Welcher Zauber hat Deutschland wieder Hoffnung gegeben? Hitler

Prinz Harry in Nazi-Uniform erinnert die Briten an dunkle Seiten ihrer Vergangenheit.
Von Axel Reiserer, London

Auf kaum ein Kapitel der Geschichte blicken die Briten so stolz zurück wie auf den Zweiten Weltkrieg. Während auf dem europäischen Kontinent die Staaten wie Dominosteine unter die Herrschaft Nazi-Deutschlands fielen, leistete das Inselvolk dem Tyrannen Adolf Hitler unbeugsam Widerstand. Kein Staatsmann hatte den Weitblick Winston Churchills, der die Verbrechensnatur des Nationalsozialismus frühzeitig erkannte und anprangerte. Geeint stand die Nation hinter ihm. Die deutschen Luftangriffe, „The Blitz“, töteten 60.000 Zivilisten und richteten schwerste Schäden an. 270.000 britische Soldaten fielen für die Befreiung des Kontinents von der Nazi-Barbarei.All das ist wahr. Nur ist es nicht die ganze Wahrheit. Zwar hatte Großbritannien selbst in den schlimmsten Krisen der Zwischenkriegszeit keine Nazi-Bewegung von Bedeutung. Sehr wohl aber gab es lange Zeit Sympathien für „Deutschlands Erwachen“ nach 1933, hatten die Briten ihren Flirt mit dem Faschismus (italienischer Prägung), traten sie Hitler lange Zeit keineswegs entschlossen entgegen (Appeasement) und ist die Geschichte der Aufnahme jüdischer Flüchtlinge vor, während und selbst nach dem Zweiten Weltkrieg kein Ruhmesblatt der nationalen Geschichte.Da Großbritannien niemals besetzt war, blieben der Nation Dramen der Kollaboration, des Verrats und der Unterwerfung erspart. Wo es aber wie auf den Kanalinseln eine Okkupation durch Nazi-Deutschland gab, kam es zu genau demselben schmachvollen Verhalten von Behörden und Bevölkerung wie in fast allen Ländern des Kontinents unter Nazi-Herrschaft.Zu den Opfern gehörten auch Juden aus Österreich. Therese Steiner und Auguste Spitz waren in den späten 1930er Jahren auf der Flucht nach Guernsey gekommen. Nachdem die Deutschen die Insel eingenommen hatten, verhängten sie schrittweise anti-jüdische Maßnahmen nach dem Vorbild des Dritten Reichs. Die lokalen Behörden folgten gewissenhaft den deutschen Befehlen. Alle Juden mussten sich registrieren lassen. Steiner, Spitz und drei weitere kamen dem Befehl nach. Am 21. April 1942 wurden sie nach Auschwitz deportiert, wo sie ermordet wurden.Elisabet Duquemin, eine Zeitzeugin, erinnert sich: „Sie hatten ein Papier der Deutschen bei sich, dass sie sich am nächsten Morgen melden mussten, um nach Frankreich deportiert zu werden. Sie hatten fürchterliche Angst. Ich sah die beiden nie wieder.“ Therese war 26, Auguste 41 Jahre alt. Großbritannien nahm 1933–1939 rund 90.000 Flüchtlinge auf, von denen fast 90 Prozent Juden waren. In der gleichen Periode ließen die Briten rund 140.000 Juden in Palästina einwandern. Nach Unruhen unter der arabischen Bevölkerung wurde dieser Fluchtweg 1939 praktisch geschlossen – gerade als die Nazi-Kriegsmaschine auf Hochtouren kam. Immer wieder versuchten verzweifelte Menschen dennoch auf kaum seetauglichen Schiffen nach Palästina zu gelangen. Tausende kamen dabei ums Leben.Am 12. Dezember 1941 verließ das letzte Schiff während des Zweiten Weltkriegs Europa. Die Struma legte mit 769 jüdischen Flüchtlingen an Bord vom rumänischen Constanza ab. Der Plan war, in türkischem Hoheitsgebiet zu ankern und auf eine Einreisebewilligung nach Palästina zu warten. Vor Istanbul erlitt das desolate Schiff einen Motorschaden. Die türkischen Behörden lehnten jede Hilfe ab und verboten den Passagieren das Verlassen der Struma. Die Briten verweigerten ihnen Papiere. Nach 70 Tagen schleppten die Türken am 23. Februar 1942 das seeuntaugliche Schiff ins Schwarze Meer. Einen Tag später wurde die Struma von einem Torpedo getroffen und sank. Ein einziger Passagier überlebte.Die Haltung der britischen Behörden zu jüdischen Flüchtlingen war lange von der Fehleinschätzung bestimmt, es handle sich um eine vorübergehende Krise. Wie Louise London in ihrer Studie „Whitehall and the Jews“ zeigt, wurde die Frage von den Behörden stets als „Problem, nicht als humanitäres Anliegen“ betrachtet. Das Fehlen internationaler Rechtsnormen lieferte Flüchtlinge schutzlos staatlicher Willkür aus. Sowohl die Behörden als auch die führenden Repräsentanten des britischen Judentums fürchteten antisemitische Reaktionen auf verstärkte jüdische Immigration: „Die Menge, die aufgenommen werden kann, ist sehr gering“, warnte Chaim Weizmann 1936. Erst als sich die Nachrichten über den Holocaust verbreiteten, änderte sich die Einstellung. In einer Umfrage von 1943 sprachen sich 78 Prozent der Befragten für die Aufnahme von mehr jüdischen Flüchtlingen aus. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt ein Entkommen aus der Nazi-Hölle bereits praktisch unmöglich geworden. Dass die Briten ebenso wie die USA nichts taten, um die Vernichtungsmaschinerie von Auschwitz zu stoppen, obwohl sie seit spätestens 1943 gesicherte Hinweise hatten, sorgt heute noch für heftige Debatten.Dass auch Großbritannien lange nicht die wahre Natur Nazi-Deutschlands erkannte, hatte mehrere Gründe. Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem 750.000 britische Soldaten fielen, erfolgte ein politischer und mentaler Rückzug aus Europa. Priorität hatte die Zukunft des Kolonialreichs, das zwar damals seine größte Ausdehnung erreichte, dessen Zusammenhalt aber immer schwächer wurde (Irland, Indien). Die Außenpolitik orientierte sich allein an Bedrohungen der nationalen Interessen und der Sicherheit.Zudem gab es unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gewisse Sympathien für die Deutschen, die man wegen der Unnachgiebigkeit Frankreichs unmäßig hart bestraft sah. Besonders unter der Linken war diese Stimmung verbreitet. Niemand anderer als John Maynard Keynes warnte damals, dass die Konditionen der Versailler Friedensverträge zum Ruin Deutschlands und damit möglicherweise zu einem neuen Krieg in Europa führen würden.Zudem hatten wichtige Kreise Großbritanniens in den ersten Jahren der Herrschaft Hitlers Verständnis für die Politik des „Heim-ins-Reich-Holens“. Das Ende des Ersten Weltkriegs hatte den Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie und des zaristischen Russlands gebracht. Bei der Bildung der Nationalstaaten wurden Millionen Menschen transferiert, verschoben und vertrieben. Vielen britischen Politikern erschien es da nur verständlich, dass Deutschland ab 1933 eine ähnliche Politik zu betreiben schien. Ein starkes Deutschland schien wiederum vielen Politikern der Rechten als Bollwerk gegen die Sowjetunion. Die Machtergreifung der Kommunisten und der Bürgerkrieg in Russland hatten die herrschende Klasse Großbritanniens mit tiefer Angst erfüllt. Antisemitische Journale wie The Patriot konnten nicht genug vor der „jüdisch-bolschewistischen“ Gefahr warnen. The Patriot – und viele andere Publikationen der Rechten – mochte freilich auch die Deutschen nicht.Ausgesprochen pro-deutsch war hingegen Lord Londonderry, der von 1931 bis 1935 sogar Luftfahrtminister in einer konservativen Regierung war. Wie Ian Kershaw in seiner Studie „Making Friends With Hitler“ nachwies, war sein antisemitisches, pronationalsozialistisches und antirussisches Gedankengut unter der britischen Aristokratie wesentlich verbreiteter, als man bis heute einzugestehen bereit ist.Es ist genau diese dunkle Seite der Geschichte, an die Prinz Harry mit seinen Fotos in Nazi-Uniform im Jänner die Briten erinnerte. Was ihnen ganz und gar nicht gefiel. Mehrheitlich wurde Harrys skandalöser Auftritt freilich als Fauxpas eines „dummen Buben“ abgetan. Das Königshaus, das nicht nur deutsche Vorfahren, sondern in der Rolle des 1936 abgetretenen Königs Edward VIII. auch einen offenen Nazi-Bewunderer in seiner Ahnenreihe hat, schwieg peinlich betreten. Obwohl Londonderry wegen der Radikalität seiner Ansichten stets ein politischer Außenseiter blieb, war sein Einfluss auf die verhängnisvolle Appeasement-Politik gegenüber Hitler erheblich. Nach seiner Entlassung aus der Regierung besuchte er mehrfach Deutschland und traf Hitler, Göring, Hess und andere Nazi-Größen. Auf seinem Landgut unterhielt er Deutschlands Botschafter und späteren Außenminister Ribbentrop. Selbst nach Kriegsbeginn hielt er an seinen Sympathien für Nazi-Deutschland fest. Bis zu seinem Tod 1949 behauptete er, „wir hätten eine friedliche Einigung mit Hitler finden können“.Die Verfolgung der Juden störte ihn und seinesgleichen nicht, die Berichte über das Novemberpogrom 1938 hielt man in diesen Kreisen für „weit übertrieben“. Viele britische Aristokraten sahen die Nazis zwar als „vulgär“ an, wie Kershaw schreibt, fühlten sich aber von „ihrer Verachtung der Demokratie und ihrem Hass gegen Juden und Russland angezogen“.Weil Politik in Großbritannien damals vor allem Sache einer kleinen Elite war (und die Labour Party als einzige Massenpartei in den Sachzwängen einer großen Koalition gefangen war), sprang das Gedankengut eines Londonderry und zahlreicher ähnlich denkender Personen nie auf die Massen über. Der einzige wirklich bedeutende Versuch dazu wurde in den 1930er Jahren von Oswald Mosley unternommen, dessen British Union of Fascists am Höhepunkt ihrer Bedeutung 50.000 Mitglieder hatte. Fasziniert von Mussolinis Vorbild, strebte Mosley die Machtergreifung über Mobilisierung der Massen an.Dabei genoss er auch aus dem Establishment signifikante Unterstützung. Die damals größte und bis heute führende Tageszeitung Daily Mail stellte sich machtvoll hinter Mosley. Ihr Eigentümer Lord Rothermere schrieb am 28. Dezember 1934: „Welcher Zauber hat den Herzen Deutschlands die Hoffnung wieder geschenkt und den Augen der Deutschen das Leuchten des Mutes und des Selbstbewusstseins? Und wer hat dieses mächtige Volk magnetisiert, sodass man sich heute in seiner Mitte wie in einem mächtigen Kraftzentrum fühlt? Hitler. Das ist die ganze Antwort.“

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