Was hätte Freud gewollt?

Es wurde heftig und ganz und gar nicht analytisch debattiert, dann stand fest: Die Wiener Psychoanalytische Vereinigung, Nachfolgeinstitution der von Sigmund Freud gegründeten Gruppierung gleichen Namens, wird keinen Antrag auf Restitution stellen. Trotz dieses Beschlusses gärt die Diskussion weiter. Bewältigt scheint das Thema noch lange nicht.
Von Barbara Tóth

Die Akten sprechen eine erschreckend präzise Sprache. „Inventar laut Anlage: ein Sitzungssaal, eingerichtet mit Tischen und Sesseln. 1 Bibliothek mit ca. 1.500 Bänden, die in der Gesamtheit vom S. D. Hauptamt, Berlin, beschlagnahmt und nach Berlin abtransportiert wurden.“ Akribisch listete der Arisierungskommissar in seinem Bericht für die NSDAP-Bezirksleitung Alsergrund auch die Vermögenswerte der „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“ auf. Mit Eingangsdatum 27. Juli 1938 heißt es da etwa: „Fünf Tische: 75 Reichsmark. 40 Stühle: 400 Reichsmark. Acht Beleuchtungskörper: 32 Reichsmark.“ Eingerechnet des auf Konten und Sparbüchern gefundenen Vermögens werden im August des gleichen Jahres schlussendlich 15.360,68 Reichsmark an den Stillhaltekommissar überwiesen – umgerechnet etwa 850.000 Schilling (62.000 Euro). Sigmund Freud, Gründer der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, zu der auch ein Ambulatorium und ein Verlag gehörten, ist zu diesem Zeitpunkt längst im Londoner Exil angelangt. Sein Lebenswerk in Wien – unwiederbringlich zerstört. Die Verlagsräumlichkeiten mit Sitz in der Berggasse 7 – von den Nazis konfisziert und an das Orientalistik-Institut der Universität Wien vermietet, später zerbombt. Freuds berühmte Bibiliothek im Wert von 60.000 Reichsmark (230.000 Euro) – geraubt und bis heute teilweise verschollen. Knapp 65 Jahre später standen Freuds professionelle Nachfahren, die Mitglieder der 1946 wieder eröffneten Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (kurz WPV), vor einer äußerst schwierigen Entscheidung. Soll die WPV, die rechtliche Nachfolgerin der 1938 ausgelöschten Wiener Psychoanalytikergruppe, Antrag auf Restitution stellen? Soll die Wiener Psychoanalytikergemeinschaft von heute als juristische Person um Entschädigung für 1938 erfahrenes Unrecht ansuchen? Die Diskussion war heftig, emotionsgeladen und polarisierend – und ganz und gar nicht analytisch, wie Vorstandsmitglied und Vereinskassier Gertraud Diem-Wille selbstkritisch eingesteht. „Es wurde so emotionalisiert argumentiert, dass man kaum mehr denken konnte.“ Wie etwa können die heutigen Mitglieder Entschädigung für Unrecht verlangen, das den Mitgliedern von einst zugefügt wurde, argumentierten die Gegner. Schließlich wären die Gemeinsamkeiten gering, im Gegenteil: Hier würden die Kinder der Ariseure zurückverlangen, was deren eigene Eltern geraubt hatten. „Das ist noch einmal Blutgeld”, lautete eines der Hauptargumente. Auch wurde beklagt, dass es alles andere als passend sei, jetzt, wo es um Geld geht, aufzuzeigen. Schließlich habe die WPV bislang nur wenig für ehemalige Mitglieder gemacht. Eine gründliche Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte habe auch nicht stattgefunden. Besondere Zweifel rief aber die Modalität des Verfahrens hervor. Der Topf für Ansprüche privater und juristischer Personen ist der gleiche. Anträge von Vereinen wie jenen der WPV konkurrieren somit mit Ansprüchen von noch lebenden Opfern des Naziterrors – die Sorge, dass ein Antrag der WPV anderen Opfern Geld „wegnimmt“, war groß. Die Argumente der Befürworter lauteten hingegen: Auch wenn unter den Mitgliedern Kinder von Tätern sitzen, so besteht dennoch kein Zweifel, dass die WPV juristisch anspruchsberechtigt ist. Es gehe schließlich um die Restitution des Vereinsvermögens und nicht um Hab und Gut einzelner damaliger Mitglieder. Das Geld solle dann auch zweckgebunden verwendet werden. „Wir hätten etwa den österreichisch-israelischen Dialog fördern können“, meint Diem-Wille. Auch die Themen Nazivergangeneheit und Antisemitismus innerhalb der psychoanalytischen Bewegung wären Sujets, die mit diesem Geld weiter erforscht werden könnten. Auch der Vorschlag (vorgebracht etwa von Martin Engelberg), sich doch in jedem Fall um Restitution zu bewerben und erst dann zu entscheiden, was mit den Zahlungen geschehen soll, blieb ohne Mehrheit. An Ideen für Zweckwidmungen mangelte es nicht: Man könne es an noch lebende Opfer weitergeben, die aufgrund von vernichteten Dokumenten abgelehnt wurden, eine Stiftung gründen oder ESRA spenden. „Was hätte Freud gewollt“, versuchte das WPV-Ehrenmitglied Ernst Federn der festgefahrenen Debatte einen neuen Impuls zu geben – erfolglos. Schlussendlich einigte sich die Generalversammlung Ende Jänner diesen Jahres darauf, den Antag auf Restitution nicht zu stellen. Der Entschluss wurde zwar mit Zweidrittelmehrheit gefällt, ein großes Fragezeichen bleibt aber. Die Stimmung innerhalb der WPV scheint seitdem angespannt. Befürworter wie Gegner sprechen nur mit großer Vorsicht über dieses Thema – oder gar nicht. „Kein Kommentar“, meint etwa WPV-Mitglied Marianne Springer- Kremser, „das ist Angelegenheit des Vorstands.“ „Schade“ findet die Entscheidung Gertraud Diem-Wille. Auch, weil ein Antrag einen weiteren Beitrag zur historischen Aufarbeitung der Geschehnisse rund um 1938 hätte liefern können. Vieles, was damals rund um die Arisierung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung geschah, liegt noch im Dunkeln. So scheint die Nationalbibliothek einen Teil der Freudschen Bibliothek übernommen zu haben. Welche womöglich wertvollen Werke in den Speichern unter dem Heldenplatz lagern, ist nicht ganz klar. Einige von Freuds Büchern, so ergaben Nachforschungen, sind aber in den normalen Bestand der Bibliothek übergegangen. Auch der Verbleib eines Verhörprotokolls, das die Gestapo am 21. März 1938 mit Anna Freud, der Tochter des Analytikers, angefertigt hat, ist unbekannt. Schon vor Jahren bemühte sich der Präsident der Sigmund Freud Gesellschaft, Harald Leupold-Löwenthal, um diese Akte. Der damalige SP-Innenminister Karl Blecha (Amtszeit 1983– 1989) gab sich zuerst hilfsbereit. Ein Sektionschef des Innenministeriums meinte aber dann, da die damals beteiligten Gestapo-Beamten noch lebten, könne er das Protokoll leider nicht freigeben. Mittlerweile wird nach dem Akt im Ministerium gesucht.

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