Wir leben in einer barbarischen Welt

Das Interview mit dem israelischen Terrorexperten Yoram Schweitzer über die Anschläge von London, die Motivation, Selbstmordattentäter zu werden, und das Thema Terrorbekämpfung führte Axel Reiserer.
Von Axel Reiserer, London

NU: Waren die Anschläge in London wirklich Selbstmordattentate?

Schweitzer: Selbstverständlich. Wann immer es Anschläge gibt, tauchen Zweifel auf, ob es wirklich Selbstmordattentäter waren, wie die Explosionen ausgelöst wurden, ob es Fernsteuerungen gab und Ähnliches. Madrid hat uns gezeigt, dass nicht jeder Anschlag von Gruppen, die in Verbindung mit El Kaida stehen, ein Selbstmordanschlag sein muss. Aber als diese Herren wenige Tage später von der Polizei umstellt waren, sprengten sie sich selbst in die Luft. Es zeigt uns, dass die verwendeten Methoden nicht immer dieselben sind, sehr wohl aber ein gemeinsames organisatorisches Prinzip der El Kaida immer gegeben ist: die Bereitschaft zum Selbstmord.

Wie wird jemand zum Selbstmordattentäter?

Das ist einfach. Die Grundlage ist eine ganz bestimmte Interpretation der Wirklichkeit, die nur mehr eine eindimensionale Lösung für alle vermeintlichen und tatsächlichen Probleme gestattet. Dafür gibt es immer genug Leute, es reichen ja ein paar Hundert, um riesige Wirkung zu erzielen. Es wird ihnen vermittelt, dass es nur einen einzigen richtigen, schmalen Pfad gibt, der sie und ihre Gemeinschaft zu Macht, Anerkennung und Ruhm führt, und dass es für Moslems richtig ist, diesen Weg zu beschreiten.

Wie kann man jemanden dazu bringen, sich selbst und andere in den Tod zu stürzen?

Diese Leute werden sehr früh rekrutiert, sie werden gezielten Einflüssen ausgesetzt, man zeigt ihnen Aufnahmen über vermeintliche oder wirkliche Grausamkeiten gegen Moslems, es entsteht ein Gruppendruck, manche hoffen, eine Führungsrolle zu bekommen, die sie sonst im Leben nicht haben. In Großbritannien hat die Tatsache einen großen Schock ausgelöst, dass drei der vier Selbstmordattentäter im Land geborene junge Männer pakistanischer Herkunft waren. Mich hat das nicht überrascht. Wir haben schon Mitte der neunziger Jahre britische Pakistani gehabt, die norwegische Touristen in Kaschmir entführt und geköpft haben. Die beiden Herren, die vor zwei Jahren in Tel Aviv einen Selbstmordanschlag versuchten, waren ebenfalls britische Pakistani. Und der Mörder des US-Journalisten Daniel Pearl war ein Vorzeigestudent an der London School of Economics. Ahmed Omar Saeed Sheikh ging als Helfer nach Bosnien, wo er sich angesichts der Grausamkeiten gegen die Moslems radikalisierte. Für andere ist es genug, dass sie sich als Außenseiter fühlen, nicht gleichberechtigt in der Gesellschaft, nicht angemessen behandelt. Aber in diesem Fall würde man vielleicht eine Partei oder eine Bürgerrechtsgruppe gründen, insbesondere in einem Land wie Großbritannien, nicht jedoch zum Selbstmordattentäter werden. Für die meisten Menschen mag das stimmen. Aber Sie dürfen nicht vergessen, dass über allem eine Auslegung des Korans steht, wonach die Frömmsten und wenigen Auserwählten durch die Opferung ihrer selbst den Weg in ein besseres Leben nehmen können. Nicht gute Taten auf Erden sind es, die einen ins Paradies bringen, sondern die Opferung seiner selbst. Wenn man den Islam nicht kennt, weiß man nicht, dass das nur eine unter vielen Interpretationen ist. Die Unwissenheit ist ein entscheidender Faktor. In Ihrem Buch über Selbstmordattentäter schreiben Sie, dass hinter einem Selbstmordattentäter immer eine Reihe von Anführern steht.

Wer sind die?

Den einen typischen Anstifter, Anführer oder Drahtzieher gibt es nicht. Es kann ein Gemisch aus Menschen und Motiven sein. Das Gedankengut kann aus dem Elternhaus genauso wie von einer religiösen Autorität kommen. Gemeinsam ist allen nur, dass sie den Selbstmordattentäter auf diesen schmalen Pfad bringen, wo es keine Alternativen und keine Umkehr mehr gibt.

Waren Sie überrascht, dass es in Großbritannien, das auf seine vielfältige Gesellschaft und seine Weltoffenheit so stolz ist, zu diesen Anschlägen kam?

Keineswegs. Die Frage war nie, ob es dazu kommen würde, sondern wann. Dasselbe gilt aber für jedes andere westliche Land, ob für Deutschland, für Frankreich, für die Niederlande oder welches Land auch immer. Die Saat der radikalen Islamisten, die ihren Ursprung in Afghanistan hat und von El Kaida verbreitet wurde, ist überall vorhanden. In der jungen Generation geht sie heute auf.

Kann sich die westliche Gesellschaft dann gegen den islamistischen Terror überhaupt verteidigen?

Sie muss und sie wird. Es sind ja nicht Hunderttausende, mit denen wir es zu tun haben. Der entscheidende Kampf betrifft die jungen Rekruten für den Dschihad. Die moslemische Gemeinde selbst ist ein Ziel der Extremisten. Die moslemische Gemeinschaft muss sie ausschließen, zu Ungläubigen erklären, muss den Islam gegen sie verteidigen. Das hat höchste Priorität. Der Islam ist schwerstens beschädigt worden durch Osama bin Laden und seine Anhänger. Es muss gelingen, die Anwerbung neuer Rekruten zu verhindern und dem Terror jede Anziehungskraft zu nehmen. Die Moslems müssen eine geschlossene Front gegen die Extremisten bilden, denn nur die Moslems können diesen Kampf gewinnen. Andernfalls müssten sie einen furchtbaren Preis zahlen. Und der Westen muss diese Kräfte des Islam stärken und mit ihnen geschlossen und gemeinsam den Kampf führen.

Sind strengere Gesetze ein Weg, den Terrorismus zu bekämpfen?

Wenn die Welt einfach wäre, könnte ich Ihnen auf einer Serviette zehn Gebote für den Kampf gegen den Terror notieren. Wir leben aber nicht in Disney World, sondern in einer barbarischen Welt. Das ist alles sehr ernst und sehr heikel. Am wichtigsten ist, dass wir unsere Demokratie im Kampf gegen den Terror nicht kaputt machen. Wir müssen mehr unsere westlichen Werte und unsere Ideologie unterstreichen als nur an Gesetze zu denken.

Was aber nützt das, wenn viele Moslems glauben, der Westen führt einen weltweiten Krieg gegen sie, von Irak bis Tschetschenien, von Bosnien bis zu den Palästinensergebieten?

Jeder Mensch kann sehen, dass der Irak-Krieg nichts mit dem Islam zu tun hat. Saddam Hussein selbst wurde von El Kaida angegriffen, sein Regime war nicht religiös. Für jeden Konflikt auf der Welt kann man irgendeinen Vorwand, irgendeine scheinbare Erklärung finden. Aber grundsätzlich sind die Konflikte im Nahen Osten Nationalitätenkonflikte, nicht religiöse. Ich habe mit Dutzenden Attentätern in israelischen Gefängnissen Interviews geführt. Es handelt sich nicht um religiöse Auseinandersetzungen. Aber natürlich ist die Wirklichkeit der Interpretation unterworfen und kann man alles auch im Lichte eines Raubzugs gegen die Moslems darstellen.

Ist das einer der Gründe für die Stärke von El Kaida?

Die Stärke von El Kaida ist eigentlich irrelevant. El Kaida selbst ist die Avantgarde, um sie herum haben sich diverse Gruppen gesammelt, die jene Anschläge verüben, zu denen sich dann El Kaida selbst mit Freuden bekennt. Die El Kaida-Führung sitzt vermutlich in irgendwelchen Höhlen und ist immer noch stark genug, irgendwo spektakuläre Anschläge anzuordnen. Aber ausgeführt werden sie von Gruppen, die über die ganze Welt verstreut sind.

Würde die Ausschaltung von Osama bin Laden und anderen El Kaida-Führern etwas ändern?

Das wäre definitiv nicht das Ende. Ihre Anhänger würden nicht ruhen, bis sie nicht neue Anschläge verübt haben. Erfolgreiche Terrorattacken werden den Widerstandswillen des Westens herausfordern. Das ist vielleicht das einzig Gute daran. Der Westen muss stark und er muss schnell sein.

Werden wir stark genug sein?

Eine Mobilisierung und Radikalisierung steht zu befürchten.

Was kann Europa von den Erfahrungen Israels lernen?

Die israelische Gesellschaft hat in den vergangenen Jahren gegen massive Angriffe feste Widerstandsfähigkeit bewiesen. Ich wünsche Ihnen dennoch, dass Sie unsere Erfahrungen der letzten Jahre nicht machen müssen.

 

Zur Person

Yoram Schweitzer forscht am Jaffee Center for Strategic Studies der Universität Tel Aviv über Terrorismus. Der Autor mehrerer Sachbücher (“The Globalization of Terror”, 2003) und zahlreicher Zeitungsbeiträge war nach einer Karriere in der Armee bis vor zwei Jahren Berater des israelischen Ministerpräsidenten und leitet heute ein Beratungsunternehmen für Sicherheitsfragen. www.labat.co.il

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