Von der Weitergabe des Feuers

Eine begnadete Geschichtenerzählerin: Chaya Czernowin

VON MARTIN RUMMEL

Diesen Sommer erscheint eine neue CD mit Werken von Chaya Czernowin, die siebte Veröffentlichung, die ausschließlich ihrer Musik gewidmet ist: Grund genug, über eine besondere Frau zu berichten, die in der Männerdomäne des klassischen Komponierens einen herausragenden Platz einnimmt. Nach ersten Studien in Tel Aviv kam sie 1982 nach Berlin, um bei Dieter Schnebel weiterzustudieren, der damals Professor für experimentelle Musik in Berlin war. Danach ging es weiter an die University of California, wo sie unter der Anleitung von Roger Reynolds und Brian Ferneyhough, dem Übervater der „New Complexity“, mit dem Doktorat abschloss. Seit 1997 unterrichtet sie selbst, zunächst in San Diego, dann in Wien, und jetzt eben in Harvard. Zugleich ist sie Leiterin der Internationalen Sommerakademie für junge Komponisten in Stuttgart. Vor kurzem erhielt sie den Heidelberger Künstlerinnenpreis, der sich an andere Auszeichnungen, darunter der Förderpreis der Siemens-Stiftung oder die Guggenheim Fellowship, anreiht.

Das beste Beispiel für Tradition

In Wien studierten eine ganze Reihe junger österreichischer Komponisten bei ihr, darunter Thomas Aamann, Hannes Dufek, Roman Pawollek, Astrid Schwarz, Thomas Wally und Julia Purgina, die den Unterricht bei ihr so beschreibt: „Chaya Czernowin wirft einen Blick auf die mitgebrachte Partitur, und mit ihrer feinen Stimme beginnt sie summend die Linien des Stückes nachzuzeichnen. Fragil und innerlich nähert sie sich im Kompositionsunterricht den Klängen, um sie dann im zweiten Schritt mit ausholenden Geschichten zum Leben zu bringen. Sie ist eine begnadete Geschichtenerzählerin, mit einem untrüglichen Gespür für Dramaturgie und Form. Sie entlockt der Musik nicht nur das Offensichtliche – auf das Verborgene kommt es ihr an. Und manchmal weiß man dann im Unterricht nicht mehr so genau, ob die Musik oder nicht doch der Mensch dahinter analysiert wird. Als sensible und zugleich sichere Lehrerin trifft sie mit ihren Analysen den Kern der Sache, ohne einem dabei zu nahe zu treten. Die Diskussion über Klänge ist mit dieser Grande Dame stets eine unvorhersehbare Entdeckung der Welt, bei der der Ausgang immer ungewiss bleibt, aber nicht wie ein Geschenkpaket hübsch zugeschnürt werden sollte.“ (Erinnertes Zitat)

Musik und Sprache hängen bekanntlich zusammen, und so sehr manche Musik aus der gesprochenen Rhetorik entsteht, so sehr scheint Chaya Czernowins hoch ausdrucksvolles Werk an der gesprochenen Sprache zu scheitern. Sie schreibt kraftvoll und sensibel zugleich, und obwohl ihr Stil höchst individuell ist, hat man doch als Zuhörer ein Gefühl der Vertrautheit und des Wiedererkennens – ein Wiedererkennen, das anders als bei Musik des 18. und 19. Jahrhunderts nicht auf Tonalität oder bestimmten Melodien beruht, sondern auf Schwingungen, die auf einzigartige Weise das Innerste berühren und die Verwundbarkeit der Seele jedes einzelnen Menschen fühlbar machen. In dieser Hinsicht steht sie in der besten Tradition, in einer Linie mit den Großen der vergangenen Jahrhunderte: Beethoven, Schubert, Mahler oder Berg.

Das Unterrichten ist für Chaya Czernowin weit mehr als ein Brotberuf: Es ist notwendig, um das eigene Komponieren zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. „Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche“, so Gustav Mahler. Auch in diesem Sinne – vielleicht vor allem in diesem Sinne – ist Chaya Czernowin das beste Beispiel für Tradition.

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