Von Frauenkirchen zur Terrorabwehr

Yehuda Guy, Jahrgang 1921, blickt auf ein spannendes Leben zurück. Als Julius Löwenthal in Frauenkirchen geboren, hat er das Jahr 1938 als Mitarbeiter der Kultusgemeinde erlebt, rechtzeitig die Flucht ergriffen und sich nach Palästina durchgeschlagen. Von einem kleinen Posten als Polizist im jungen Staat Israel stieg er bis zum Sicherheitsbeauftragten im Verkehrsministerium auf. Das Gespräch mit Yehuda Guy führte DANIELLE SPERA.
FOTOS: BEN SHALEV GIL

Bei einem Besuch in seiner Wohnung in Ramat Gan fällt zunächst die Kunst ins Auge. Kaum ein Zentimeter Wand ist zu sehen, so dicht sind die Zeichnungen, Ölgemälde, Gouachen und Grafiken gehängt, Originale großer jüdischer Künstlerinnen und Künstler. Keine Namen, bitte, sagt Yehuda Guy. Wie er auch bei seinen Lebenserinnerungen immer wieder innehält: „Das bitte nicht zu schreiben, das ist nicht für die Öffentlichkeit.“ Er ist ein brillanter Erzähler, doch immer, wenn es spannend wird, folgt gleich ein Rückzieher.

Seine Geschichte beginnt 1921 in der Judengasse im burgenländischen Frauenkirchen, eine der großen und wichtigen sieben jüdischen Gemeinden im Burgenland, wo er in die Familie Löwenthal geboren wird. Die Judengasse von damals gibt es nicht mehr. Es existiert davon nur noch das Straßenschild. Wo früher der Tempel stand, befindet sich heute ein Sondermüll-Lager.

„Die Kinderzeit in Wien habe ich in einer Zimmer-Küche-Wohnung im 15. Bezirk verbracht – ohne Wasser und Klo“, sagt Guy. „Das Wasser haben wir von der Bassena geholt. Man hat genau gewusst, wer was kocht, wenn man über den Gang gegangen ist. Kraut oder Kohl. Das Klosett war im Hof in einem Holzverschlag. Geld war keines da, kurz nach dem Krieg. Mein Vater ist als Invalide zurückgekommen, er ist im Ersten Weltkrieg als jüdischer Soldat schwer verwundet worden und musste zeit seines Lebens Tag und Nacht ein Korsett aus Leder tragen.“

Löwenthals Eltern waren arme Leute. „Mir hat es jedoch an nichts gefehlt, für den Sommer hatte ich eine Lederhose und für den Winter die Knickerbocker, das war’s.“ Die Nachbarn wussten, dass Löwenthals Juden waren, obwohl der Vater nur zu den Feiertagen in den Tempel ging – in die Turnergasse. Die Mutter und Julius waren für die Religion nicht zu haben: „Bei uns in der Nähe war ein Wirtshaus, da hat es zu Weihnachten Gans oder Spanferkel gegeben. Ich wollte immer das Spanferkel. Einmal in der Woche hat mich meine Tante Pepi abgeholt. Am Schwendermarkt hat sie mir dann einen Tee und eine Buttersemmel mit Schinken spendiert. Seit damals sind für mich Schinkensemmeln das Essen schlechthin“, erinnert sich Yehuda Guy.

Dass er der einzige Jude in der Schule war, sei kein Thema gewesen, Antisemitismus habe er nicht gespürt. Nach Diskussionen in der Familie wurde er überredet, zu Maccabi zu gehen. „Dort haben sie Lieder gesungen, die mir gar nicht gefallen haben: Ein lustiger Araber kennt weder Zwist noch Hader – kennen Sie das? Von Mekka bis Medina, da leben die nun auch in Palästina, da leben die Araber, da lebt der Wüstensohn. Und ich habe halt gesagt, wenn die Gojim uns nicht lieben, warum sollen die Araber uns lieben? Da bin ich aus dem Religionsunterricht geflogen.“

Julius besucht die Höhere Lehranstalt für Maschinenbau und Elektrotechnik – bis zum „Anschluss“ im März 1938. Dann musste die Schule „judenrein“ sein. „Bis dahin war es sehr schön. Wir sind jeden Tag in der Früh angetreten und haben ein Lied zu Ehren von Engelbert Dollfuß gesungen“, dessen Text er auch 76 Jahre später noch auswendig aufsagen kann.

Furchtbare Schreie und Gestöhne
Im März 1938 ändert sich alles schlagartig. Die Eltern meldeten sich sofort für eine Einreise nach Amerika an, glaubten aber, als ehrenwerte Menschen geschützt zu sein. Doch Julius spürte die angespannte Lage. „Ich bin zur Kultusgemeinde gegangen, weil ich wissen wollte, was sich abspielt. Dort hat man mir angeboten, als Ordner mitzuhelfen. Jeden Tag sind viele Leute auf der Straße gestanden und haben sich darüber ausgetauscht, wo man noch hin kann.“ Julius schaffte es, beim Präsidenten, Dr. Löwenherz, als Kanzleimitarbeiter eingesetzt zu werden. In dessen Büro begegnete er mehrmals Adolf Eichmann, ohne zu ahnen, dass er ihn eines Tages unter anderen Umständen wieder treffen würde. Löwenherz musste mehrmals pro Woche zur Gestapo am Morzinplatz, manchmal schickte er Julius als Boten, um Dokumente hinzubringen. „Ich bekam einen Gestapoausweis, mit dem ich auch wieder aus dem Gestapo-Gebäude hinaus konnte. Ein-, zweimal ist es unheimlich gewesen, denn ich habe furchtbare Schreie und Gestöhne gehört. Ich dachte nur noch, wie komme ich hier am schnellsten raus.“
Auch die Ereignisse des November 1938 erlebte Julius hautnah mit. Am 9. November arbeitete er bis zum Abend im Büro von Löwenherz, er sollte gemeinsam mit anderen bleiben, um ein Eindringen in das Büro des Präsidenten zu verhindern. „Einer von den Nazis, den ich gekannt habe, hat zu mir gesagt, du musst schnellstens nach Hause. Am nächsten Tag habe ich gesehen, was mit dem Stadttempel angerichtet worden war, es war eine einzige Verwüstung.“ Ihm war jetzt klar, dass er weg musste. Ein Zwischenfall beschleunigt die Entscheidung. Spätabends auf dem Weg nach Hause sah er beim Westbahnhof zwei Männer mit Hakenkreuzbinden, die einen Mann verhörten. „Als sie realisierten, dass ich sie beobachte, sind sie mir nach. Ich lief davon und versteckte mich hinter einem Waggon. Einer der Männer entdeckte mich. Na, der hat den Kürzeren gezogen. Mehr will ich nicht sagen, vielleicht leben seine Verwandten ja noch. Ich bin jedenfalls sofort zum Löwenherz und habe mich verabschiedet.“

Juden durften zu dieser Zeit nicht mehr mit dem Zug fahren. Es gab jedoch noch keinen Judenstern, und Löwenthal konnte in einer Reithose und Steirerhut mit Gamsbart unauffällig reisen. Er schafft es nach Holland, wird dort jedoch aufgegriffen und zurück an die deutsche Grenze gebracht. „Da habe ich mir gedacht, von hier aus geht es wahrscheinlich in ein Konzentrationslager. Da gab es für mich nur eines: Raus. Ich wusste, ohne Chuzpe geht es nicht, bin losgerannt und habe mich wieder bis nach Wien durchgeschlagen, meine Eltern haben sich so gefreut. Löwenherz wollte mich überreden, dass ich wieder für ihn arbeite. Er sagte, wir haben Pässe bekommen von der Gestapo, mit einem solchen bist du vollkommen sicher. Ich habe das abgelehnt, ich wollte mit dem Eichmann nichts zu tun haben.“

Während die Eltern weiter von Amerika träumten, hatte Löwenthal Palästina als Ziel. Über die Donau und das Meer gelangt er bis Haifa. Auf dem Schiff lernt er zwei tschechische Burschen kennen, die ihm eine Adresse nennen. Ein Hinterhof in der Petznerstraße in Haifa. Dreimal klopfen war die Devise. „Dort waren Leute von der Hagana (zionistische Untergrundorganisation, Vorläufer der späteren israelischen Armee). Sie haben mich gefragt, ob ich schießen kann? Na klar konnte ich schießen. Ich habe mit 16 mit einem Förster Hasen gejagt. Können Sie reiten? Konnte ich auch. Aus dem Prater, da habe ich geholfen mit den Pferden. So wurde ich eingeteilt zur Nachtwache in Kfar Chassidim (Dorf in Nordisrael, 1924 von polnischen Einwanderern gegründet).“

Hebräisch hat er nur langsam gelernt und gleichzeitig versucht, Arbeit zu finden. Gemeinsam mit einem Freund hebt er Gräben für die Bewässerung aus. „Das war Schwerarbeit. Wir haben ein Feld gepachtet und Kartoffeln angebaut, Rohre gelegt und Sprinkler gekauft. Eines Morgens kamen wir hin, alles war weg. Nicht weit von unserem Feld war ein winziges arabisches Dorf. Ich konnte kein Arabisch, kaum Hebräisch, aber Wienerisch. In Stiefeln und Reithosen sind wir rauf in das Dorf zum Muchtar. Wir haben ihn angeschaut und gesagt: Einer von euch hat unsere Rohre und Sprinkler gestohlen, gebt sie uns zurück. Arabisch hin oder her, sie haben uns verstanden. Wir bekamen unsere Sachen sofort zurück.“

Wachposten vor Ben Gurions Zimmer
Wichtiger als die Arbeit waren ihm aber die Mädchen. Eines Abends erfährt er von einem Fest von deutschen Emigranten. „Da war ein sehr hübsches Mädchen, die Lotte. Ich habe sie zum Tanzen aufgefordert, obwohl ich nicht tanzen konnte und bin ihr nur auf die Füße getreten. Sie hat sich geärgert und wollte nach Hause. Dann aber hat sie gesagt, du tust mir leid, wenn du so allein dastehst. So ist meine große Liebe entstanden, mit dem Ergebnis von zwei Töchtern, Schwiegersöhnen und fünf Enkerln.“

Um seine neue Familie zu erhalten, meldet er sich zum Militär, wo er neben der Grundausbildung auch ein Ingenieurs-Training absolviert. Gleichzeitig erfährt er über das Rote Kreuz, dass seine Mutter lebt. Die letzte Nachricht über den Vater ist, dass er bei Kiew bei einer Massenerschießung getötet wurde. Die Mutter kam nie darüber hinweg.

1945 traf er zufällig einen Bekannten, der ihm ein Angebot machte, das sein Leben wieder in eine neue Bahn führen sollte. Der Mann kam gerade von Ben Gurion und sagte: „Ich bin zum Leiter der israelischen Polizei ernannt worden. Möchtest du zu mir kommen?“ Und Guy nahm das Angebot an.

Als Ben Gurion die Staatsgründung verkündet, steht er als Wachposten vor seinem Zimmer. Wenig später werden ihm zwei Referate überantwortet, die Verkehrspolizei und die Bereitschaftspolizei, später wird er stellvertretender Generaldirektor für besondere Angelegenheiten. Über Details will er nichts berichten.

„Vieles kann ich nicht erzählen. Vielleicht nur, dass ich Adolf Eichmann nach seiner Auslieferung in Israel übernommen habe. Wir haben die Zelle für ihn vorbereitet. Schwer bewaffnet haben wir ihn abgeholt. Ich saß neben ihm im Wagen, doch ich konnte vor Abscheu nicht mit ihm sprechen. Erst als wir bei seiner Zelle waren, habe ich ihm gesagt, was er zu tun habe und dass er die Zelle selbst reinigen müsste. Er hat dann mit seinen Schritten die Zelle abgemessen und sie jeden Tag auf dieselbe Art und Weise geputzt. Von einer Kachel zur anderen. Immer ganz gleich, es war gespenstisch.“ Es sei eigenartig gewesen, erzählt Guy, wie unterwürfig Eichmann sich verhielt.
Bis zu seiner Pensionierung bleibt Julius Löwenthal, der längst schon Yehuda Guy heißt, für Sicherheit und Terrorabwehr im Verkehrsministerium zuständig und arbeitet eng mit dem deutschen Grenzschutz und den österreichischen Behörden zusammen. „Polizeipräsident Karl Reidinger wollte mich zum Opernball einladen. Da hab ich gesagt, ich habe nicht einmal einen Smoking. Nachher hat zu mir gesagt, du hast nichts versäumt, nur das Ballett war gut. Sonst sitzen dort lauter Uhus.“ Welcher Politiker ihn in Israel am meisten beeindruckt hätte, frage ich ihn zum Abschluss. Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Shimon Peres. Dem Politiker gegenüber hatte ich manchmal Bedenken. Als Boss war er einmalig.“ Die Frage, was Peres als Boss so besonders qualifizierte, quittiert er wieder einmal mit einem vielsagenden verschmitzten Lächeln.

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