Wiederbelebung eines versunkenen Rundfunk-Universums

Die 1930er und 1940er Jahre kann man als das „Goldene Zeitalter“ des jiddischen Rundfunks in den USA bezeichnen. Alles, was davon übrig blieb, sind etwa tausend Schallplatten. Sie erzählen eine faszinierende Geschichte über ein fast vergessenes Kapitel amerikanischer Kulturgeschichte, das jetzt umfangreich dokumentiert wurde.
Von Herbert Voglmayr

Als Henry Sapoznik, der Direktor des Tonarchivs im YIVO (Institute for Jewish Research) in New York, im Frühjahr 1985 mit der Subway zum Times Square pilgerte, erging es ihm ein wenig wie dem König Saul, der die Eselinnen seines Vaters suchte und ein Königreich fand. Er fuhr zur New Yorker Radiolegende Joe Franklin, der sein dortiges Büro räumen musste und deshalb seine umfangreiche Sammlung an Nostal­gie-Objekten aus dem Showbiz zum Verkauf anbot: Notenblätter, Werbefotos, alte Fan-Magazine, Stummfilmrollen (zum Teil unaufgespult) und Unmengen an alten Schellack-Schallplatten. Sapoznik war auf der Suche nach alten Klezmer-Schellacks, fand jedoch, auf dem Boden verstreut, viel größere Platten, die er vorher noch nie gesehen hatte und die sich als Schatz der jiddisch-amerikanischen Kultur entpuppten. Es handelte sich um alte Aluminium-Platten, die noch vor den Schellacks als Aufnahmemedium in Gebrauch waren und einen Durchmesser von 16 Zoll (ca. 40 cm) haben. Sie sind mit Azetat beschichtet, einer weichen, plastikartigen Masse, die als Tonträger fungierte und eine relativ gute Tonqualität gewährleistete, jedoch nicht für eine lange Haltbarkeit bestimmt war. Sapoznik, dessen Muttersprache Jiddisch ist, entdeckte auf den verschlissenen Labels einige jiddische Brocken und Aufschriften wie „Yiddish Melodies in Swing“ oder „Life Is Funny with Harry Hirschfield“. Joe Franklin überließ ihm die etwa zwanzig Platten für die Barschaft von $ 30,-, die er gerade in der Tasche trug, und Sapoznik machte sich daran, einen alten Plattenspieler aufzutreiben, mit dem er die Platten abspielen konnte. Als er das geschafft hatte und die erste Platte auflegte, hörte er eine klare, kräftige Stimme mit folgender Ankündigung: „From atop the Loews State Theater Building – your American Jewish hour. The B. Manischewitz Company, world’s largest matzo bakers, happily present, Yiddish Melodies in Swing‘.“ (Vom Gebäude des Loews Staatstheaters – Ihre amerikanisch-jüdische Stunde. Die B. Manischewitz Company, der Welt größte Mazzes-Bäcker, freuen sich, jiddische Melodien in Swing zu präsentieren.) Und dann war er wie elektrisiert von der mitreißend swingenden Jazzversion des alten Pessach-Liedes „Dayenu“, womit eine 17 Jahre dauernde Bergeaktion begann, in der Sapoznik weitere Platten dieser Art und andere Überreste des American Yiddish radio suchte. Er fand etwas mehr als tausend Platten aus jener Zeit, wobei die größte Herausforderung darin lag, die zum Teil stark verschmutzten Platten zu reinigen und die oft schon stark ramponierte Azetatbeschichtung so weit zu restaurieren, dass man sie abspielen und auf moderne Tonträger übertragen konnte, was mit Hilfe eines darauf spezialisierten Tontechnikers gelang. Als all diese Schwierigkeiten überwunden waren, öffnete sich eine ganze Radiowelt, die einen außergewöhnlich vitalen Eindruck vom Leben der jüdischen Gemeinden in Amerika, insbesondere in New York, vermittelte, das sich in den Rundfunkprogrammen widerspiegelte. Die äußerst vielfältige Programmpalette der zahlreichen jiddischen Radiostationen (allein in New York waren es bis zu 23) umfasste neben Varieté-Programmen, Interviews mit den Leuten von der Straße und Werbespots für jüdische Betriebe auch Leitartikel in Reimen, Radiodramen, die das schwierige Immigrantenleben dramatisierten, und sogar einen Radiogerichtshof, in dem Mediationsverfahren übertragen wurden, die von einem Rabbi geleitet und für Juden eingerichtet worden waren, denen das amerikanische Justizsystem fremd war oder die zu arm waren, um sich ihr Recht bei einem behördlichen Gerichtshof zu verschaffen. Und über allem war da diese unglaublich mitreißende Musik, der Yiddish Swing, in dem Klezmer, die traditionelle Musik der osteuropäischen Juden, eine Fusion mit dem Jazz eingegangen war und – wie man es heute nennen würde – Crossover-Hits hervorbrachte, die einen immer noch lebendigen Eindruck vom brodelnden, vibrierenden Musikleben der Swing-Ära vermitteln.

Die Radio-Ära begann in den 20er Jahren, als die letzte von mehreren großen Einwanderungswellen abgeschlossen war, die seit der Wende zum 20. Jahrhundert mehr als zwei Millionen jüdische Immigranten aus Osteuropa ins Land gebracht hatte, deren gemeinsame Sprache das Jiddische war. In New York wimmelte es von Musikern, die in jiddischen Theatern, Restaurants, bei Hochzeiten und Bar Mizwas spielten und schnell das neue Medium für sich nutzten, sodass Anfang der 30er Jahre das jiddische Radio landesweit sendete. Die traditionelle Klezmermusik war vor allem bei den älteren Hörern beliebt, die dazu ein Leben lang getanzt hatten, während die jüngere Generation sich mehr für den modernen Jazz interessierte. Die Verbindung der beiden Musikrichtungen war also naheliegend und trug auch zu einer Verbindung zwischen den Generationen bei.

Der kometenhafte Aufstieg des Yiddish Swing begann 1937 mit dem Lied „Bei Mir Bistu Shein“ (Ich finde dich schön), gesungen von den Andrew Sisters. Es wurde von führenden Musikern jener Zeit (z.B. Benny Goodman) bearbeitet und in viele andere Sprachen übersetzt. Das Lied war sogar in Hitlerdeutschland ein Hit, bis die Nazis dahinterkamen, dass der Komponist ein Jude war und der Titel nicht, wie angenommen, aus einem süddeutschen Dialekt, sondern aus dem Jiddischen kam.
Die Musik stammt von Sholom Secunda, der das Lied 1932 als Teil eines jiddischen Musicals komponierte, das aber bald wieder abgesetzt wurde. In den folgenden Jahren der wirtschaftlichen Depression verkaufte Secunda die Verwertungsrechte für das eine Lied um magere $ 30,– an die Musikverleger Jack und Joe Kammen. Als der Lyriker Sammy Cahn 1937 eine Show im Apollo-Theater in Harlem besuchte, traten dort zwei afroamerikanische Sänger auf, die das Lied „Bei Mir Bistu Shein“ sangen – in Jiddisch. Das Publikum tobte vor Begeisterung und Cahn reagierte schnell. Er überzeugte seinen Arbeitgeber, die Warner Brothers, die Rechte von den Kammen-Brüdern zu kaufen. Cahn schrieb einen neuen Text dazu und man engagierte ein lutheranisches Geschwistertrio aus Minnesota, deren Bandleader (passenderweise mit dem Namen Vic Schoen) das Lied im Jazzstil der 30er Jahre, also des Swing, arrangierte. Das Debüt mit den Andrew Sisters schlug ein wie eine Bombe und die Ära des Yiddish Swing hatte begonnen.

Sammy Cahn behauptete später, er habe von dem Geld, das er mit „Bei Mir“ verdiente, seiner Mutter ein Haus gekauft. Der Komponist Sholom Secunda jedoch ging leer aus, was seine Mutter als Strafe Gottes ansah. Sie ging ein Vierteljahrhundert lang täglich in die

Synagoge, um Gottes Vergebung zu erbitten, weil sie glaubte, er habe ihren Sohn für eine Sünde bestraft, die sie selbst begangen hatte.

Die New Yorker Station WHN stellte innerhalb weniger Wochen ein Showprogramm mit dem Titel „Yiddish Melodies in Swing“ auf die Beine, das der neuen Musikrichtung gewidmet war und bis Mitte der 50er Jahre wöchentlich gesendet wurde. Dann kam mit dem Fernsehen das rasche Ende der Radio-Ära und damit der Niedergang der jiddischen Radiokultur, der aber auch noch andere Gründe hatte. Die Vernichtung eines Großteils der europäischen Juden durch die Nazis ließ den Strom an Einwanderern jiddischer Sprache fast zum Stillstand kommen, andererseits wandten sich frühere Einwanderer von der jiddischen Kultur ab, um sich in der Neuen Welt zu assimilieren. Und durch die Entscheidung Israels, Hebräisch zur offiziellen Sprache des neuen jüdischen Staates zu machen, wurde die jiddische Sprache an den Rand gedrängt.

Wenn man das Schicksal der jiddischen Sprache und die wenig dauerhaften Aufnahmemedien der damaligen Zeit bedenkt, grenzt es an ein Wunder, dass es überhaupt noch Überreste aus dem „Goldenen Zeitalter“ des jiddischen Rundfunks gibt. Es ist das Verdienst von Henry Sapoznik und seinem Team, mit dem Yiddish Radio Project dieses Kapitel der amerikanischen Kulturgeschichte dem Vergessen entrissen zu haben. Die Tondokumente, die sie gesammelt und auf moderne Tonträger übertragen haben, vermitteln einen durchaus lebendigen Eindruck von der vibrierenden, überschäumenden Kreativität und Vitalität dieser Kultur. CDs und Kassetten sind auf der Website www.yiddishradioproject.org zu erwerben, wo man auch umfangreiche Informationen zu diesem Projekt und zur Geschichte der jiddisch-amerikanischen Kultur findet.

Herbert Voglmayr,
Publizist in Wien. Letzte Veröffentlichungen: Weinreiseführer durch verschiedene italienische Weinregionen. Die Psychoanalyse in der Tradition der Aufklärung.

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