Wir können nie sicher sein, dass Hitler nicht wieder passiert

Lange hatte Medizinnobelpreisträger Eric Kandel von Wien keine hohe Meinung. Warum sich das geändert hat, und was die Psychoanalyse von der Medizin lernen kann, erzählte er NU bei seinem letzten Besuch. Protokoll einer ungewöhnlichen Begegnung.
Von Martin Engelberg (Interview) und Christian Fischer (Fotos)

Das Gespräch mit Eric Kandel ist eine Begegnung mit vielen Witzen und herzlichem Lachen, aber auch Nachdenklichkeit. Seine Antworten sind voller interessanter Gedanken und er kann im nächsten Moment wieder zu einem Small Talk wechseln – einem höchst unterhaltsamen jedoch. Der jetzt 81-jährige, in Wien geborene Nobelpreisträger Kandel ist eben nicht nur ein Wissenschaftler, der es zu Weltruhm brachte, sondern auch eine Person, der seine menschlichen Seiten ganz offen zur Schau trägt und den Gesprächspartner von Anfang an überrascht.

NU: Guten Tag Herr Professor – es ist mir eine Ehre und Freude Sie kennenzulernen.

Kandel: Wie kann ich Ihnen helfen?

Wir fangen beide herzlich zu lachen an, weil Kandel mir die typische Eingangsfrage eines Psychoanalytikers stellt.

Aber ich bin doch der Psychoanalytiker.
Kandel:
Ja wieso eigentlich, ich dachte Sie müssten doch ein Journalist sein. Sind Sie jüdisch? Sind Sie in Wien geboren? Woher kommt Ihre Familie?

Im nächsten Moment tauschen wir bereits unsere Familiengeschichten aus. Auf köstliche Art und Weise zwischen Englisch, Deutsch und Jiddisch wechselnd stellen wir fest, dass unsere beiden Familien allesamt aus Galizien stammen.

Ihre Familie floh 1939 in die USA, Sie gingen dann dort in eine Jeschiwah (Talmudschule). Wie sehr hat Sie das in Ihrer Arbeit geprägt?

Kandel: Ja, ich ging in die Jeschiwa in Flatbush (Anm.: ein jüdisch-orthodoxes Viertel in Brooklyn, New York). Der Einfluss war unglaublich. Aber hier in Wien war ich in einer ganz normalen Volksschule in der Schulgasse im 18. Bezirk, gleich beim Gürtel. Die Schule gibt es nicht mehr.

Wie ist Ihre Beziehung zur jüdischen Religion heute?

Kandel: Sehr distanziert. Ich bin sehr jüdisch. Ich mag es, jüdisch zu sein. Aber ich gehe nur zu den hohen Feiertagen in die Synagoge. Meine Kinder sind viel religiöser als ich. Meine Tochter führt einen koscheren Haushalt. (Kandel fängt wieder zu lachen an.) Eines Tages rief meine Frau unsere Tochter an und sagte ihr: „Ich wollte, dass Du einen jüdischen Mann heiratest, aber ich wollte nicht, dass Du so übertreibst.“

In diesem Moment stößt Kandels Frau Denise zu dem Gespräch, sie bemerkt, dass sie mit ihrem Mann fotografiert werden soll und sofort entspannt sich ein höchst amüsanter Dialog:

Eric Kandel: Die Fotos sind viel attraktiver, wenn Denise mit drauf ist. Glauben Sie mir! Sie müssen wissen, wenn Denise nicht gewesen wäre, hätte ich nichts, rein gar nichts in meinem Leben erreicht.

Denise Kandel: Mir geht das so auf die Nerven, das dauernd zu hören.

Eric Kandel (fängt wieder herzlich zu lachen an): Ich sage Dir das jetzt seit 54 Jahren, es wird Zeit, dass Du mir glaubst.

Denise Kandel: Gib jetzt Ruhe, ich muss mich jetzt frisieren.

Eric Kandel geht nach der Jeschiwa auf eine High School und wird dort als einer von zwei Schülern aus unter 1.400 Bewerbern für ein Stipendium an der Harvard Universität ausgesucht. Die Eltern einer befreundeten Studienkollegin waren Psychoanalytiker, und so entwickelte auch Kandel ein Interesse an der Psychoanalyse. Besonders jedoch interessierte er sich an den neuronalen Vorgängen im menschlichen Gehirn, den Lernvorgängen und am Konzept des Unbewussten. Die Frage, ob bzw. wie eine psychoanalytische Behandlung das Gehirn verändert, beschäftigt Kandel bis heute, und deswegen ruft er die Psychoanalytiker immer wieder auf, mehr wissenschaftliche Studien zu machen.

Was war Ihr Beitrag zu beweisen, dass Sigmund Freuds Modell des psychischen Apparats richtig war?

Kandel: Null, absolut null. Ich habe das weder bewiesen noch widerlegt. Ich habe viel darüber nachgedacht und auch darüber geschrieben. Wenn Sie möchten, dass Freud als Wissenschaftler in Erinnerung bleibt, wenn Sie wollen, dass die Psychoanalyse als Wissenschaft Anerkennung findet, dann gehen Sie sich die Hände waschen und machen sich schleunigst an die Arbeit. Sie müssen beweisen, dass Psychoanalyse tatsächlich etwas bewirkt. Unter welchen Umständen sie wirkt und unter welchen nicht. Es gibt zwei Ebenen, auf denen die Psychoanalyse schwach ist. Eine Ebene ist die Effizienz. Die andere ist, wie sie funktioniert – das ist die viel schwierigere Frage. Aber mit den neuen bildgebenden Methoden könnten wir beginnen damit umzugehen. Ich habe dazu eine ganze Menge von Artikel geschrieben.

Den Nobelpreis hat Eric Kandel im Jahr 2000 für seine Gedächtnisforschungen erhalten, im Rahmen derer er feststellte, dass das Gedächtnis mit den synaptischen Verbindungen zwischen den Neuronen im Gehirn zusammenhängen. Der Durchbruch gelang ihm, indem er seine Annahmen über das höchst komplexe menschliche Gehirn in Versuchen an einfachsten Tierarten, der Aplysia, einer Meeresschnecke, bewies. Bis zur Verleihung des Nobelpreises wurde der als Erich Kandel in Wien geborene von Österreich nicht wahrgenommen. Das änderte sich jedoch plötzlich:

Kandel: Als ich den Nobelpreis erhielt, schrieb mir plötzlich der damalige Bundespräsident Klestil – davor hatte ich ja niemals etwas von Österreich gehört. Plötzlich also fragte er, wie könne Österreich mich ehren. Ich sagte: Ich bin nicht neugierig auf eine Anerkennung Österreichs, mit Jiches (jiddisch: Prestige) bin ich versorgt. Machen Sie ein Symposium an der Universität Wien über Österreichs Rolle im Nationalsozialismus – Österreich hatte ja Hitler mit offenen Armen willkommen geheißen – und dann komme ich. So gab es dann dieses Symposium und ich spüre, dass die Dinge besser werden in Österreich. Ich bin hoffnungsvoll.

Sie berichten immer wieder davon, wie schmerzvoll Ihre Erinnerungen an das Wien von 1938 sind.

Kandel: Ja, dieses Jahr hier in Wien, zwischen dem Anschluss und unserer Flucht, prägte mich am meisten. Wie mich meine Mitschüler plötzlich von einem Tag auf den anderen nicht mehr grüßten, die Angst, die Demütigungen, im Park verprügelt zu werden, zu erleben, wie die Gestapo unsere Wohnung durchwühlte, alles auf den Boden schmiss, wertvolle Dinge mitnahm und schließlich meinen Vater verhaftete. Gott sei Dank ließen sie ihn dann wieder raus, er war ja schließlich ein Veteran aus dem 1. Weltkrieg.

Sie kommen jetzt oft nach Wien zurück und engagieren sich auch dafür, dass Juden wieder nach Wien zuwandern sollen.

Kandel: Wien wird zunehmend wieder eine interessante Stadt. Ich würde gerne das intellektuelle Leben nach Wien zurückkehren sehen.

Sie kritisierten einmal Österreich sehr scharf.

Kandel: Ja, aber ich denke, die Dinge haben sich gebessert.

Wie können wir sicher sein, dass so etwas wie Hitler nicht mehr passieren kann?

Kandel: Sie können nie sicher sein. Die einzige Möglichkeit ist, dass Sie jegliche solche Tendenzen sofort offen attackieren. Antisemitismus ist universell. Die Fähigkeit zu hassen ist in jedem Menschen vorhanden, natürlich auch bei Juden. Es ist die Gesellschaft, die das sicherstellen muss. Ewige Alarmbereitschaft ist der Preis für Freiheit.

ERIC (ERICH) KANDEL
wurde am 7. November 1929 als zweiter Sohn einer jüdischen Familie in Wien geboren. Der Vater betrieb ein Spielwarengeschäft im 9. Wiener Gemeindebezirk. Ein Jahr nach dem Anschluss konnten zuerst er und sein älterer Bruder in die USA flüchten; die Eltern folgten ein Jahr danach. In New York besuchte Kandel zuerst eine Jeschiwa (Talmudschule). Später erhielt er als einer von zwei Schülern unter 1.400 Bewerbern ein Stipendium für die renommierte Harvard Universität. Nach Geschichts- und Literaturstudien wandte sich Eric Kandel der Medizin, insbesondere dem Studium der biologischen Vorgänge im menschlichen Gehirn zu. Dafür erhielt er 2000 den Medizinnobelpreis. Eric Kandel ist seit 54 Jahren glücklich mit seiner Frau Denise verheiratet und Vater von zwei Kindern. Er unterrichtet nach wie vor an der Columbia Universität in New York.

Die mobile Version verlassen