Wie geht es uns Juden in Europa wirklich?

Von Martin Engelberg

Zwei Umfragen beschäftigten die jüdische Welt in den vergangenen Wochen. Die EU-Umfrage unter jüdischen Menschen in acht EU-Staaten zum Thema Antisemitismus und eine allgemeine Untersuchung der jüdischen Gemeinschaft in den USA andererseits.

Zwei Drittel der befragten Jüdinnen und Juden in Europa sehen den Antisemitismus in ihrem Land als gravierend an und drei Viertel erleben diesen schlimmer als vor fünf Jahren. Die jüdische Befindlichkeit in Europa hat sich dementsprechend also stark verschlechtert. Wie sieht es dann mit der Zahl tatsächlicher Übergriffe aus? In der jüngsten Umfrage geben nur vergleichsweise geringe vier Prozent der Befragten an, sie wären im vergangenen Jahr tatsächlich bedroht oder sogar Opfer von Gewalt gewesen.

Die Tatsache, dass die Hälfte der Übergriffe muslimischen oder Links- Extremisten zugeschrieben werden, gibt einen Hinweis auf eine wichtige Wurzel des Problems: In einigen europäischen Ländern, insbesondere in Frankreich, Belgien, Großbritannien und Schweden sind die Spannungen zwischen den jeweiligen jüdischen Gemeinden und den stark wachsenden und oft radikalen muslimischen Gemeinschaften erheblich gestiegen.

Europameister des althergebrachten Antisemitismus ist derzeit eindeutig Ungarn. Dort wird mit der Hetze gegen Juden und noch mehr gegen Sinti und Roma Politik gemacht, wie in den 1930er-Jahren. In unserem östlichen Nachbarland, immerhin Heimat der drittgrößten jüdischen Gemeinde Europas, fühlen sich dementsprechend 90 Prozent der Jüdinnen und Juden stark durch Antisemitismus bedroht.

Österreich war nicht Teil dieser jüngsten EU-Umfrage zum Thema Antisemitismus. Eine Untersuchung der renommierten jüdisch-amerikanischen „Anti-Defamation League“ im Jahre 2012 ergab für Österreich einen leichten, aber stetigen Rückgang antisemitischer Vorurteile in der Bevölkerung. Auch die Zahl antisemitischer Vorfälle sinkt in Österreich.

Sehr ähnlich dürfte die Situation in Deutschland sein. Wie wäre es sonst erklärbar, dass sich in den letzten Jahren Berlin zur neuen Diaspora für Israelis entwickelt hat. Die israelische Botschaft spricht von 17.000 Israelis, die heute in der Hauptstadt Deutschlands leben, inoffiziell sollen es gar 30.000 sein. Inmitten zahlreicher Denkmäler und Gedenktafeln zum Holocaust und der Nazizeit, gibt es Meschugge-Partys, Humus-Restaurants und eine eigene Homepage israelisinberlin.de. Wären die Israelis nach Wien gekommen, hätte sich die Größe der hiesigen jüdischen Gemeinde damit zumindest verdreifacht.

Was bedeutet das für unsere Gemeinde hier in Österreich? Die Untersuchung über die Situation der Juden in den USA (siehe den Artikel dazu in dieser Ausgabe von NU) sollte auch uns zu denken geben: 22 Prozent sehen sich als Jüdinnen und Juden ohne Religion – Tendenz steigend – die heute 30-Jährigen empfinden sich bereits zu einem Drittel als solche. 79 Prozent von diesen haben dann auch keinen jüdischen Partner und zwei Drittel erziehen ihre Kinder nicht jüdisch. Nur knapp über 50 Prozent aller jüdischen Menschen in den USA fasten zu Jom Kippur und bloß 13 Prozent können alle oder zumindest die meisten Worte verstehen, wenn sie hebräisch, also z. B. Gebete, lesen.

Die Antwort ist daher eindeutig: Die weitaus größte Bedrohung für das Judentum in den USA und Europa ist also die Assimilation. Es fehlt an der Förderung jüdischer Traditionen, der Vermittlung jüdischen Wissens, welcher Richtung auch immer, einer umfassenden und alle Teile der Gemeinde ansprechenden jüdischen Erziehung, an einem stärkeren Gemeinschaftsgefühl, einer Betreuung der Mitglieder durch die jüdische Gemeinde in allen Lebenssituationen und so weiter und so fort.

Für sehr viele Jüdinnen und Juden ist die Erinnerung an die Schoah und der Kampf gegen den Antisemitismus das wichtigste jüdische Identifikationsmerkmal. Das wird in der Zukunft nicht genügen, um sich sein Judentum zu erhalten. Dies sollte unsere Lehre aus den beiden aktuellen Untersuchungen sein.

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