Um diesen Knaben bat ich

Daniel Zinner ist einer der weltbesten Bibelkenner. Bei einem international besetzten Wettbewerb in Jerusalem hat er den bemerkenswerten 12. Platz belegt. Jetzt will er sich noch weiter verbessern und trainiert bereits für den nächsten Contest zu Chanukka 2016. Peter Menasse (Text) und Milagros Martínez-Flener (Fotos) haben ihn besucht.

Da saß er mit einem Male auf dem Podium und war nahezu sprachlos. Mit ihm fünfzehn andere Kandidaten, vor ihm ein Publikum von 3000 Menschen, darunter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, hochrangige Jurymitglieder, Fernsehkameras, Mikrofone. Und mittendrin auch seine Familie. „Ich habe zum Allmächtigen gebetet, dass ich die Fragen, die man mir stellen wird, beantworten kann. Ich soll mich nicht vor mir und vor meiner Familie schämen müssen.“

Dabei hatte alles durchaus gemütlich begonnen. Daniel Zinner erfuhr bei einem Besuch bei „Misrachi-Wien“ im Herbst 2014, dass in Israel während Chanukka ein Bibel-Wettbewerb stattfinden würde, an dem sich erwachsene Juden aus aller Welt beteiligen könnten. Zinner geht gerne zum Beten zu dieser zionistisch-orthodoxen Vereinigung, weil sein Schwiegersohn dort den Posten des Vizepräsidenten bekleidet und weil Raw Pardess vorträgt, dem er großen Respekt und Zuneigung entgegenbringt.

Großmeister im Thora-Wissen

Daniel Zinner ist prädestiniert dafür, sich im Bibelwissen mit den Besten zu messen. Er ist gebürtiger Israeli, hat in seiner Heimat studiert und den Beruf eines Lehrers für Hebräisch und jüdische Philosophie ergriffen. Dann ereilte ihn, der dank seiner in Deutschland geborenen Eltern ein gutes Deutsch spricht, ein Ruf aus Wien: Die Zwi Perez Chajes Schule bestellte ihn zum Direktor. Später und bis zu seiner Pensionierung war er Lehrer am Lycée Français de Vienne, der Wiener französischen Schule, die traditionell von vielen jüdischen Schülerinnen und Schülern besucht wird.

Zurückkehrt von seinem Besuch bei Misrachi, setzte sich Daniel Zinner an seinen Laptop und begann zu recherchieren. Der im Jahr 2012 gestartete Bibel-Wettbewerb findet alle zwei Jahre in Jerusalem statt. Veranstaltet wird er vom israelischen Bildungsministerium, der Zionistischen Weltorganisation und der Jewish Agency. Und er hat einen durchaus politischen Hintergrund. Auf der Website der Organisatoren lässt sich das ablesen: „Die Bibel … ist das Fundament für unsere Existenz als Volk und verankert unser Recht auf das Land Israel.“ Und weiter: „Wir haben festgestellt, dass die Förderung des Interesses an der Bibel, des Lernens aus ihr und der Besinnung auf sie … als gesegnetes Instrument zur Anerkennung der Bibel als kultureller Grundlage des Volkes Israel dient …“ Agnostische Juden mögen da meinen, dass es viel mehr gibt, was Israel ausmacht, Daniel Zinner aber brauchte man nicht zu überzeugen. Er ist bibelfest und war auch bereit, sich intensiv auf den Wettbewerb vorzubereiten.

Der erste Schritt zum Weltmeister für Bibel-Wissen führt über einen Multiple-Choice-Test. Zinner loggte sich ein und hatte 50 Fragen innerhalb von 50 Minuten zu beantworten. Für ihn war das ein Klacks: „Von dieser Zeit habe ich nur vierzehn Minuten gebraucht. Dann habe ich kontrolliert, was ich geschrieben habe. Schließlich hatte ich 44 richtige Antworten.“

In insgesamt 26 Staaten der Welt taten es ihm viele bibelfeste Juden gleich. Am Ende hatten sich 29 von ihnen aus zwanzig verschiedenen Ländern für die nächste Phase qualifiziert. Hierzulande zwar weithin unbeachtet, hatten wir also ein heißes Eisen im Feuer um den Großmeister im Thora- Wissen.

Eintrittskarte für die Bühne

Es sollte noch besser kommen. Die Teilnehmer wurden eingeladen, eine Woche im Dezember 2014 in Jerusalem zu verbringen und dort weitere Tests zu absolvieren. Davor erhielten sie eine Broschüre mit Texten aus 550 Kapiteln der Bibel, die es zu lernen galt. Vor Ort gab es schließlich die nächste, besonders schwierige, schriftliche Prüfung, mit deren Hilfe die schon sehr belesene Spreu vom wirklich meisterlichen Weizen getrennt wurde. Wieder waren 50 Punkte zu erzielen, von denen Zinner 27 erreichte. Das war weniger, als er sich erhofft hatte, aber doch seine Eintrittskarte für die Bühne, auf der ihm plötzlich die ganze Tragweite seiner Entscheidung zur Teilnahme erst so richtig klar wurde. Seine Gedanken hören sich so an: „Nicht blamieren. Es war sehr, sehr spannend. Es war sehr spannend und dem Allmächtigen sei Dank, die Frage war solch eine Frage, die ich wirklich beantworten konnte. Ich habe eine Minute vorher einen Zettel bekommen, sodass ich mich irgendwie orientieren und konzentrieren konnte. Und dann wurde die Frage, auf Hebräisch selbstverständlich, vom Moderator gestellt. Sie bestand aus zwei Teilen und ich konnte sie beide richtig beantworten. So bekam ich auch die meisten Punkte dafür, zwölf in diesem Fall. Aber das hat mir nicht gereicht, um zusammen mit den 27 Punkten, die ich vorher erreicht habe, noch unter die letzten acht zu kommen.“

So wurde Daniel Zinner schließlich zwölftbester Bibel-Kenner der Welt und erhielt für seine Leistungen zwei Zertifikate. Auch wenn er sie uns stolz in die Kamera hält, muss er sich doch ein wenig ärgern: „Dieses Dokument wurde vom Büro für Bildung des Staates Israel ausgestellt – und sie haben zwei grobe Fehler im Hebräischen gemacht. So was müsste doch kontrolliert werden, bevor es an die Öffentlichkeit kommt.“ Ja, im Hebräischen und im Bibel-Wissen macht Herrn Zinner nicht so schnell jemand etwas vor. Bis auf den Sieger des Wettbewerbs: „Gewonnen hat ein israelischer Lehrer. Ganz zum Schluss musste er zehn Fragen innerhalb von 60 Sekunden beantworten. Er hat die Antworten richtig herausgeknallt und neun richtige erreicht. Mit ihm kann ich nicht in einem Zimmer sein. Er ist zu groß für mich. Ich bin zu klein für ihn.“

Jetzt aber will er mehr, erzählt Daniel Zinner in seinem gemütlichen Wohnzimmer mit den vielen schönen Büchern mit hebräischen Schriftzeichen, die allesamt auf den Sprachunkundigen so wirken, als wären sie heilige Schriften. Eine gemeinsame Woche in Jerusalem hat die Finalisten des Wettbewerbs zusammengeschweißt. Sie kommunizieren über das Internet-Tool WhatsApp und lernen gemeinsam für den zu Chanukka 2016 stattfindenden Bibel-Quiz. „Und wer bereitet uns vor? Dieser, der an erster Stelle war. Wir wissen genau, was zu lernen ist, aber er hat uns beigebracht, wie man es lernt.“ So büffelt Herr Zinner jetzt die Lektionen, die da sind 550 Kapitel der Bibel, und sagt dazu, dass es schon „eine Liebe sein muss, eine sehr große Liebe“, die einen antreibt, über Jahre so intensiv zu lernen.

„Wenn ein Dummer schweigt …“

Meister Zinner ist die Beschäftigung mit der Bibel, nach der Zeit im Beruf, jetzt also zu einer echten Berufung geworden. So hat er in diesem Jahr ein Buch über die Interpretation der Bibel-Sprache unter dem Titel Hamudot Daniel – Reviewing the Torah Language herausgebracht, das man bei ihm beziehen kann (daniel.zinner1@gmail.com). Und seinem Besucher, der ihm gesteht, gar keine Ahnung von der Heiligen Schrift zu haben, bietet er sogleich an, ihn zu unterrichten, „unentgeltlich selbstverständlich“.

Auf die Frage nach seiner Lieblingsstelle in der Bibel weicht er aus. Mag sein, dass das ein unzulässiges Begehren an einen ist, der alles an den Heiligen Büchern liebt. Aber zu einem Bibelspruch lässt er sich schon überreden: „Wenn ein Dummer schweigt, könnte man meinen, dass er klug ist.“ Dabei jedoch belässt es einer nicht, der sich sein Leben lang mit talmudischer Weisheit befasst hat. Spitzbübisch lächelnd ergänzt er: „Aber wenn er schweigt, das ist jetzt meine Zugabe, meine Interpretation, wenn er schweigt, dann ist er schon nicht so dumm.“

Daniel Zinner spricht klug, und so wird er erneut vor tausenden Menschen auf dem Podium sitzen. Viel Glück also – und „Nächstes Jahr in Jerusalem“.

 

Beispiele für Fragen beim Bibel-Wettbewerb für den Selbsttest:
1.)  Wer sprach: „Er erkannte ihn aber und sprach: Es ist meines Sohnes Rock. Ein böses Tier hat ihn gefressen“? 2.)  Wer sprach: „Um diesen Knaben bat ich“? 3.)  Wer sprach: „Es ist wahr, was ich in meinem Land von deinen Taten und von deiner Weisheit gehört habe“? 4.)  Wer sprach: „Siehe, der Duft meines Sohnes ist wie der Duft eines Feldes, welches G-tt gesegnet“? 5.)  Zu wem wurde gesagt: „Warum sollen wir und unser Boden vor deinen Augen zugrunde gehen“? 6.)  Wer sprach: „Ich aber werde drei Pfeile nach der Seite hin abschießen“?

 

Antworten: Zu 1.)  Jakob, als er Josefs blutigen Rock sah. Zu 2.)  Hannah, als sie ihren Sohn Samuel gebar. Zu 3.)  Königin von Saba zu König Salomon. Zu 4.)  Isaac zu seinem Sohn Jakob. Zu 5.)  Die Ägypter zu Josef. Zu 6.)  Jonathan, um David zu retten.

 

[ts_fab authorid=“130″]

Die mobile Version verlassen