Was, du feierst kein Weihnachten? – Teil 2

Mein Onkel, der Weihnachtsverweigerer, oder wie man katholische Weihnachten unter vielen alten Juden feierte.
Von Eva Menasse

Ich verlebte eine im Großen und Ganzen katholische Kindheit unter vielen alten Juden. Typisch für die ersten Jahrzehnte im zuckersüßen Nachkriegsösterreich war, dass ich mir auf einige Merkwürdigkeiten erst viel später einen Reim machen konnte, denn erklärt hat man uns Kindern gar nichts. Dass zum Beispiel die Gesetze der Kirche nicht für alle galten, erlebte ich eindrucksvoll am Karfreitag. Da nahm mein Vater ungerührt zum Frühstück weiterhin den Schinken und die Leberwurst, die uns verboten waren, und ich musste, ungern, aber doch mit einigem Respekt für den Gott, der laut unserer gestrengen Religionslehrerin Schwester Martha alles sah, nur an diesem einzigen Tag im Jahr Marmelade essen.

Weihnachten dagegen war eine andere Kategorie. Die meisten Menschen werden in dieser Zeit sentimental, weil sie sich an die Rituale ihrer Kindheit erinnern, und das galt auch für meinen Vater. Er war als Flüchtlingskind bei bettelarmen englischen Pflegeeltern aufgewachsen, und daher schmetterte er schon in der Vorweihnachtszeit so laut wie falsch „Christmas Carols“. Und am Heiligen Abend, nachdem meine tiefkatholische polnische Großmutter mütterlicherseits den gebackenen Karpfen aufgetischt hatte, bestand er auf seinem „Christmas Pudding mit Custard“, der oft schon Monate vorher vorsorglich auf Geschäftsreisen besorgt worden war. Anfangs aßen wir alle Christmas Pudding, aber nach einigen Jahren gestanden wir ihm, dass wir das picksüße Zeug, das sich im Mund zu vermehren schien, kaum runterbrachten. Heute gibt es praktische Einzelportionen bei „Meinl am Graben“, und der Rest der Familie isst wieder Kastanienreis.

Der Weihnachtsverweigerer war mein Onkel. Wenn er am 24. Dezember zum Abendessen erschien, war er noch schlechter gelaunt als sonst. Das, was auch meine Großeltern väterlicherseits, seine Eltern, problemlos entzückend fanden, nämlich die „Stille Nacht“ singenden Kinder unter dem erleuchteten Christbaum, schien ihm körperliche Qualen zu bereiten. Er kritisierte halblaut die Gesangsqualität. Er schüttelte den Kopf, er wippte mit dem Fuß, er schob nervös sein Whiskyglas hin und her. Und an einem unvergesslichen Weihnachtsabend nestelte er plötzlich in seiner Hosentasche, zog sein Portemonnaie hervor, stieß meinen in Rührung versunkenen Vater grob mit dem Ellbogen an und sagte mittendrin, als sich die Kinderstimmen gerade in die höchsten Höhen von „Chri-hist, in dei-ner Gebu-hurt“ schraubten: „Du, Hansi, ich schuld’ dir noch an Hunderter.“

Wenn ich mich heute frage, wie zwei Brüder so unterschiedlich zu Weihnachten (und fast allem anderen) stehen konnten, dann ist die Antwort eigentlich einfach: sieben Jahre. Das war der Altersabstand der beiden, und im Jahr 1938 war das ein Unterschied ums Ganze. Mein Vater war ein Kind, das auf eine große Reise geschickt wurde, mein Onkel, der sich als 15-Jähriger während der Reichspogromnacht stundenlang in einem Kino versteckt hatte, wusste genau, dass und warum er vertrieben worden war. Und die ganzen unwahrscheinlichen Zufälle, das Überlebt-Haben und die Tatsache, dass man nun ausgerechnet wieder im schön-schaurigen Wien saß und Weihnachten spielte, sind ihm wahrscheinlich gerade da schmerzhaft in den Sinn gekommen. Deshalb behalte ich mir vor, am Heiligen Abend bei „Stille Nacht“ intensiv an meinen tapferen kleinen Onkel zu denken, ganz egal, was er in seinem Atheistenhimmel davon halten mag.

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