„Was hat Eislaufen mit Religion zu tun?“

Harry Bibring wurde 1925 in Wien geboren, wo sein Vater ein Kleidergeschäft führte. Er überlebte den Holocaust, weil er 1939 mit einem Transport jüdischer Kinder nach England kam. Er liebte das Eislaufen und ist Zeitzeuge der Geschichte des Wiener Eislauf-Vereins.
VON AGNES MEISINGER (TEXT) UND MILAGROS MARTÍNEZ-FLENER (FOTOS)

Harry Bibring ist mit dem Eislaufsport aufgewachsen. Nach dem „Anschluss“ durfte er nicht mehr auf seinen geliebten Eislaufplatz. Gemeinsam mit seiner Schwester flüchtete er mit einem Kindertransport nach England. Jetzt war er auf Einladung des Jewish Welcome Service auf Wien-Besuch und hat mit NU über seine Jugend gesprochen. Seine Erinnerungen werden in eine Aufarbeitung der Geschichte des Wiener Eislauf-Vereins einfließen, die derzeit am Institut für Zeitgeschichte der Uni Wien in Vorbereitung ist.

NU: Können Sie sich noch an Ihren ersten Besuch beim Wiener Eislauf-Verein erinnern?

Harry Bibring: Nein, das kann ich nicht. Ich muss ungefähr fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, als man mir Eislaufen beigebracht hat. Ich kann mich nur an das Eislaufen erinnern, aber nicht an das Lernen. Für mich ist es so, als wäre ich mit dem Eislaufen geboren worden. Wir hatten ein Kinderfräulein, das mich zum Eislaufplatz gebracht hat. Später, als ich zehn oder elf Jahre alt war, bin ich allein hierhergekommen. Hier habe ich Freunde gehabt, von denen meine Eltern nichts wussten.

Sie erlebten die Blütezeit des WEV. Die Eisfläche war damals 10.000m2 (heute 6.000m2) groß, und in der Saison 1929/1930 wurde mit 9.521 Mitgliedern der höchste Mitgliederstand in der Vereinsgeschichte erreicht. Wie war die Atmosphäre am Eislaufplatz?

Immer bummvoll. Vor allem, wenn gutes Wetter zum Eislaufen war – kalt, aber kein Schnee. Ich bin meistens nach der Schule am Nachmittag gefahren. Und da waren so viele Menschen. Auch viele Erwachsene, aber mehr Kinder. Wenn meine Schwester Gerty mitgekommen ist und eisgetanzt hat, hat meistens auch die Kapelle gespielt. Seit dieser Reise nach Wien bin ich mir sicher, dass meine Erinnerung an den Platz richtig ist. Jetzt weiß ich, dass das Hotel einen großen Teil des ehemaligen Platzes einnimmt. Zweitens, das Gebäude, wo die Kapelle gespielt hat, ist nicht mehr da. Ich kann mich erinnern, das Eistanzen war in der Mitte des Eislaufplatzes. Dort war ein Kreis abgesperrt. Für Figurenfahren war ein Teil auf der Seite des Konzerthauses vorgesehen. Und der Eishockey- Teil war auf der Straßenseite, heute bei der Lothringerstraße.

Ihre große Leidenschaft war das Eisschnelllaufen. Zahlreiche international erfolgreiche Eisschnellläufer, wie Max Stiepl oder Karl Wazulek, waren zu dieser Zeit für den WEV aktiv. Haben Sie eine Sportkarriere angestrebt?

Wie alles, habe ich auch das Eisschnelllaufen nicht anständig gemacht. Ich wollte schnell laufen, aber ich hatte kein Interesse, daran zu arbeiten. Training war nichts für mich. Ich wollte nur schneller laufen als jeder andere am Eislaufplatz.

Welchen Aktivitäten konnte man beim WEV noch nachgehen? Der Verein hatte ein beim Wiener Publikum sehr beliebtes Eishockeyteam.

Mein Vater hat mir von Anfang an gesagt: „Du darfst eislaufen, aber nicht Eishockey spielen. Eishockey ist sehr gefährlich und du wirst dich verletzen.“ Er hat es so oft gesagt, dass ich natürlich gedacht habe, ich muss das probieren. Dann bin ich einmal zu einem Eishockeytraining gegangen und habe gefragt, ob ich Eishockey lernen kann. Und gleich im ersten Training habe ich einen Unfall gehabt – mein Finger wurde von einem Schlittschuh überfahren und ich hatte eine Wunde. Ich konnte dann gar nicht anders als zuzugeben, dass ich Eishockey probiert habe. Mein Vater ist sehr zornig geworden und hat mir zur Strafe verboten, eislaufen zu gehen. Aber das hat mich nicht gekümmert, ich bin trotzdem gegangen. Eishockey habe ich aber nicht mehr probiert.
Ja, und die Faschingsfeste waren immer sehr toll. Ich war oft dabei und habe mich gern verkleidet. Die Musik kam von einem Orchester. Das war, wenn man vom Konzerthaus hinunterschaut, auf der rechten Seite im ersten Stock. Darunter waren die Umkleidekabinen.

Nach dem „Anschluss“ sank der Mitgliederstand des WEV aufgrund der „Arisierung des Vereins“ schlagartig von etwa 5.500 auf 2.700 Personen. Auch den vom NS-Regime als jüdisch definierten Saisonkartenbesitzern und Tagesbesuchern war Eislaufen am Platz des WEV nicht mehr gestattet. Wie haben Sie den Ausschluss aus dem Verein erlebt?

Das war wirklich unglaublich für mich. Das war das erste Mal, dass ich Judenverfolgung richtig gespürt habe. Ich bin eines schönen Tages – es muss sehr knapp nach dem „Anschluss“ gewesen sein – zum Eislauf-Verein gegangen. Ohne etwas zu wissen, bin ich mit meiner Saisonkarte bei der Kassa vorbeigegangen. Plötzlich hat man mich angeschrien: „Harry Bibring! Kannst du nicht lesen?“ Ich war erstaunt, dass sie meinen Namen gewusst haben. Ich habe mich nie mit der Kassa unterhalten, ich hatte ja eine Saisonkarte. Ich habe mich umgedreht und eine große Tafel gesehen. Ich weiß nicht mehr genau die Worte, die darauf gestanden sind. „Juden verboten!“ oder „Juden werden nicht hereingelassen!“ Ich wusste, dass Juden nicht beliebt sind. Sie wollten mir aber nicht erklären, warum ich nicht hineindarf. Sie haben nur gesagt: „Raus!“ Ich durfte nicht einmal meine Eislaufschuhe aus meinem Kasten in der Garderobe holen. Ich habe den ganzen Weg nachhause geweint. Zuhause habe ich das meiner Mutter erzählt und gefragt: „Was hat Eislaufen mit Religion zu tun?“ Sie hat mir dann erklärt, dass es so weitergehen wird, bis diese Regierung weggeht. Sie wollte es mir leicht machen und hat gesagt: „Regierungen bleiben nicht immer gleich. Vielleicht kannst du in der neuen Saison wieder eislaufen.“
Nach wenigen Wochen habe ich gemerkt, dass es nur eine von vielen Sachen war, die für Juden jetzt verboten waren. Ab dann bin ich sehr schnell erwachsen geworden. Bis zur „Kristallnacht“ war ich voll informiert. Ich habe dann gewusst, dass wir unser Leben ändern oder auswandern müssen.

Wie hat Ihre Schwester auf den Ausschluss reagiert?

Sie hat mir sehr geholfen. Als wir erwachsen waren, haben wir viel darüber gesprochen und diskutiert. In der Zeit in England war sie meine Schwester, meine Mutter und meine Lehrerin. Sie hat einen großen Einfluss auf meine jüngeren Jahre gehabt und mir geholfen, ein normaler Mensch zu werden, in der Zeit des Krieges.

Ihre Eltern beschlossen, Sie und Ihre Schwester mit einem Kindertransport des Inter-Aid Committee for Children nach London zu schicken.

Die Reise hat am 13. März 1939 begonnen. Der Plan war, dass meine Eltern zwei Monaten später auch nach England kommen würden. Ich kann mich sehr gut erinnern, wie wir am Westbahnhof in den Zug eingestiegen sind. Da waren sehr kleine Kinder, und es wurde viel geweint. Ich habe, glaube ich, nicht geweint. Ich war sehr gut vorbereitet von meinen Eltern, und Gerty war da. Der Zug wurde stark von SA-Truppen kontrolliert und ist fast nie stehen geblieben, außer für Kohle und Wasser. Nach einer Schifffahrt sind wir im Hafen von Harwich in Ost-England angekommen. Ein Zug hat uns zur Liverpool Station gebracht, von dort wurden wir mit einem Autobus an einen Ort in London gebracht, wo uns die Leute, die uns aufnahmen, abgeholt haben. Am Nachmittag des 15. März kamen wir in ihrem Haus an.

Konnten Sie in England eislaufen?

Der Zweite Weltkrieg hat in England am 3. September 1939 angefangen. Die Behörden haben geglaubt, dass der Krieg mit deutschen Bomben auf die Großstädte beginnen wird und haben alle Schulen aufs Land evakuiert. Wir sind in ein kleines Dorf namens Fletton gekommen, in der Nähe der Stadt Peterborough. In dieser Gegend gab es viele Gruben, aus denen Material für die Herstellung von Ziegeln entnommen wurde. Die alten, die schon leer waren, waren voll mit Wasser. Im Oktober und November war es kalt und die Gruben sind zugefroren. Dort habe ich Leute gesehen, die auf diesen Eisplätzen gelaufen sind. Wenn ich Eisschuhe gehabt hätte, wäre ich höchstwahrscheinlich gelaufen.

Sie leben seit Ihrer Flucht in London. Wann sind Sie nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals wieder nach Wien gekommen?

1951, das weiß ich genau. Ich war sehr enttäuscht, wie schlecht Wien ausgeschaut hat. Es gab etliche Fenster in Wohnhäusern ohne Glas, nur mit Vorhängen. Die Straßen waren nicht sauber und der Stadtpark nicht voll wie früher. Es war wirklich nicht mein Wien. Ich habe meine Frau zu allen Plätzen gebracht, wo ich meine Kindheit verbracht habe, auch zum Eislauf-Verein. Im Esterhazypark, wo ich als Kind gespielt habe, stand dieser Bunker – es war wirklich furchtbar anzuschauen. „Was ist so schön an Wien?“, hat meine Frau gefragt. Aber sie hat in späteren Jahren doch erkannt, dass es eine wirklich herrliche Stadt ist.
Damals habe ich auch erfahren, wie mein Vater und meine Mutter umgekommen sind. Ich bin zu der letzten Adresse hingegangen, die ich von meinen Eltern hatte. Zu meinem Glück war der Hausbesorger noch derselbe, der während des Kriegs dort war. Er hat uns genau erzählt, was mit meinen Eltern passiert ist. Das war auch der Anfang für mich, weitere Sachen zu erforschen, was ich dann bei späteren Besuchen in Wien gemacht habe.

Sie haben über 400 Zeitzeugengespräche in Schulen geführt. Für den WEV sind Sie für die Aufarbeitung der eigenen Geschichte während der NS-Zeit ein wichtiger Gesprächspartner.

Knapp 450 Gespräche habe ich geführt. Die meisten in Großbritannien, etwa 15 in Wien und eines in den Vereinigten Staaten. In ganz Großbritannien – von Nord-Schottland bis Süd-England und bis nach Nordirland. Ich gehe überall hin, wohin man mich schickt.

 

Harry Bibring wurde am 26. Dezember 1925 in Wien geboren. Nach dem „Anschluss“ im März 1938 lebte er noch zwölf Monate in der Stadt. Im Laufe dieses Jahres wurde er aus seiner Schule geworfen, und es wurde ihm der Zutritt zu seinen Lieblingsorten verboten. So durfte er als Jude nicht mehr in Parks spielen oder seiner großen Leidenschaft – dem Eisschnelllaufen – nachgehen. Im November 1938 erlebte Harry Bibring die Novemberpogrome. Er wurde Zeuge, wie Jüdinnen und Juden zu „Reibpartien“ gezwungen und körperlich misshandelt wurden, seine Synagoge niederbrannte und das Kleidergeschäft seines Vaters geplündert und zerstört wurde. Mit einem Kindertransport konnten Harry und seine Schwester Gerty im März 1939 nach London flüchten – seine Eltern sah er danach nie wieder. Sein Vater Michael verstarb 1941 an einem Herzinfarkt, den er infolge einer Festnahme erlitt; seine Mutter Ester Lea wurde am 14. Juni 1942 in das Konzentrationslager Sobibor deportiert, wo sie am 22. Juni 1942 ermordet wurde.

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