Wie ein Raumschiff aus einer besseren Zukunft

Seit einem Jahr ist ein Teil des Museums der Geschichte der polnischen Juden in Warschau geöffnet. Der sehenswerte Bau ist Favorit im Rennen um den polnischen Architekturpreis 2013.
Von Michael Laczynski

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Wer sich heute mit der polnischen Geschichte befasst, lebt in interessanten Zeiten. Nachdem die Beschäftigung mit der Vergangenheit in der Periode 1945 bis 1989 im wahrsten Sinne des Wortes schockgefroren war und der Prozess des Auftauens bekanntlich eine Weile dauert, werden historische Ereignisse, über die der real existierende Sozialismus den Mantel des Schweigens ausgebreitet hatte, erst seit Kurzem thematisiert. Was da seit einigen Jahren zum Vorschein kommt, ist nicht immer schön anzusehen, rüttelt aber an bequemen Illusionen und unreflektierten Mythen der polnischen Gesellschaft – ein längst überfälliger Prozess, möchte man meinen. So wird mittlerweile nicht mehr zum gottlosen Landesverräter abgestempelt, wer – wie etwa der amtierende Außenminister Radosław Sikorski – laut darüber nachdenkt, ob der von diversen „Patrioten“ zum Glanzlicht der Geschichte erhobene Warschauer Aufstand von 1944 mehr gebracht hat außer 200.000 Todesopfern und der großflächigen Zerstörung der polnischen Hauptstadt. Der Journalist und Historiker Piotr Zychowicz wiederum verstieg sich in seinem vor eineinhalb Jahren publizierten Bestseller „Pakt Ribbentrop-Beck“ gar zur gewagten These, Polen hätte in den 1930er-Jahren besser mit dem Dritten Reich gemeinsame Sache machen und in die Sowjetunion einmarschieren sollen, anstatt sich 1939 von West und Ost überfallen zu lassen. Zu sagen, Zychowiczs Buch sei heftig debattiert worden, wäre eine ziemliche Untertreibung.

Und natürlich geht es immer wieder um das alles andere als einfache Verhältnis zwischen Polen und Juden. Als der polnisch-amerikanische Historiker Jan T. Gross 2001 in seinem Buch Nachbarn die Ermordung der Juden von Jedwabne durch ihre nichtjüdischen Mitbürger im Jahr 1941 beschrieb, wurde er noch als Propagandist und Polen-Hasser verunglimpft. Unzählige Dispute später jedoch ist die Erkenntnis, dass Polen nicht nur Opfer, sondern auch Täter waren, weit verbreitet und wird nur mehr von Nationalisten und sonstigen Betonköpfen bestritten. Auch der von kommunistischen Machthabern angezettelten „antizionistischen“ Hetze des Jahres 1968 (Israel war ja Verbündeter der USA, während seine arabischen Widersacher von der UdSSR unterstützt wurden), die in einer regelrechten Auswanderungs- bzw. Flüchtlingswelle kulminierte, wird mittlerweile gedacht.

Das neue Wahrzeichen Warschaus
Insofern könnte der Zeitpunkt für die Eröffnung eines repräsentativen Museums über die wechselvolle Geschichte der Juden in Polen nicht besser sein. Seit April 2013 hat das „Muzeum Historii Zydów Polskich“ (Museum der Geschichte der polnischen Juden) in Warschau seine Pforten geöffnet – zumindest einen Spalt, doch dazu später. Das im innerstädtischen Viertel Muranów situierte Gebäude wirkt wie eine triumphale Geste in dem ansonsten wenig ansehnlichen Distrikt, in dem die NSBesatzer das Warschauer Ghetto eingerichtet hatten, um es dann 1943 im Zuge des Aufstands seiner todgeweihten Insassen sukzessive dem Erdboden gleichzumachen. Inmitten der grauen Bausubstanz aus den Nachkriegsjahren wirkt das Museum wie ein Raumschiff aus einer besseren Zukunft, das in der post-sozialistischen Gegenwart notgelandet ist. „Es ist das wohl schönste Gebäude, das 2013 eingeweiht wurde“, schwärmt das Architekturportal Bryla.pl, das den Bau unter die Favoriten für seinen jährlichen Architekturpreis reiht.

Entworfen wurde dieses neue Wahrzeichen Warschaus vom finnischen Architekten Rainer Mahlamäki, der sich dabei von einem Ursprungsmythos des Judentums inspirieren ließ: dem Auszug der Israeliten aus Ägypten. Die spektakuläre Eingangshalle des Museums gestaltete Mahlamäki als organische, lichtdurchflutete Schlucht aus sandfarbenem Beton, die an die Teilung des Roten Meeres durch Moses erinnert. Der Finne machte von Anfang an klar, dass sein Projekt Leichtigkeit und Vitalität ausstrahlen soll und nicht drückende Schwere: „Das ist kein Museum des Holocaust, sondern der jüdischen Kultur“, sagte Mahlamäki in einem Interview. „Es knüpft an die Vergangenheit an, ist aber zugleich zukunftsgewandt.“ 200 Millionen Zloty, umgerechnet knapp 50 Mio. Euro, kostete der Bau, finanziert wurde er je zur Hälfte von der Stadt Warschau und dem polnischen Kulturministerium.

Ein leeres, aber lebendiges Museum
Bis ins antike Ägypten wird die Geschichte, die das Museum erzählt, aber nicht reichen. Die ersten jüdischen Händler trafen vor gut tausend Jahren in Polen ein – und genau hier fängt das Narrativ an. Kernstück des Museums ist eine 4000 Quadratmeter große multimediale Ausstellung, die die Geschichte der Juden in Polen von ihren Anfängen im Frühmittelalter bis zur Nachkriegszeit erzählt. Und zwar aufgeteilt auf sieben Stationen: „Wald“ (Mythen über die Ankunft der Juden in Polen), „Erste Begegnungen“ (Mittelalter), „Paradisus Ludaeorum“ (Blütezeit unter der Herrschaft der Jagiellonen-Dynastie im 15. und 16. Jahrhundert), „Das Städtchen“ (Alltag im 17. und 18. Jahrhundert), „Herausforderungen der Moderne“ (das Zeitalter der Industrialisierung), „Die Straße“ (kulturelle Renaissance in der Zwischenkriegszeit), „Vernichtung“ (der Holocaust) und zu guter Letzt „Die Nachkriegszeit“. Ergänzt wird das Erlebnis durch einen „Wall of Fame“, den sich US-amerikanische Sponsoren der rund 30 Mio. Euro teuren Hauptausstellung gewünscht haben sollen und der berühmte Polen jüdischer Abstammung würdigt – etwa den Automobil-Pionier André- Gustave Citroën, dessen Mutter Masza Amalia Kleinmann aus Warschau stammte, oder den Schriftsteller und Futurologen Stanisław Lem. Kuratiert wurde der historische Parcours von einem gut hundertköpfigen Team unter der Leitung der US-Wissenschafterin Barbara Kirshenblatt- Gamblett von der New York University. Die Eröffnung ist für den kommenden Oktober angesetzt.

Und genau hier fangen die Schwierigkeiten an, denn noch ist das Museum de facto leer, wenn man von einer als Verlegenheitslösung gedachten, etwas lieblos geratenen Ausstellung mit dem Titel „Biografien der Dinge“ einmal absieht. Dass der Eröffnungstermin immer wieder verschoben werden musste, hängt mit drei grundsätzlichen Problemen zusammen, mit denen sich das Museum und seine Leitung konfrontiert sehen.

Problem Nummer eins ist die Frage der Balance zwischen Seriosität und Breitenwirkung – seit das Ausstellungskonzept publik gemacht wurde, gibt es heftige Diskussionen darüber, ob das Ergebnis nicht zu seicht geraten ist. Die Publizistin Anna Bikont artikulierte in der Tageszeitung Gazeta Wyborcza die Sorge, dass das Museum ein ähnliches „Jiddisch Disneyland“ wie das von Kreml-treuen Oligarchen gestiftete „Zentrum der Toleranz“ in Moskau zu werden drohe, wo Besucher mit kitschiger Schtetl-Folklore traktiert werden. Auch von der hineinreklamierten jüdischen Ruhmeshalle hält Bikont wenig – das sei „charmanter Infantilismus“ nach dem Vorbild der Traumfabrik Hollywood, der in Warschau nichts zu suchen habe.

An diesen Disput knüpft das zweite Problem des Museums an: Wer ist eigentlich dessen Zielpublikum? Sind es jüdischstämmige Besucher aus dem Ausland, die auf den Spuren ihrer Vorfahren wandeln wollen, oder sind es Polen, die eine „vertraute, zugleich aber unverständliche Exotik“ kennenlernen möchten, wie es Piotr Pazinski, der Chefredakteur des jüdischen Kulturmagazins Midrasz, gegenüber NU formuliert. Pazinski glaubt, dass das Museum vor allem „Touristen und Schulklassen“ ansprechen soll – und auch er sorgt sich darum, dass die Ausstellung ein verzerrtes Bild bieten könnte: Auf der einen Seite das Schtetl, auf der anderen Seite die Literaten, und von der breiten Mittelschicht keine Spur.

Doch das potenziell größte Problem ist die Nähe zur Politik, die das Museum finanziert hat und dessen Betrieb sie weiter dotieren wird müssen. Denn davon, dass sich die Institution zur Gänze selbst erhalten kann, geht so gut wie niemand aus. Und nach Ansicht von Pazinski haben die Regierenden ein übergeordnetes Interesse: Zu zeigen, „dass alles gut ist“ – das Museum wäre demnach das Aushängeschild des neuen Polens. Ein kontroverses Geschichtsbild, das diesen schönen Schein stört, wäre demnach unerwünscht.

Ob sich diese Sorgen bewahrheiten, wird sich freilich erst mit dem Normalbetrieb weisen, denn noch funktioniert das Museum sozusagen im Leerlauf. Angesichts dieser Tatsache ist es ziemlich erstaunlich, dass seit April 2013 schon mehr als 200.000 Besucher gezählt wurden. Und diese hohe Besucherzahl zeigt, dass die Direktion eines richtig gemacht hat: Sie hat das Museum bereits jetzt als Kulturzentrum etabliert. Es gibt Räume für Konzerte, Vorträge und Filmvorführungen, eine Buchhandlung, eine Cafeteria – sowie ein dicht gepacktes Programm, das von Kabarettvorführungen über Schulungen und Diskussionen, bis hin zu Kinderkursen reicht. Insofern kann man mit gutem Gewissen sagen, dass Rainer Mahlamäkis Raumkonzept voll aufgegangen ist: Das Museum der Geschichte der polnischen Juden ist in der Tat ein sehr lebendiger Ort.

Muzeum Historii Zydów Polskich
Anielewicza 6, 00-157 Warszawa
www.jewishmuseum.org.pl

Öffnungszeiten:
Montag bis Sonntag, 10 bis 18 Uhr
Dienstags geschlossen

Eintritt frei

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