Von Liebe und Finsternis

Der israelische Schriftsteller Amos Oz über Familien, Rebellionen, beschreibbare und unbeschreibbare Erfahrungen, seine Träume über Israels Zukunft und den nie beigelegten Streit mit seinem Vater.
Von Helene Maimann (Text) und Peter Rigauld (Fotos)

Am Tag zuvor hatte er noch einen der größten Literaturpreise in Spanien erhalten – den „Prinz-von- Asturien-Preis“. Das Diner mit König Juan Carlos schlug er aus, denn er fuhr ins Waldviertel, nach Heidenreichstein: Am 27. und 28. Oktober 2007 wurde Amos Oz mit einem Lesefest von „Literatur im Nebel“ geehrt. Eine Personale, die Amos Oz zutiefst beeindruckt: vor allem, weil das Publikum sich von ihm und den großartigen Vorlesern völlig gefangen nehmen lässt.

NU: Sie haben einmal gesagt, dass sich alles, worüber Sie schreiben, um Familiengeschichten dreht. Sie schreiben über Leute, ihre Beziehungen, ihren Background, ihre Gefühle, was sie treibt … Warum, glauben Sie, sind Familiengeschichten weltweit so ein Erfolg? Ist es der direkteste Weg zum persönlichen familiären Gedächtnis der Menschen? Was macht Familiengeschichten so interessant?

Amos Oz: Ich finde, dass die Familie die einzig wirklich mysteriöse Institution im Universum ist. Die paradoxeste, die komplizierteste, die komischste und die tragischste, die absurdeste und die lebensfähigste Institution der ganzen Welt. Sie hat sich gehalten und von einer Generation zur nächsten geschleppt, endlose Generationen hindurch. Nicht umsonst ist die Familie ein zentrales Thema der Literatur, des Kinos, von Kommunikation und Tratsch. Wenn ich zwischen zwei Möglichkeiten wählen könnte: entweder die erste bemannte Raumfahrt zum Mars oder eine Nacht als Fliege an der Wand mit irgendeiner Familie mitzuerleben – ich würde die Fliege bevorzugen und nicht den Astronauten. Es ist interessanter.

Ihren berühmten Roman „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ schrieben Sie nach einer langen Recherche. Es ist die tragische Geschichte Ihrer Familie, alles charismatische und vielversprechende Leute. Wie war das für Sie, als Einzelkind unter all diesen sehr eindrucksvollen Menschen aufzuwachsen?

Nun, alle diese eindrucksvollen Leute waren Immigranten, vergessen wir das nicht. Jeder von ihnen war eingewandert, mit einer Liebe/Hass- Beziehung zum alten Land und einer Liebe/Hass-Beziehung zum neuen. Die tragische Komödie von Einwanderern ist universell und überall auf der Welt dieselbe. Sie haben „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ als Tragödie beschrieben – ich nenne sie eine Tragikomödie. Ich ziehe keinen Trennungsstrich mehr zwischen Tragödie und Komödie. Als ich sehr jung war, habe ich gedacht, Tragödie und Komödie wären zwei unterschiedliche Planeten. Sie sind aber nur zwei Fenster, durch die wir auf dieselben Landschaften unserer Leben blicken. In einer Einwandererfamilie stehen am Anfang spektakuläre Hoffnungen und Ziele, das neue Land würde ein Paradies sein und das alte vergessen … Alle unsere Hoffnungen und Träume würden sich erfüllen. Aber dann haben die Einwanderer entdeckt, dass sie niemals das alte Land vergessen würden. Und dass das neue Land niemals ein Paradies sein würde. Dass sich nicht alle ihre Hoffnungen erfüllen werden. An diesem Punkt bürden sie das ganze Gewicht ihrer Hoffnungen ihren Kindern auf – und ich war ein Einzelkind. So wird die Familie manchmal zu einem Cape Canaveral. Und das Kind wird zu einer Rakete. Die Familie pumpt ihren ganzen Sprit in das Kind, damit es eines Tages die Hoffnungen und Wünsche seiner Familie himmelwärts trägt. Das ist nicht einfach für das Kind. Vor allem in einer charismatischen Familie von Wissenschaftlern, Intellektuellen und hochgebildeten Polyglotten. Sie haben auf meine kleinen Schultern riesige Hoffnungen geladen.

Ist es nicht normal für eine Einwandererfamilie, überall in der Welt, diese Entwurzelung mitzumachen? Hat es nicht damit zu tun, dass eine Familie ihr Land verlässt und nicht sicher sein kann, ob sie es je wieder sieht? Oder ist Ihre Geschichte nicht auch eine andere: die Geschichte der unerwiderten Liebe zwischen den osteuropäischen Juden und Europa?

Meine Eltern und meine Großeltern waren hingebungsvolle Europäer. Das ist heute keine große Sache, jeder ist ein Europäer. Und die, die es noch nicht sind, stellen sich an, um welche zu werden. Vielleicht wird auch die Türkei Europa, und danach, wer weiß, auch noch der Irak und Afghanistan. Aber vor siebzig oder achtzig Jahren gab es keine Europäer in Europa. Die einzigen Europäer im damaligen Europa waren Juden wie meine Eltern und meine Großeltern. Und weil sie europäisch waren, wurden sie von allen anderen gehasst. Jeder andere war ein bulgarischer oder norwegischer oder spanischer oder ein österreichischer Patriot. Die Juden waren Europäer, sie liebten nicht ein spezielles Land. Meine Eltern und Großeltern haben sich niemals als Russen oder Polen oder Ukrainer oder Litauer verstanden – sie haben sich als Europäer gesehen. Sie waren große Polyglotten. Mein Vater las sechzehn oder siebzehn Sprachen und er sprach elf von ihnen, alle mit einem schweren russischen Akzent. Meine Mutter sprach fünf oder sechs Sprachen … Sie waren begeisterte Europäer. Sie liebten die verschiedenen Landschaften und sie liebten die Geschichte und die Kunst, die Museen und die vielen Literaturen. Sie liebten alles, was mit Europa zu tun hatte. Europa hat sie niemals wiedergeliebt. Weil sie Europäer waren, wurden sie als Kosmopoliten abgestempelt, als Parasiten und als wurzellose Intellektuelle. Es ist interessant festzustellen, dass diese herabsetzenden Begriffe – wurzellose Intellektuelle, Parasiten, Kosmopoliten – die gleiche Bedeutung im Vokabular der Nazis und der Kommunisten hatten. Meine Eltern und Großeltern liebten also Europa, ohne zurückgeliebt zu werden, und sie wurden schließlich brutal hinausgeworfen. Zum Glück. Denn hätte man sie in den Dreißigern nicht hinausgeschmissen, wären sie in den Vierzigern von Europa ermordet worden. Sie gingen also und überlebten. Aber sie nahmen mit sich die niemals heilende Verletzung der unerwiderten Liebe. Die Erniedrigung, der Schmerz, aus Europa hinausgeworfen zu sein, das sie doch so liebten.

Sie haben versucht, mit Ihrer Familientradition zu brechen – einer Tradition von Intellektuellen – und nicht viel später wussten Sie, dass das ein vergebliches Unterfangen war. Sie gingen in einen Kibbuz mit nicht einmal sechzehn Jahren, änderten Ihren Namen von Klausner zu Oz und lebten dort dreißig Jahre lang. Und während dieser Zeit wurden Sie ein sehr erfolgreicher Schriftsteller. Warum blieben Sie so lange im Kibbuz, weit weg von öffentlichen Plätzen?

Ich ging in den Kibbuz als Rebell gegen die Welt meines Vaters. Nachdem sich meine Mutter das Leben genommen hatte, als ich zwölfeinhalb Jahre alt war, begann ich ein Jahr später gegen die Welt meines Vaters zu rebellieren. Ich entschied, all das zu werden, was er nicht war, und bleiben zu lassen, was er war. Er war ein Intellektueller, ich wurde ein Bauer. Er war ein Wissenschaftler, ich wurde ein Traktorfahrer. Er war ein Stadtmensch, ich zog in den Kibbuz. Er war ein kleiner Mann, ich entschloss mich, sehr groß zu werden. Leider hat das nicht geklappt, aber ich habe es versucht. Er hieß Klausner und ich änderte seinen Namen und wurde zu Oz, was auf Hebräisch Mut, Stärke, Entschlossenheit bedeutet – all das, was ich dringend brauchte und nicht hatte, als ich ganz allein mein Zuhause verließ. Schließlich habe ich mich einige Jahre später in einem Raum voller Bücher wiedergefunden, in dem ich weitere Bücher schrieb – genau das, was mein Vater hoffte, dass ich eines Tages tun würde. So komme ich zu dem ironischen Schluss, dass Rebellionen dazu tendieren, sich, wenn auch nicht ganz, doch teilweise im Kreis zu bewegen. Politisch stehe ich nach wie vor ganz woanders als mein Vater: Er war ein Rechter, ich bin ein Linker, er war ein Falke, ich bin politisch eine Taube. Er und ich haben nach wie vor einen großen heftigen Streit miteinander. Er ist vor 35 Jahren gestorben, aber wir streiten immer noch. Der Grund, warum ich so lange im Kibbuz blieb, ist, dass der Kibbuz für mich ein wunderbares menschliches Labor war. Für meine Arbeit als Schriftsteller war das die bestmögliche Universität. Der Kibbuz ist ein kleines Dorf. In meinem Kibbuz lebten etwa 400 Leute, Männer, Frauen und Kinder. Und die habe ich alle mit der Zeit sehr, sehr gut kennengelernt. Ich konnte die Wirkung der Gene sehen. Ich konnte sehen, wie bestimmte Eigenschaften von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Klar, und ich kannte alle Beziehungen, den ganzen Klatsch. Zur Strafe wussten auch alle diese Leute viel mehr über mich, als ich das gerne gehabt hätte, aber das war nur ein fairer Handel. Dreißig Jahre lang war der Kibbuz mein Mikrokosmos. Und er fütterte mein Schreiben.

Sie haben in der israelischen Armee gedient. Sie kämpften im Sechstagekrieg 1967 und im Jom-Kippur-Krieg 1973.

Ich diente in der israelischen Armee in den späten Fünfzigern und dann als Reservist in einer Panzereinheit im Sechstagekrieg im Sinai und 1973 auf den Golanhöhen. Das waren die entsetzlichsten, furchtbarsten Erlebnisse meines Lebens. Bis heute finde ich unmöglich, dieses Erlebnis zu vermitteln oder zu beschreiben. Ich bin nicht imstande, über das Schlachtfeld zu schreiben. Ich habe es versucht, aber es ist mir nicht gelungen. Der Grund ist, dass ich über das ganze Spektrum von menschlicher Erfahrung schreibe: Ich schreibe über Liebe, über Eifersucht, über Hass und Ehrgeiz, Enttäuschung und Einsamkeit und Tod. Aber das Schlachtfeld ist keine menschliche Erfahrung. Es ist eine unmenschliche Erfahrung. Und mein Schreiben ist über menschliche Erfahrung. Und ich kann nicht über das Schlachtfeld schreiben. Dennoch möchte ich Ihnen sagen, dass meine Kriegserfahrung von 1967 und 1973 mich nicht zum Pazifisten gemacht hat, sehr wohl aber zu einem Friedensaktivisten. Und zwischen beiden gibt es einen Unterschied. Pazifismus und Friedensaktivismus werden oft in eins gesetzt, besonders in Europa neigen die Leute zu einem konfusen Mischmasch. Ich bin ein Friedensaktivist, kein Pazifist.

Wie kommentieren Sie heute Ihren Dienst in der israelischen Armee?

Wenn es die Umstände erfordern, wenn jemand heute Israel bedroht und die Menschen dort auslöschen will, werde ich kämpfen gehen, obwohl das Schlachtfeld eine furchtbare Erfahrung ist. Aber ich werde nur kämpfen, wenn es um Leben oder Tod geht, wenn es um die Existenz Israels geht. Ich werde es ablehnen zu kämpfen, wenn es um nationale Interessen geht, um Ressourcen, um heilige Orte, wenn es darum geht, das Land zu vergrößern und zwei zusätzliche Schlafzimmer für die Nation zu bekommen. Da gehe ich eher ins Gefängnis als kämpfen. Aber wenn es um Sein oder Nichtsein geht, dann, auch wenn ich ein alter Mann bin, werde ich wie der Teufel kämpfen.

Seit fast dreißig Jahren propagieren Sie die Zweistaatenlösung als historischen Kompromiss zwischen Israel und den Palästinensern. Die stand ja schon einmal auf der Agenda – als die UNO 1947 für die Teilung mehrheitlich votierte, die niemals umgesetzt wurde. Vor allem weil die arabischen Länder sofort nach der Unabhängigkeit gegenüber Israel den Krieg eröffneten. Das tiefe Misstrauen der Israelis gegenüber den Arabern ist verständlich.

Am 29. November 1947 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen mit einer Zweidrittelmehrheit die Teilung des britischen Mandats Palästina in zwei Staaten beschlossen: Israel und Palästina. Diese Resolution wurde von den Juden unter Schmerzen angenommen und von den Palästinensern und der ganzen arabischen Welt glühend abgelehnt und total zurückgewiesen. Israel wurde am 15. Mai 1948 ausgerufen. Wenige Minuten nach der Unabhängigkeitserklärung überfielen fünf arabische Nationen mit ihren regulären Armeen Israel, mit der vollen Absicht, seiner Existenz und der seiner Menschen ein Ende zu bereiten. Uns komplett von der Landkarte zu löschen. Das sorgt natürlich bis heute für Misstrauen, für ein Gefühl der Unsicherheit, für Zorn und Frust. Aber auch auf der anderen, der palästinensischen Seite ist Zorn und Frust. Seit fast vierzig Jahren leben sie unter israelischer Herrschaft. Auch keine leichte Erfahrung. Aber Frieden kann nicht auf Vertrauen gebaut werden. Es wird oft angenommen, dass man zuerst Vertrauen erzeugen muss, um Frieden darauf zu bauen. Das stimmt für eine Ehe, aber nicht für den Frieden. Frieden ist ein Vertrag zwischen Parteien, die einander nicht trauen. Deshalb brauchen sie ja auch einen Vertrag. Gäbe es Vertrauen, bräuchte man keinen Vertrag zu unterschreiben. Es bräuchte keine Verhandlungen, keine Anwälte und legale Dokumente. Wenn ich meinem Sohn ein Auto borge, brauche ich keinen Vertrag, denn zwischen uns ist Vertrauen. Die Israelis und die Palästinenser müssen ein Dokument unterschreiben. Dann kann stufenweise Vertrauen entstehen, Aug in Auge, nachdem der Friedensvertrag unterschrieben ist. Aber nicht vorher. So war es ja auch in Europa. Nationen, die manchmal generationenlang verfeindet waren, haben Verträge untereinander geschlossen, von tiefem Misstrauen erfüllt. Dann hat sich Vertrauen entwickelt und die Emotionen beruhigten sich. So muss es sein: zuerst Vertrag, dann Vertrauensbildung.

Aber in Israel haben wir eine viel kompliziertere Situation als in Europa: zwei Völker in einem Land.

Ja, es ist eine viel kompliziertere Situation, aber wir müssen sie lösen und das Land in zwei Länder teilen. Das ist ein kleines Haus – Israel ist etwa so groß wie Sizilien oder Wales. Aber wir haben kein größeres, es ist das einzige Haus für zwei Nationen. Die Israelis können nirgendwo anders hingehen und die Palästinenser auch nicht. Die Israelis gehen nicht weg und die Palästinenser auch nicht. Sie können keine glückliche Familie werden, denn sie sind nicht glücklich und auch nicht eine Familie – es gibt zwei Familien. Also müssen sie dieses Haus in zwei kleinere Wohnungen teilen. Es gibt einfach keine Alternative zu dieser Lösung, weil keiner rausgeht. Also wird es eine Scheidung geben müssen. So wie wenn sich ein Paar trennt und beide eine Wohnung im selben Haus beziehen. Das ist weder eine ideale noch eine attraktive Lösung, klar, und auch kein emotionaler Durchbruch. Aber die einzige praktikable Lösung des Problems.

Sie sind heute ein ebenso erfolgreicher wie umstrittener Autor in Israel, wo sehr viele Leute glauben, dass das Land eine Politik der harten Hand führen muss. Wie gehen Sie mit dieser sehr populären Meinung in Israel um?

Persönlich bin ich daran gewöhnt, dass man mir Verrat unterstellt. Ich betrachte den Titel „Verräter“ als einen Ehrentitel. Viele wichtige Führer im 20. Jahrhundert wurden von ihren Völkern zum Verräter gestempelt. Winston Churchill zum Beispiel, als er das britische Empire auflöste. De Gaulle, als er Frankreich aus Nordafrika zurückzog. Gorbatschow, als er den Kommunismus abwrackte. Sie alle wurden des Verrats bezichtigt – also ist das ein Orden, den ich auf meinem Anzug trage. Es gibt einen wilden Streit zwischen den Israelis, die sagen, man kann den Arabern nicht trauen und wir müssen eine militante Politik ihnen gegenüber betreiben, und den Tauben, zu denen ich gehöre. Meine Argumente sind sehr einfach. Ich sage, erstens: Ja, wir müssen mächtig bleiben. Auch wenn es Frieden mit den Arabern gibt, brauchen wir eine starke, effektive Armee. Israel ist ohne die okkupierten Gebiete stärker als mit ihnen. Die Territories machen Israel schwächer, verletzbarer, weil ein Teil seiner Bevölkerung unterdrückt und verfolgt ist. Selbst wenn die Annahme der Pessimisten stimmt und die Araber wirklich keinen Frieden wollen, wird es Israel ohne die besetzten Gebiete besser gehen. Und das zweite Argument: Wenn es mit den Arabern Frieden gibt, auch wenn es nur ein formales, ein bloß legalistisches Übereinkommen ist, dann gibt es eine Chance für eine schrittweise emotionale Entspannung und Deeskalation.

Aber ist es nicht nachvollziehbar, dass die Juden in Israel nervös sind angesichts der Atompolitik des Iran?

Die Angst und die Nervosität der Israelis sind vollkommen verständlich und ich teile sie. Aber: Im Fall der iranischen Atombombe werden die besetzten Gebiete Israel weder helfen noch stärken. Sie sind für die iranische nukleare Bedrohung sicher keine Antwort. Und diese Nervosität, diese Unruhe und Rastlosigkeit sind nicht nur die Sache Israels: Sie sind eine Angelegenheit der ganzen Welt. Es geht auch nicht nur um den Iran. Ich vermute, dass in fünfzehn Jahren fast jedes Land Zugang zu Massenvernichtungswaffen haben wird können, biologische, nukleare oder chemische. Und alle, die diese Waffen haben wollen, werden sie haben. Wir leben in einer veränderten Welt. Diese Frage verlangt nach einer internationalen Aktion. Es ist ein Fehler zu glauben, dass das ein Problem Israels ist. Israel kann dieses Problem nicht lösen. Es ist ein Problem der Welt und der Menschheit im 21. Jahrhundert.

Eine der Schwierigkeiten ist ja, dass der Nahostkonflikt schon immer ein Kreuzungspunkt verschiedener Interessen war: Vierzig Jahre kreuzen sich hier die Interessen der USA und der Sowjetunion. Auch seit dem Ende der Sowjetunion vor sechzehn Jahren ist das nicht anders.

Das war der Nahe Osten immer: ein Kreuzungspunkt zwischen Ost und West, Nord und Süd, per definitionem. Und das wird so bleiben, wer immer die Supermächte der Zukunft sein werden. Damit müssen wir leben, deswegen werden wir nicht wegziehen. Wenn man auf einer verkehrsreichen Kreuzung lebt, muss man vorsichtig sein und seine Schritte kalkulieren. Man darf nicht den Weg der Supermächte teilen, wenn sie aufeinander krachen. Das ist unsere Nachbarschaft, und wir können sie nicht ändern. Es ist weder eine besonders angenehme noch gemütliche oder friedliche Nachbarschaft, sie war es nie. Aber es gibt eine Chance, dass der Nahe Osten selbst eine Art Weltmacht wird: eine föderative, geeinte, aufeinander bezogene Region. Das klingt wie ein Traum. Aber vergessen wir nicht, dass vor nicht einmal hundert Jahren die Einheit Europas wie ein unmöglicher Traum klang. Und vergessen wir nicht, dass es in Europa Konflikte gab, die länger dauerten und blutiger verliefen als der Nahostkonflikt. Was Blutvergießen und gewaltsame Konflikte anlangt, ist die europäische Liste weitaus länger und grausamer als die des Nahen Ostens. Und trotzdem geht Europa der Einigung entgegen. Dasselbe kann im Nahen Osten geschehen, und es wird nicht tausend Jahre brauchen, wie in Europa. Es kommt vielleicht früher. Wie bald, kann ich nicht sagen. Aber früher.

Das gesamte Gespräch können Sie in der Radioreihe „Im Gespräch“ in Ö1 am 20. Dezember um 21 Uhr hören.

ZUR PERSON: Amos Oz
Amos Oz wurde im Jerusalemer Stadtviertel Kerem Avraham, das hauptsächlich von osteuropäischen Einwanderern bewohnt war, geboren und wohnt heute in der israelischen Stadt Arad in der Negev-Wüste.

Er ist der Großneffe des bedeutenden Gelehrten Joseph Gedalja Klausner, der aus Odessa stammte. Seine Großeltern flüchteten 1917 von Odessa nach Vilnius und wanderten 1933 von dort mit ihrem Sohn Jehuda Arie, Amos’ Vater, nach Palästina aus. 1954 trat Oz nach dem Freitod seiner Mutter dem Kibbuz Hulda bei und nahm seinen jetzigen Namen an (dt. etwa Kraft und Stärke). Während seines Studiums der Literatur und Philosophie an der Hebräischen Universität in Jerusalem von 1960 bis 1963 veröffentlichte Oz seine ersten Kurzgeschichten in der Literaturzeitung „Kesher“ (dt. Regenbogen). Seit 1967 ist er ein prominenter Befürworter der Zwei-Staaten-Lösung im Nahostkonflikt.

Oz nahm am Sechstagekrieg und am Jom-Kippur-Krieg teil und gründete in den 1970er Jahren mit anderen die israelische Friedensbewegung Schalom Achschaw (Peace Now). Von 1987 bis 2005 war er ordentlicher Professor für hebräische Literatur an der Ben-Gurion-Universität des Negev in Beerscheba. 1993 erhielt er dort den berühmten Agnon-Lehrstuhl für moderne hebräische Literatur.

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