Über das Sprechen und Schweigen der Großmütter

Anja Salomonowitz, eine junge Filmemacherin der „dritten Generation“, lässt im Dokumentarfilm „Das wirst du nie verstehen“ ihre eigenen Großmütter sprechen. Entstanden ist kein Familienstück, sondern ein plastisches Dokument über Ignoranz, Ohnmacht und Schuldgefühl.
Von Werner Hanak und Peter Menasse

Die schwarze Schrift DAS WIRST DU NIE VERSTEHEN auf dem rein weißen Grund des Plakats kündigt das strenge Konzept an. Die Farbe Weiß bestimmt den Film: Der gesamte Hintergrund, die Wände und die Polstermöbel in den Wohnungen sind weiß, selbst die Menschen sind weiß gekleidet. Die Filmemacherin will verhindern, dass der Beschauer von unwichtigen Details abgelenkt wird, sie will den Inhalt ohne optische Irritation wirken lassen. Und doch wird ein anderes Element zur großen Stärke des Films von Anja Salomonowitz – die Verstrickungen der handelnden Personen untereinander und mit der Geschichte. Im Mittelpunkt stehen drei ältere Frauen, die drei „Großmütter“ der 28-jährigen Filmemacherin. Die echte Oma stammt aus Graz und hat eine, gelinde gesagt, verklärte Erinnerung an die Nazizeit. Die zweite Protagonistin, „Hanka“, die Großtante, ist eine Jüdin aus dem heutigen Tschechien, die ein Konzentrationslager überlebt hat. Die dritte alte Frau war einst Salomonowitz‘ Kindermädchen, heißt im Familienjargon „Tante“ und ist eine stolze Wiener Sozialdemokratin alten Schlags. Für ein spannendes Casting, wenn man dieses Wort bei einem persönlichen Familienfilm verwenden kann, ist also gesorgt. In Bewegung aber kommt dieses „Großmutter-Trio“ erst richtig durch einen gelungenen dramaturgischen Kunstgriff: Anja Salomonowitz‘ jüngere Schwester Yael, die scheinbar naive, in Wirklichkeit aber unerbittliche Fragen stellt, wird zu einer zentralen Figur in vielerlei Hinsicht: Die noch nicht Zwanzigjährige symbolisiert das Alter der drei Frauen während jener Zeit, um die es in diesem Film geht, den Zweiten Weltkrieg. Sie ist die Figur, die es braucht, um zwischen den drei Frauen eine Verbindung herzustellen. Sie ist die Fremde, die wie bei Ibsen das Drama entrollt, und sie ist gleichzeitig mittendrin – als die Vertreterin der Filmemacherin, die damit gleichermaßen an- wie abwesend ist. Eine gekonnte und glückliche Konstellation für einen Familienfilm, in dem das richtige Maß von Distanz und Nähe über die Qualität entscheidet.

„Das wirst du nie verstehen“ ist ein Film über Identität und Erinnerung. Ein Film, in dem die so genannte dritte Generation, intellektuell gut ausgerüstet, sehr persönliche Fragen stellt und mit diesem Know-how ihrer eigenen Familiengeschichte nachgeht. Wenn man die Filmemacherin im Interview fragt, warum sie als junge Frau denn erneut die Vergangenheit aufrolle, wo man doch schon der zweiten Generation seit langem bedeute, es wäre jetzt endlich genug und man solle die alten Zeiten ruhen lassen, spielt sie diese Frage in erstaunlicher Weise von sich weg. Es gelingt auch dem insistierend Fragenden nicht, ihre innere Befindlichkeit zu erfahren. Es ist ihr selbstverständlich, dass sie hinter dieses schaurige Mirakel kommen muss, aber scheinbar ohne dass sie eine eigene, stringente Stellung zu den Altvordern beziehen muss, wie es für die zweite Generation stets zwingend war: „Ich sitze am Familientisch bei einer Party, die Großmütter reden über Kuchen und Kaffee und ich frage mich, wie kann das sein?“ Das Nichtsprechen über das aus den drei verschiedenen Perspektiven Erlebte war der Auslöser für den Versuch von Salomonowitz, die Frauen im Film zum Sprechen zu bringen. Als Zuschauer werden wir genau dieser Szene, in der die Großmütter über Kaffee und Kuchen sprechen, wieder begegnen. Und gemeinsam mit der Filmemacherin werden wir irgendwie froh sein, dass sie auch diesmal kein heikleres Thema anschneiden.

Den KünstlerInnen und HistorikerInnen der dritten Generation, egal ob sie Nachkommen der Täter- oder der Opfergesellschaft sind, wird heute manchmal vorgeworfen, sie würden die Zeit des Zweiten Weltkriegs nur noch als Familiengeschichte begreifen und die Geschichte als zusammenhängende Struktur vernachlässigen. Anja Salomonowitz präsentiert auch einen kompromisslos persönlichen Familienfilm, aber mit dem ausgewiesenen Konzept, dem Allgemeinen auf die Spur zu kommen: „Es geht nicht um persönliche Erfahrungen allein, sondern um die Verbindung von persönlichen und kollektiven Erinnerungen.

Und es ist immer die Frage, sind die Statements der Zeitzeugen tatsächlich persönliche Erfahrungen oder aber die Darstellung von kollektiven Annahmen. Glaubt eine Person etwas selber erlebt zu haben oder wiederholt sie nur kollektive Erinnerungen?“ Besonders gelungen findet sich diese Problematisierung in der Darstellung der Großmutter mit ihrem Mann, einem Sudetendeutschen, der im Krieg ein Bein verloren hat, wenn sie darüber räsonieren, welche Zeit die eigentlich schlimmere war: jene vor oder nach Kriegsende. Entgegen der Kritik, die junge Geschichtsschreibung würde sich in der Darstellung von einzelnen Familiengeschichten verlieren, beweist Anja Salomonowitz, dass die Fähigkeit, diese subjektiven Familiengeschichten erzählen zu können, der besondere und einzigartige Beitrag dieser dritten Generation sein kann.

Während sich zwischen erster und zweiter Generation eine Mauer des Schweigens aufgebaut hat, in der zwar mal Eltern, mal Kinder ein Fenster öffneten, praktisch jedoch nie gleichzeitig, können Großeltern und Enkel prinzipiell mit viel geringerer Befangenheit miteinander reden. Dass diese Möglichkeit aber nur von einer kleinen „Avantgarde“ ausgeschöpft wird, ist evident: Denn auch weiterhin sind die meisten Enkel und Urenkel bereit, die vorgefertigte Familienrhetorik willig zu übernehmen. Hinzu kommt, dass von Generation zu Generation tendenziell die positive Sicht auf die Vorfahren weitergegeben und angenommen wird. In vielen Familien ist es so wie im Beispiel des Anwalts, der seine jüdischen Klienten nach 1938 auf schändliche Weise zuerst ausgenommen und dann ausgeliefert hat. Von seinen Kindern wird er als ein Mann wahrgenommen, der es in der Kriegszeit nicht leicht gehabt hat. Und weil es den tiefen Wunsch gibt, von seinen Vorfahren nur das Beste zu glauben, mutiert der Großvater und der Urgroßvater bei der nächsten Generation schließlich zum Widerstandskämpfer, der vielen armen Juden zur Flucht verholfen hat.

„Das wirst du nie verstehen“ beweist, dass Subjektivität und Differenzierung auch innerhalb einer knappen Stunde kein Widerspruch sind. Wir lernen einerseits die „Abwehrrhetorik“ der Großmutter kennen, in der beispielsweise das Leid der deutschen Kriegsgefangenen überdimensional in den Vordergrund rückt. Oder die noch immer gegenwärtige Hilflosigkeit der „Tante“, wenn sie erzählt, wie es ihr nicht möglich war, am Westbahnhof jüdischen Gefangenen, die dort in einem heißen Waggon in der prallen Sonne eingesperrt waren, Wasser zu geben. Die aus dem Waggon sich herausreckenden Hände nicht erreichen zu können, meint Salomonowitz im Interview, spiegle auch die Ohnmacht der Arbeiterbewegung gegenüber der Naziherrschaft. Gegen Ende des Films verweigert Hanka, die jüdische Großtante, das Gespräch. Sie will nicht mehr, aus, vorbei. Zu schrecklich ist das, worüber zu sprechen wäre, diese Geschichte von Leid und anschließender „Überlebensschuld“. Sie schweigt, weil es die einzige Form ist, die ihr Erinnerungen erspart.

Die drei Großmütter treffen sich zu Yaels, ihres „Enkelkinds“, Geburtstag. Die „Tante“, das ehemalige Kindermädchen, sitzt zwischen den verwandten Antipoden – der niemals dazugelernt habenden Großmutter und der jüdischen Großtante. Sie sprechen miteinander über Kuchen und Kaffee, niemals über ihre Geschichte. Wenn Anja Salomonowitz im Kommentar bemerkt, dass bei diesem Treffen „gar nichts passiert“ ist, merken wir fast ihre Erleichterung, die wir alle so gut kennen, wenn wir Menschen, die sich gegenseitig fremd, uns aber sehr wichtig sind, zusammenbringen. Und als die Filmemacherin uns Zuschauer dann auch noch darauf aufmerksam macht, dass Hanka an diesem Tag vergessen hat, sich entgegen der Abmachung wie auch an den anderen Drehtagen etwas Weißes anzuziehen, spüren wir nicht nur die Nähe der Filmemacherin zu ihren „Darstellern“, sondern auch eine sympathische Ironie gegenüber ihrem eigenen strengen „weißen“ Konzept.

Anja Salomonowitz ist ein großartiger Film über Wien gelungen. Mit einfachen Mitteln findet sie eine Sprache für die Komplexität der Geschichte dieser Stadt. Und weil sie sich trotz innerer Widerstände dafür entschieden hat, streng persönlich zu bleiben, ist es auch ein Film, der keine Zielgruppendiskussion notwendig hat. Er kommt emotional bei den BewohnerInnen Wiens genauso an wie bei Menschen auf ausländischen Filmfestivals, weil er nachvollziehbar über das Problem einer Stadt aufklärt, von der man weiß, dass es dort sehr schön ist, dass aber ihre Bewohner nur allzu gerne die Vergangenheit verdrängen. Mit diesem Film wird den Zuschauern aber auch klar, dass es dort immer wieder Menschen gibt, die nicht locker lassen, weil sie einfach und endlich verstehen wollen.

 

„Das wirst du nie verstehen“, Dokumentarfilm

von Anja Salomonowitz

Publikumspreis beim Festival der Filmakademie;

Nachwuchspreis am Dokumentar-Filmfestival Visions du Réel in Nyon (CH)

Verleih/Kontakt: sixpackfilm (office@sixpackfilm.com)

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