Wir waren viel weniger puritanisch

Er arbeitete unglaublich schnell, schrieb mitten in der Nacht Gedichte und lebte die Dualität des Flüchtlings voll aus. Ein Gespräch mit Catherine Fried-Boswell, der Witwe Erich Frieds, über Leben und Lieben des Dichters.
Von Axel Reiserer, London

NU: Catherine, wie und wann haben Sie Erich Fried kennengelernt?

Catharine FRied-Boswell: Ich lernte ihn kennen, als er Anfang-40 und ich Mitte 20 war. Wir lernten uns durch gemeinsame Freunde kennen, es war der Maler Georg Eisler, der uns miteinander bekannt machte. Erich durchlebte gerade eine traumatische Scheidung von seiner zweiten Frau Nan, die ihn mit den beiden Kindern David und Katherine verlassen hatte. Eisler sorgte sich damals sehr um seinen Freund Fried.

Sie waren also so etwas wie ein Trostpreis für ihn?
(Lacht.) So kann man es wohl sagen. Er hat mich allerdings zunächst nicht einmal beachtet.

Dann aber wurde er doch auf Sie aufmerksam?
Das kann man wohl sagen, und 1965 haben wir geheiratet, wenig später kam unsere Tochter Petra zur Welt und nach vier Jahren hatte ich dann noch Zwillinge, Klaus und Tom.

Wie war Fried als Vater?
Er war sehr warm und liebevoll, wenn auch nicht gerade sehr engagiert im Alltag. Er reiste viel, denn er musste Geld verdienen und hat sich Zeit seines Lebens finanzielle Sorgen gemacht. Das ist auch verständlich, denn er kam als mittelloser Flüchtling nach England.

Wie hat man sich den Alltag im Leben von Catherine und Erich Fried vorzustellen?
Er hatte sechs Kinder, zu denen er stets Kontakt hielt, aber er unterstützte auch eine Menge anderer Leute. Wir hatten das Haus stets voller Gäste, die wir versorgten, denen er auch Geld gab. Er spendete für politische Aktivitäten. Einmal gab er das ganze Preisgeld für eine Auszeichung an eine Palästinenser-Gruppe. Ich kochte vor Wut. Heute muss ich sagen: Gut gemacht, Erich.

Bis 1969 war er noch bei der BBC, obwohl er schon einige Bücher veröffentlicht hatte. War sein Herz noch bei seinem Brotberuf?
Er war immer ein sehr engagierter Journalist und blieb es in gewissem Sinn auch immer. Auch nachdem er seinen Job aufgegeben hatte, schrieb er Essays und gab viele Interviews. Ich glaube, Journalismus war immer Teil seines Schaffens, wenn auch nicht der wichtigste.

Wie hat er sein Werk verfasst?
Er hatte keine Routine, er konnte zu jeder beliebigen Nachtzeit aufstehen und ein Gedicht schreiben. Er schrieb immer nur mit der Schreibmaschine an seinem Schreibtisch. Manchmal fand ich ihn in seinem Zimmer, da saß er eingeschlafen neben seiner Maschine.

Und wie ging er vor?
Er hatte eine Idee, eine Inspiration, dann fand er die Wörter dafür und schon entstand ein Gedicht. Er arbeitete unglaublich schnell. Seine Übersetzungen diktierte er. Seine Sekretärin konnte kaum Schritt halten. Während er sprach, entwickelte er die Sprache, Wortspiele, Reime – und alles in atemberaubendem Tempo. Dann machte er sich an die Korrekturen, einmal drübergeschaut und das war es auch schon.

So schrieb er auch seine Gedichte?
Mehr oder weniger. Der englische Publizist Neal Ascherson sagte bei Erichs Begräbnis: „Er war ein Mann von raschem Verstand.“ Das war er. Er dachte schnell, intensiv und dicht. Und so schrieb er auch.

Das ließ ihm auch Zeit für anderes. Wie hat er seine Tage verbracht?
Erich war unglaublich professionell. Aber er hat keineswegs den ganzen Tag gearbeitet. Als ich ihn kennenlernte, liebte er es, lange mittagessen zu gehen. Er traf Emigranten-Freunde. Er verbrachte Stunden in einer deutschen Buchhandlung in Swiss Cottage. Er ging gerne in Trödelläden, wo er immer irgendwas fand. Als diese Geschäfte zusperrten, begann er, in Containern herumzusuchen, und ständig brachte er irgendwas nach Hause, womit er meinen Zorn erregte. Wir hatten deshalb jede Menge Kämpfe.

War er ein Sammler oder ein Jäger?
Er sammelte sehr wenig. Vor allem ging es ihm um die Entdeckung, etwas, das ihm gefiel, das er haben oder herrichten wollte. Kurz danach interessierte es ihn nicht mehr.

Fried lebte in London, schrieb aber auf Deutsch und entfaltete seine Wirkung im deutschen Sprachraum. Das scheint wie ein Doppelleben.
Teilweise war das eine politische Entscheidung, sagte er. Er dachte, er würde größeren Einfluss haben, wenn er sich auf Themen konzentrierte, die im deutschen Sprachraum diskutiert wurden, etwa Vietnam. Mir schien das stets wie eine Rationalisierung.

Wo war er dann in Wirklichkeit zu Hause?
Er hat die Dualität des Flüchtlings voll ausgelebt. Er traf bestimmte Entscheidungen, zum Beispiel sein Festhalten an der deutschen Sprache, während viele Flüchtlinge ins Englische wechselten. Fried verweigerte das, obwohl er nur siebzehn Jahre war, als er nach London kam. Aber er hielt daran fest, dass ein Dichter nur in seiner Muttersprache schreiben solle. Er spielte etwas von dieser Dualität auch in seinem Privatleben aus. Ist es nicht seltsam, dass er zwei Frauen heiratete, die nicht seine Muttersprache sprachen? Und er verweigerte völlig, mit seinen Kindern deutsch zu sprechen, wie sehr ich ihn auch darum bat. Auch dafür fand er eine Rationalisierung: Eine Sprache sei ein Werkzeug für das Denken, und jede Sprache habe ihre eigene Methodologie, und es würde unsere Kinder nur durcheinanderbringen, wenn er mit ihnen deutsch spräche. Das war offenkundig Unsinn, aber da war nichts zu machen.

Hatten Sie eine glückliche Ehe?
Grundsätzlich ja. Wir hatten jede Menge Streit, vor allem in den ersten Jahren, dann gewöhnten wir uns aneinander. Wir liebten uns. Es gab Affären, aber er glaubte sehr an Ehrlichkeit. Wir waren ehrlich miteinander. Das hieß manchmal, sich mit unangenehmen Situationen zurechtzufinden. Aber besser als Geheimniskrämerei und Verstocktheit.

Und dies konnten Sie auch in der Wirklichkeit so leben?
Was ist schon Wirklichkeit? Die Wirklichkeit damals war doch eine ganz andere als im Jahr 2007. Heute sind die Menschen viel puritanischer. Meine eigenen Kinder sind puritanischer, als ich es war. Unsere Zeit waren die späten Sechziger, der Sommer der Liebe, all das hat uns geprägt. Erich und ich haben das ganz gut hinbekommen.

Und das stand niemals zwischen Ihnen?
Viele Liebesgedichte hat er für andere Frauen geschrieben. Er hat auch mir Liebesgedichte geschrieben, wenn ich auch glaube, dass nur wenige davon veröffentlicht wurden.

Und Sie haben ihn nie gefragt: Warum schreibst du anderen Frauen Liebesgedichte?
Nun, wir haben darüber gesprochen. Er war wieder einmal ein biss-chen über-rational und sagte: Wir zwei sind verheiratet, ich liebe dich sehr, ich möchte mit dir zusammenbleiben – nicht, dass er all das jemals in einem Gespräch gesagt hätte, ich füge Elemente zusammen – ich bin glücklich mit dir, ich schreibe dir nicht viele Liebesgedichte, denn meine Sprache ist Deutsch. Hier haben wir wieder diese Spaltung. Ich glaubte das nicht völlig, aber es machte mir auch nicht so viel aus. Denn ich dachte: Wenn ich ihn dafür brauche, dass er mir Liebesgedichte schreibt, um mir und der Welt zu beweisen, dass er mich liebt, dann drückt das eine Angst um unsere Beziehung aus, die ich nicht habe.

Als Sie Erich kennenlernten, was machten Sie damals? Sie wurden später selbst eine anerkannte Künstlerin.
Nicht so sehr anerkannt. Als ich Erich kennenlernte, war ich gerade aus Paris zurück, wo ich meine ersten Schritte als Malerin gemacht hatte. Zurück in England arbeitete ich in Verlagen als Fotoassistentin, das war ein wunderbarer Job.
Haben Sie nach der Heirat mit Erich weitergearbeitet?
Wir bekamen unsere Tochter Petra kurz nach unserer Hochzeit. Aber eine der Arbeiten, die ich damals machte, war mit Erich für ein Buch über mittelalterliche englische Lyrik. Ich wünschte, wir hätten mehr miteinander gearbeitet, denn wir sind dabei fantastisch miteinander ausgekommen. Später habe ich wieder gemalt, dann arbeitete ich viele Jahre als Fotografin.

Welche Haltung hatte Fried zu Österreich, aus dem er 1938 flüchten musste und wo er gegen Ende seines Lebens höchste Verehrung genoss?
Letzteres genoss er sehr.

Die Gestapo hat Frieds Vater erschlagen, seine Großmutter starb, nachdem sie in Theresienstadt war. Wie ist er mit dieser Vergangenheit umgegangen?
Erich verschleierte, aber wiederum auf eine intellektuelle, kalkulierte Art: Er verdrängte nichts ins Unterbewusste. Er hat nichts vergessen und nichts verdrängt. Ich kann mich nur an ein einziges Mal erinnern, als er mir erzählte, dass er etwas verdrängen wollte: Er war auf einer Reise durch Polen und zu einem Besuch in Auschwitz eingeladen. Er wollte da nicht hin. Es war eine neue Erfahrung für ihn, dass es Dinge gab, mit denen er nicht zurechtkam. Er war ein sehr mutiger und tapferer Mann, er hat nichts verdrängt, aber hier sollte er Auschwitz besuchen und wollte es nicht, konnte aber nicht entkommen. Dennoch hoffte er bis zuletzt, dass es ihm erspart bliebe.

Welche Rolle spielte sein Judentum für Erich Fried?
Wenn ihn jemand fragte, ob er darauf stolz sei, explodierte er immer. Das ist doch alles nur eine Frage von Genen, sagte er. Aber in Wahrheit bedeutete es ihm enorm viel.

Obwohl er fast zwanzig Jahre tot ist, blieb Erich Fried das Zentrum der Familie. Drei Ehen, sechs Kinder…
Das ist wohl der Grund, warum er nach mir nicht mehr geheiratet hat: Er hatte ein Kind mit der ersten Frau, zwei mit der zweiten, drei mit mir und mit der vierten hätte er dann … (Lacht.)

… und es war nicht immer einfach für alle. Zwanzig Jahre später scheint sich alles zum Guten gefügt zu haben, und über der großen Fried-Familie thront quasi Erich?
Ja, so ungefähr ist es, überraschenderweise.

Ich vermute allerdings, es sind mehr Sie, die alles zusammenhält.
Nun, ich lebe ja noch. Meine Arbeit ist es vor allem, Berufs-Witwe zu sein. (Lacht.) Aber ob wir alle wegen Erich zusammenkommen? Nun, ein wenig ist es schon so. Es gibt ein Gefühl des Zusammenhalts, entstanden aus all dem, was nicht zusammenpasste.

Sie sagen selbstironisch, Sie seien Berufs-Witwe. Ist der Name Erich Fried noch geläufig?
Ich habe kürzlich eine Kinokarte per Telefon bestellt, da wurde ich gefragt: „Wie ist Ihr Name?“ Ich sagte: „Fried.“ Und die offenkundig junge Frau am anderen Ende der Leitung, die ohne den geringsten Akzent sprach, sagte: „Fried, so wie der Dichter?“ Ich war erstaunt und sagte: „Ja, genau, kennen Sie etwa sein Werk?“ Und sie sagte: „Aber ja. Ich habe seine Gedichte gehasst.“ (Lacht.)

Das Literaturhaus in Wien zeigt im November eine Ausstellung mit Bildern von Catherine Fried-Boswell.

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