Wach auf, mein Herz, und singe Fried – Wowa Fried

Von Helene Maimann

Namen, davon war ich immer überzeugt, haben ihre eigene Magie. Manche sind Programm. Manche sind Pech, manche ein Glück. Manche passen wie die Faust aufs Aug, andere wieder haargenau. Viele Menschen werden irgendwann zur Verlebendigung ihres Namens, dessen innere Bedeutung sich ihnen aufprägt wie ein Stempel. Namen können zu einer richtigen Fußfessel werden, und nicht wenige Leute haben das Gefühl, sie gehören nicht zu ihnen. Einige ändern sie, Frauen konnten sich schon immer einen erheiraten, andere finden zumindest einen neuen Vornamen oder fangen sich einen ein, und der Fund- oder Spitzname passt dann wie ein Maßanzug. Viele träumen von einem anderen Namen. Ich zum Beispiel habe mich mit meinem erst spät angefreundet und und hätte mir, als ich sehr jung war, etwas viel Blumigeres gewünscht, vielleicht Maya Lilienthal …

Juden haben einen Hang zu „schönen“ Namen. Die Ostjuden, die im vorvorigen Jahrhundert ihre Familiennamen eindeutschen mussten, suchten sich gerne etwas Klangvolles aus, wie Rosenblum/strauch /tal oder Goldfarb/berg/schmidt (wenn ihnen nicht ein boshafter Beamter ein herabsetzendes und lächerliches Ungetüm umhängte). Diese Namen waren oft Ausdruck von Lebenswünschen, und Fried, Friedberg, Friedmann, Friedländer sind solche alte jüdische Sehnsuchtsnamen. Fried leitet sich vom althochdeutschen fridu her, Friede, es hat diesselbe Wurzel wie „frei“, was auch einen Zustand der Werbung und Liebe beschrieb – „und dann freite er sie“ – und ist eng verwandt mit „freuen“, „versöhnlich“ und „freundlich“.

„Fried“ steht in seiner vielschichtigen Bedeutung gleich neben „Leben“, auch so ein magisches jüdisches Wort, mit dem man das Unglück bannen wollte.

Wenn Wowa Fried im Kaffeehaus auftaucht oder bei einem Konzert, im Amalienbad oder bei einer Vernissage, dann finden allerorten herzliche Begrüssungsrituale statt: Wowa kennt viele Leute. Und da er aussieht wie einem Bild von Chagall entsprungen, fällt er auf. Vor allem, wenn er ein keckes buntes Käppchen auf dem kahlen Schädel trägt. Sofort geht er auf die Menschen zu, er umarmt und küsst, vor allem die Frauen, die sich das meistens auch gern gefallen lassen. Ich habe den Wowa noch nie traurig oder niedergeschlagen erlebt, obwohl er das sicher auch kennt, aber wahrscheinlich wenig Zeit darauf verschwendet. Dazu ist das Leben zu kurz. Dazu gibt es immer zu viel zu erzählen.

Läuft mir Wowa über den Weg, dann zieht sich das Gesicht mit der langen Nase freudig auseinander, die Augen lachen, er sprudelt los, und schon fallen mir die ostjüdischen Geschichten ein, in denen er eine markante Figur abgeben könnte. Zum Beispiel einen Fiddler, der mit seiner Geige aufsteht und schlafen geht. Oder einen Magid, einen Wanderprediger, der die Leute ständig von irgendwas überzeugen möchte. Oder einen Federmenschen, den äusserlich bescheiden lebenden und innerlich reichen Luftmenschen schlechthin, der ohne Bücher nicht leben kann. Das Leben bietet eine Quelle von Anregungen und Freuden, und Wowas Tag reicht nicht hin, um ihn voll auszuschöpfen – er ist immer beschäftigt, saugt das Leben auf wie ein Schwamm.

Wenn Wowa einen neuen Tag beginnt, dann bereitet er sich auf die Wunder vor, die ihm dieser bringen könnte – im Musikverein, in einer Ausstellung, zu Hause, wo es aussieht wie in einer Lesestube. Wach auf, mein Herz, und singe Fried.

Was „Fried“ anlangt, so ist Wowa gedoppelt: Seine Mutter Prive heiratete in erster Ehe Walter Friedjung, den kommunistischen Sohn des prominenten Wiener Kinderarztes, Psychoanalytikers und Gemeinderates Josef K. Friedjung, und in zweiter Ehe, in Moskau, Jenö Fried, Schwager von Jószi Kelen, Industrieminister der ungarischen Räterepublik. Jüdisch-kommunistischer Hochadel, sozusagen.

Prive Friedjung, Jahrgang 1902, ist in Zadowa aufgewachsen, einem Schtetl in der Bukowina. Die zwei Kühe und ein Gemüsegarten waren der grösste Reichtum der Familie. Die Namen der Kinder lesen sich wie aus einem Roman von Scholem Alejchem: Paje, Sejde, Mechel, Mojsche, Minge, Scheindl, Sure und eben Prive, die Jüngste. Und mit den Geschichten von Scholem Alejchem und Jizchak Leib Perez ist Prive groß geworden, „die Jiddischkeit war meine Grundlage“. Die Familie war sehr arm, streng religiös, der Vater, Pesach Kreisel, arbeitete als Schojchet, Schächter und Mohel, Beschneider sowie als Chasn, als Vorsänger in der Synagoge. Er hat ständig gefastet, erzählt Prive, um sich das Paradies zu verdienen. Wahrscheinlich auch, damit seine Kinder mehr zu essen hatten. Und wie in „Tewje der Milchmann“ gingen fast alle Kinder auf Wanderschaft – nach Amerika, nach Wien.

Da war Prive bereits eine Revolutionärin und hatte der Religion den Rücken gekehrt. „Was wir uns unter Revolution vorgestellt haben, war das: Man treibt die Reichen weg und wird das Paradies auf Erden errichten“, erinnert sich Prive. „Die Armen werden auf einmal satt werden. Das war das Wichtigste.“ Nicht mehr in den ewigen Reigen von Hungern und Frieren und auf ein Wunder warten eintreten. Nicht mehr mit der Erlösung von oben rechnen.

Das Judentum hatte diesen Jungen den unerschütterlichen Glauben an eine glücklichere, gerechtere Welt eingepflanzt und den entschiedenen Willen, an einer Überzeugung nicht wankend zu werden. Aber sie hielten nicht mehr, wie ihre Eltern, unaufhörlich Ausschau nach dem Messias, sie wollten das Paradies jetzt, bald. Die Revolution war die einzige Hoffnung für hunderttausende junge Juden in Osteuropa, sie wurden Zionisten, Bundisten, Kommunisten.

Prive ging zuerst zur linken Poale Zion und dann zu den Kommunisten. „Die Jungen“, sagt sie, „sind renitent geworden“. Dass die Partei kategorisch den Bruch mit der Religion verlangt hat, war zwar im Kopf zu machen, „aber die erste Schinkensemmel hat mich fast erwürgt“.

„ Von Religion war zwischen mir und meiner Mutter nie die Rede, aber das Messianische des Judentums war sehr präsent“, erzählt Wowa. Man ist nicht auf der Welt, um sein kleines privates Leben zu führen, man hat eine Aufgabe: Die Menschen zu überzeugen, Armut und Ungerechtigkeit nicht hinzunehmen. Und die Wunder des Geistes zu entdecken, die Kunst, die Literatur, die Wissenschaft, um ein besserer Mensch zu werden. Überhaupt das Lernen, das nie aufhört und sowieso das grösste Glück ist. Und erst die Musik! Seit er dreizehn ist, geht Wowa „ins Konzert“, zu Haydn, Schubert, Beethoven, Schostakowitsch, Mahler, Bartok. Sechs Abonnements hält er allein im Wiener Konzerthaus. Und im Urlaub fährt er mit seinem alten Campingbus von einem Musikfestival zum andern. Die Musikleidenschaft teilt er mit der Mutter. Opern mag er auch, aber nur moderne. Verdi, Puccini sind ihm „zu hysterisch“, und Wagner – nie!

Prive Friedjung, geboren am ersten Nissan, dem Monat der Wunder, hat die Wander- und Kriegsjahre wunderbarerweise überlebt, und mit ihr der Sohn.

Für sie, die aus einer chassidischen Familie kommt, wurde das Wunder zum Überlebensprinzip. In den zwanziger Jahren, in Wien, schlug sie sich irgendwie durch und lebte nur für „die Partei“, illegal natürlich. 1934 ging sie nach Moskau. Die Not war unerhört groß, aber der erste Eindruck war, „dass das ganze Land eine Schule war. Das ganze Land baut, das ganze Land arbeitet, das ganze Land ist im Aufbruch.“ Prive war fasziniert und hat diese Faszination nie verloren, nicht durch den Terror des Regimes, nicht durch das Elend der Kriegsjahre, nicht durch den Personenkult um Stalin, der ihr zutiefst zuwider war, und auch nicht durch seine Verbrechen, denen die Familie ihres zweiten Mannes zum Opfer fiel und, wie Wowa glaubt, schliesslich auch sein Vater selbst.

Prive entging einer Verhaftung, unterrichtete, studierte und brachte Anfang Juli 1941, zwei Wochen nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion, ihren Sohn Wladimir zu Welt. Wenige Tage später begannen die Bombardierungen Moskaus, ständiger Fliegeralarm, und der Zustand der überfüllten Unterstände war so grauenhaft, „dass es ein Wunder war, wenn man die Nacht überlebte“, vor allem ein Neugeborenes, das von seiner Mutter hoch über den Köpfen der wild zusammen gedrängten Menge gehalten werden musste.

Die kleine Familie übersiedelte nach Sibirien, wo es sicher war und dennoch gefährlich, und der winzige Wowa wurde todkrank und überlebte abermals wie durch ein Wunder. Und als Prive kurz darauf ihre Brotmarken für einen ganzen Monat verlor, brachte jemand, „Wunder über Wunder“ , sie zurück und rettete die fremden Flüchtlinge vor dem Verhungern – „ein grösseres Wunder kann man sich in jener Zeit nicht vorstellen“. Dann wurde der Bub schwer lungenkrank, und Prive hatte buchstäblich nichts zu essen. Da träumte ihr, dass ihr am Markt der Wind einen Zwanzig-Rubel-Schein vor die Füsse weht. Und am nächsten Sonntag geht sie hin auf den Markt, obwohl sie nichts hat, keine Kopeke – und siehe, der Traum wurde Wirklichkeit. Ein Zwanzig-Rubel-Schein flatterte vor ihr her, und sie kaufte Milch, Eier, was immer sie brauchte, und Wowa erholte sich – ein weiteres Wunder. „Die Mama stirbt seit vierzig Jahren“, sagt Wowa. „Sie redet ständig davon, dass sie nicht mehr lange lebt.“ So, als hätte sie ihr Plansoll an Wundern bereits übererfüllt. Wowa hält gar nichts von Wundern, er ist Naturwissenschafter, Chemiker, und damit strenger Rationalist.

Aber dass das Leben selbst eine ständige Offenbarung von Wundern ist, ein täglicher Anlass zum Staunen, das gehört zu ihm wie sein langer Bart. Er ist ein wandelndes Lexikon, denn es gibt wenig, was ihn nicht interessiert.

„Mein Beruf ist es, neugierig zu sein“. Aufgewachsen in sibirischen Kinderheimen und, nach der Rückkehr, in Wiener Halbinternaten, war er von früh an daran gewöhnt, selbst die Welt zu erforschen und auf die Menschen zuzugehen, denn mit mütterlicher Fürsorge wurde er kurzgehalten. „War ich zu Hause, dann meist allein. Wenn ich krank war – die Mama war immer weg. Entweder Arbeit oder Parteiarbeit. Auch wenn ich geplärrt hab, aus lauter Ärger, weil sie weggegangen ist. Die Partei war wichtiger als ich.“ Die Mutter blieb, was sie war: Kommunistin aus Überzeugung, Jüdin aus Bekenntnis. „Sich loslösen oder lossagen?

Das hat es nicht gegeben, auch wenn ich in einem noch so grossen Ausmaß assimiliert bin.“ Viel hergezeigt hat sie von ihrer Jiddischkeit allerdings nicht, das war unter Kommunisten nicht opportun. Erst in ihren späten Jahren erneuerte sie ihre tiefe Bindung, vor allem die an die Sprache, an das Jiddische.

Vom Kommunismus war daheim daher viel die Rede, vom Judentum wenig. Wowa fand erst langsam Zugang zu Juden, zunächst im Gymnasium. Die „Stubenbastei“ führte jeweils einen Jahrgang mit Russisch als Fremdsprache und wurde zum legendären Hort vieler jüdischer Kommunistenkinder in den fünfziger und sechziger Jahren. Man war unter sich. Wowa liebte die Schule sowieso, und diese Schule ganz besonders. Endlich unter seinesgleichen!

Er fing an, herauszufinden, worin sein Judentum eigentlich bestand, nachdem es nicht religiös definiert war. Es war ein langer Weg. „Das Jüdische an mir ist die Geisteshaltung, der hohe Stellenwert der Bildung, die Freude am Lernen, auch wenn es Knochenarbeit ist. Das Messianische. Die Lust am Witz. Die Fähigkeit, Probleme dialektisch anzugehen. Und dann das Rebellische. Das Unangepasste. Meine Mutter hat ihr ganzes Leben in Opposition zu ihrer Umwelt verbracht. Und sich nicht in ihren Prinzipien beirren lassen. Das scheint mir sehr jüdisch zu sein.“

Seit sich Wowa nach dem Ende des „Prager Frühlings“ vom Kommunismus gelöst hat und ein „politisch heimatloser linker Grüner“ geworden ist, werden ihm die jüdischen Wu rzeln seiner Identität immer wichtiger. Mit der halachischen Definition des Judentums hat er nichts am Hut, und Israel ist ihm fremd. Aber die Auseinandersetzung mit der Shoah bestimmt wie bei vielen Altersgenossen auch sein Leben, und die emotionale und kulturelle Bindung an das Judentum rückt von Jahr zu Jahr stärker in den Mittelpunkt seines Kosmos.

Jetzt lernt er Jiddisch, weil er Scholem Alejchem, den er nur in der russischen Übersetzung kennt, im Originalext lesen will. Und seiner Mutter, wenn sie im kommenden April ihren hundertsten Geburtstag feiert, die Festrede in ihrer Muttersprache halten möchte.

 

Wer mehr über das Leben von Prive Friedjung erfahren will, sei auf ihre Erinnerungen verwiesen: „Wir wollten nur das Paradies auf Erden. Die Erinnerungen einer jüdischen Kommunistin aus der Bukowina“, Böhlau-Verlag 1995.

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