamt, wie z. B. gerade eben wieder in der Restitutionsdiskussion, Haiders jüngstem „Antisemiteln“, der Waldheim-Zeit usw.

Nicht, dass die Situation für so manchen von uns nicht auch einen Gewinn brächte: Ein ganzes Berufs- und Betätigungsfeld, inzwischen sogar mit eigenem Namen – „Shoah-Business“ – hat sich eröffnet. Die öffentliche Aufmerksamkeit, die Funktionäre jüdischer Organisationen, aber auch vielen jüdischen Publizisten oder Intellektuellen zuteil wird, basiert mehr auf ihrem Jüdisch-Sein als ihren sonstigen fachlichen oder menschlichen Qualifikationen.

Aber auch die „breite Masse“ der Juden profitiert. Dabei meine ich gar nicht die doch beträchtlichen öffentlichen Mittel, die in unsere Infrastruktur fließen, denn es ist immer noch nur ein Bruchteil dessen, was Juden geraubt wurde. Ich möchte auch nicht die gewaltige Leistung jener Generation schmälern, die den Holocaust er- und überlebt hat und danach – mit nicht sehr viel Mitgefühl und Unterstützung ihrer Umgebung verwöhnt – mit dem Erlebten irgendwie zurecht kommen und sich und ihren Kindern eine Zukunft geben mußte.

Vielmehr glaube ich für uns, die sogenannte zweite und dritte Generation, die Entwicklung eines problematischen Größen-Selbst zu beobachten, den Anspruch, Begriffe wie Moral, Anständigkeit, Recht und Unrecht, besser als andere definieren zu können und alle Welt auch noch in dieser Disziplin unterweisen zu müssen. In Reaktion auf die vermeintliche Unfähigkeit der unmittelbaren Opfergeneration sich zu wehren, für ihre Rechte einzustehen und Gerechtigkeit zu erlangen, jetzt endlich einmal auf den Putz zu hauen, sich nichts mehr gefallen zu lassen, die anderen Mores zu lehren.

Das moralische Größen-Selbst ist ein sehr willkommener Vorwand, sich nicht mit unseren ureigenen, internen und inneren Problemen zu beschäftigen. Sogar was die Shoah selbst betrifft, beschäftigen wir uns in einem viel zu geringem Ausmaß mit all jenen damit verbundenen Fragen, die sich für uns Juden ergäben: Der Haltung der Menschen, die in den Tod gingen, das Problem des stattgefundenen Verrats und der Kollaboration, bis hin zur Glaubensfrage nach dem Holocaust, um nur einige Beispiele zu nennen. Zumindest ebenso groß und gravierend war und ist die Vernachlässigung der Diskussionen der jüdischen Identität, der Zukunft von uns.

An dieser Stelle wage ich die Feststellung, dass sich unsere laufende Beschäftigung mit dem Antisemitismus, des regelmäßigen Erhebens des Zeigefingers und sogar die, zunehmend auch ritualisierte, Erinnerung an die Shoah, uns genau an der Auseinandersetzung mit diesen Themen hindert und sie ersetzt, ich fürchte ersetzen soll.

Unweigerlich holt uns jedoch die Realität ein. Die Zahl derer, die uns immer unmissverständlicher mitteilen, dass sie von Juden nicht moralisiert, nicht in das Erinnerungsritual an die Shoah einbezogen werden wollen, steigt, während die große Mehrheit der Österreicher sich immer weniger schwer tut, zur Normalität zurückzukehren. Zu jenem Punkt, wo – im besseren Fall – eine besondere Rücksichtnahme auf die Empfindlichkeiten von uns Juden nicht mehr geboten scheint, im schlechteren Fall, die Zurückhaltung, Antisemitismen offen zu produzieren, abnimmt.

Zunehmend macht sich das Defizit in unserer Identität bemerkbar. Israel als gemeinsames identitätsstiftendes Merkmal ist fast völlig weggefallen. Geblieben ist das Hochhalten der Erinnerung an die Shoah und der Kampf gegen jedes Wiederauftreten von Antisemitismus und Nazismus. Kampf – anstatt diff e renziertes Entwickeln von Strategien. Fokussieren auf den Zustand der anderen – anstatt Beschäftigung mit den eigenen Konflikten. Pädagogisieren der Anderen – anstatt Raum zu lassen für Verstehen und Entwicklung bei uns selbst. Wir befinden uns in einer Sackgasse.

 

Die nächste Ausgabe von „Nu“ beschäftigt sich mit dem Thema „jüdische Identität“ als Schwerpunktthema. Dieser Kommentar ist der Auftakt dazu.

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