Venedig: Das erste Ghetto der Geschichte

Eine Tour durch das Ghetto von Venedig, wo einst mehr als 5000 Juden lebten: Zu den Wurzeln des Begriffs „Ghetto“, der Entstehungsgeschichte seiner fünf Synagogen und einer bemerkenswerten Sammlung im Jüdischen Museum.
Von Ida Labudovic (Text und Fotos)

Ein Spaziergang durch Venedig beginnt meist auf der Riva, dem Kai in der unmittelbaren Nähe des Markusplatzes. Von dort führt der Weg zum Ghetto am anderen Ende der Stadt vorbei an vielen Sehenswürdigkeiten Venedigs, bevor man in den dicht besiedelten Stadtteil Cannaregio gelangt: einfache Häuser, keine glamourösen Geschäfte oder Luxushotels. Über eine schmale Brücke betritt man das Ghetto Nuovo mit seiner jahrhundertelangen Geschichte. Es ist eine ruhige Gegend mit wenigen Touristen, einigen Bäumen und kühlendem Schatten auf der Piazza, wo der Rundgang durch das Jüdische Museum von Venedig beginnt.

Flankiert von zwei der ältesten Synagogen Venedigs, liegt das kleine, aber reiche Museum, das nächstes Jahr 60 Jahre alt wird, an einem einzigartigen Standort. Die Präsentation verschiedener alltäglicher und ritueller Objekte, die in Venedig in Verwendung waren, folgt einem klassischen Konzept: Von Silberleuchtern und Thora-Mänteln bis hin zu Manuskripten belegt die Sammlung ein intensives jüdisches Leben, das sich zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert innerhalb der Mauern des Ghettos abspielte.

Im alten Teil des Museums betritt man zwei Räume. Im ersten Raum befinden sich an den Wänden Vitrinen mit den verschiedensten Objekten, die für die jüdischen Feiertage genutzt wurden. In der Mitte stehen vier imposante Säulen mit wertvollen Thora-Kronen. Diese Säulen schaffen eine visuelle Perspektive zum Ehrenplatz, wo sich die Sefer Thora mit den fünf Büchern Mose befindet.

Das zweite Zimmer zeigt eine bewundernswerte Kollektion an Textilien, Parochetim, Vorhängen für den Thoraschrein und Thora-Mänteln. Materialien wie Samt und Seide in kräftigen Farben wurden mit goldenen und silbernen Nähten geschmückt.

Besucher mit Aramäisch-Kenntnissen können hier auch aus reich verzierten Ketubbas, jüdischen Eheverträgen, vieles über die zum Schutz der Ehefrau geltenden Regeln für jung verheiratete Paare erfahren.

Der neue Museumsteil
Nach einer Idee von Museumsdirektor Umberto Fortis wurde ein neuer Museumsteil geschaffen. Große Wandtafeln zeigen das Ghetto und die Zuwanderung verschiedener jüdischer Gruppen aus dem deutschsprachigen, italienischen und levantinischen Raum. Die Beschreibungen ihrer Geschichte und Gebräuche sind mit Dokumenten und rituellen Objekten illustriert.

Ein Bereich des neuen Museumsteils ist dem jüdischen kulturellen Leben gewidmet, darunter auch der Buchproduktion, die durch wertvolle Editionen bekannt wurde. Zwei berühmte venezianische Persönlichkeiten werden hier gewürdigt: Rabbiner Leon Modena und die von ihm geförderte Dichterin Sara Copia Sullam, geboren gegen Ende des 16. Jahrhunderts. Sie und ihr Ehemann führten ein offenes Haus, in dem Künstler und Intellektuelle zu Gast waren. Vier Jahre lang stand Sara Sullam in Korrespondenz mit dem Genueser Diplomaten und Literaten Ansaldo Ceba, dessen Werk sie tief bewunderte, den sie aber nie kennenlernte. Der intensive Briefwechsel hatte seine Folgen, es entwickelte sich eine Liebe daraus. Aus dem Dichter Ceba wurde ein Mönch, der versuchte, Sarah zum Christentum zu bekehren, was ihm aber misslang.

Am Ende des Museumsrundgangs erfährt man mehr über die Stellung der Juden in der venezianischen Gesellschaft, ihre Unterdrückung und den Beginn der Nazi-Ära. Die Deutschen okkupierten Venedig im September 1943 und begannen auch hier mit der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“. Der damalige Präsident der Jüdischen Gemeinde, Giuseppe Jona, vernichtete die Listen mit den Namen der Gemeindemitglieder und setzte sofort danach seinem Leben ein Ende. Die meisten Juden aus dem venezianischen Ghetto wurden ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau verschickt.

Ghetto, Synagogen und ihre Gemeinden
Mit Francesca Fila beginnt erst die richtige Ghetto- und Synagogentour: Die junge Italienerin führt souverän durch die fünf Synagogen, die innerhalb des Ghettos nahe beieinander liegen. Mit ihrem italienischen Akzent schildert Fila auf Englisch die Geschichte der ersten Siedlungen und wie das Wort Ghetto entstand. Was die Fremdenführer des Jüdischen Museums in Venedig von anderen Berufskollegen unterscheidet, ist, dass sie ihre Prüfung beim Oberrabbiner von Venedig ablegen müssen.

Zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert lebten etwa 5.500 Juden im Ghetto, heute sind es weniger als 500 in ganz Venedig. Die ersten hier ansässigen Juden waren Aschkenasim aus Mittelosteuropa. Als die Zahl der Juden immer weiter zunahm und ihre Ansiedlung an Bedeutung gewann, entschied sich die Republik, ihr Dasein zu regulieren, und zwar im Gießereiviertel „geto“. Durch einen Erlass wurde den Juden am 29. März 1516 ein fester Wohnsitz auf dem Gebiet des Ghetto Nuovo zugewiesen. Die aschkenasischen Juden sprachen das Wort „geto“ als „ghetto“ aus – und gaben damit dem ersten europäischen Ghetto seinen Namen. In der Nacht war das Ghetto geschlossen, Boote mit christlichen Wachmännern patrouillierten auf den Kanälen. Das neue Ghetto mit dem irreführenden Namen Ghetto Vecchio wurde ab 1541 von levantinischen und sephardischen Juden bewohnt. Die Bezeichnung „vecchio“ (italienisch für alt) wurde schon vorher für diese Gegend benutzt. Venezianische Juden genossen vom 16. Jahrhundert bis Anfang des 19. Jahrhunderts eine einzigartige Rechtssicherheit, man gewährte ihnen sogar Schutz vor der Inquisition. Sie wurden aber wie überall in Europa stark besteuert.

Aus dem Museum betritt man direkt die zwei ältesten Synagogen Venedigs, die Scola Grande Tedesca und Scola Canton, die von aschkenasischen Juden benutzt und Anfang des 16. Jahrhunderts erbaut wurden. Mit ihren acht Wandtafeln aus Holz, die Episoden aus der Bibel darstellen, ist die Scola Canton einmalig in Europa. Die Scola Italiana aus dem Jahr 1575 gilt mit ihren fünf großen Fenstern als die hellste. Zwei Synagogen aus der Neuzeit werden noch heute benützt: Die Scola Levantina mit ihrem kolossalen Zugang zur Bima (Lesepult) und die größte Synagoge in Venedig, die Scola Spagnola. Im 17. Jahrhundert wurde sie vom berühmten venezianischen Architekten Longena vollständig im Stil eines noblen Palastes umgebaut: Der Innenraum wurde mit vielfarbigem Marmor und vergoldeten Stuckaturen ausgestattet sowie mit einer Säulenreihe, die an den Jerusalemer Tempel erinnern soll.

Nach einer Stunde geht die Tour mit Francesca Fila zu Ende. Über die schmale Brücke verlässt der Besucher das Ghetto. Aus einem offenen Fenster hängt eine Fahne mit hebräischen Buchstaben. Man hört die Menschen Iwrith sprechen und küsst eine Mesusa an der Wand, wirft einen letzten Blick in die Vergangenheit einer jüdischen Gemeinde, die bis heute ihre Kontinuität bewahrt hat.

Museo Ebraico di Venezia
Cannaregio 2902b
30121 Venezia
www.museoebraico.it

Öffnungszeiten:
1. Juni bis 30. Sept.: 10 bis 19 Uhr
1. Okt. bis 31. Mai: 10 bis 18 Uhr

Eintrittspreise Museum und Synagogen-Tour:
8,50 EUR, ermäßigt 7,– EUR
Eintrittspreise Museum:
3,00 EUR, ermäßigt 2,– EUR

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