Über das Leben im Wahnsinn

„Der Vater gründete mit einem Nazi und einem Juden das Ohne-Pause-Kino und arisierte den jüdischen Anteil.“ © Filmarchiv Austria

Vor kurzem starb Luzi mit mehr als hundert Jahren. Sie stammte aus einer assimilierten Familie, ihre jüdische Mutter Tini hatte einen katholischen „Arier“ geheiratet und alles Jüdische abgestreift. Ein Nachruf des Sohnes.

Von Walter König

Bis 1938 verschwieg Tini ihrer Tochter das Jüdischsein. Luzi wiederum fuhr mit zwei Nazi-Schulfreundinnen zur Maturareise auf den Obersalzberg: Händeschüttel-Foto mit Hitler! 1938 ließ sich Luzis Vater scheiden, damit er sein neu gegründetes Ohne-Pause-Wochenschaukino am Graben behalten konnte; Luzi war nun, gemeinsam mit ihrer Mutter, in den Ausrottungsprozess einbezogen. Tini meldete ihr Vermögen an und zahlte nach der Pogromnacht die „Sühneabgabe“ für die Zerstörung der Geschäfte und Synagogen.

Luzi verlobte sich mit einem Arier: „Rassenschande“. Weil sie noch nicht großjährig war, wurde sie aus dem Haus geworfen. Später wird Luzis Mann herzlos sein. Sie lässt es geschehen, ebenso wie sie sich später vom zweiten Sohn tyrannisieren lässt. „Mischlinge“ müssen schon früh alle gesellschaftlich erwünschten Eigenschaften zeigen. Nur ja nicht aggressiv aufbegehren. Sich anpassen. Jedes Fettnäpfchen erahnen. Demütigungen hinnehmen ohne Gegenwehr. Stets auf die Gefühle der anderen achten, wenig auf die eigenen. Nie spricht Luzi über ihre schmerzlichen Erinnerungen. Sie konzentriert sich darauf, andere glücklich zu machen.

Sie wurde von einem „Arier“ schwanger; naiv hoffte sie, dass ihr Freund Toni den Führer um eine „Ausnahmegenehmigung“ bitten würde. Doch den Brief gab es nicht. Als Luzis Tochter geboren war, eröffnete ihr Toni, dass seine neue, „arische“ Freundin bereits ein Kind von ihm erwartete.

Luzis Welt zerbricht. Mit 18 Tagen stirbt das Baby. Nie wieder spricht Luzi davon. Besucht nie das Grab. Verbotene Trauer. Verleugnete Erinnerung. Schon steht sie auf der Brücke. Beinahe springt sie. Emotionale Betäubung wird sie zukünftig schützen. Sie wirkt stark und leidensfähig, innerlich ist sie psychisch kaum mehr entwicklungsfähig – eine Folge von Verschwiegenem und Familiengeheimnissen. Tiefere Bindungen gelingen nicht, denn Tiefe bedeutet Abgrund. Die verletzte Seele wird unter einer Schale aus Härte, Kälte und Strenge geschützt. Vor allem gegen sich selbst. Zeitlebens lässt Luzi niemand in ihre Nähe. Nach außen ist sie die warmherzigste Person, die man sich vorstellen kann.

Tägliche Panik

Nach der „Arisierung“ der Wohnung musste Tini in ein „Judenhaus umsiedeln“, mit völlig überfüllten Sammelwohnungen. Luzis Vater hatte nach der Scheidung eine arisierte Wohnung, kaufte günstig geraubte Möbel und Kunst. Luzi lebte zerrissen: Tagsüber fand sie beim Vater Geborgenheit, nachts schlief sie bei der Mutter und hoffte, sie damit zumindest in der Nacht vor der Deportation zu schützen. Tinis Panik, von der Gestapo „ausgehoben“ zu werden, nahm täglich zu. Dieses Klima der Todesangst atmete Luzi in den Nächten ein.

Doch die bizarre Ironie geschah schon vorher. Der Vater gründete mit einem Nazi und einem Juden das Ohne-Pause-Kino und arisierte den jüdischen Anteil. Er stellte sich damit den Untiefen, Unmenschlichkeiten und der propagandistischen Kriegshetze zur Verfügung. Profitierte vom NS-Terror. Film war für Joseph Goebbels Propagandamittel Nummer eins. In den Wochenschauen wurde frech, schamlos und werbewirksam gelogen. Die andrängenden Zuseher glaubten die Lügenpropaganda und hofften, vielleicht den Sohn an der Front sehen zu können.

Tini hatte inzwischen alle Kontakte zu ihren Freunden eingebüßt. Permanente Vernichtungsangst, sobald es klingelte. Ihr Ex-Mann wurde absurderweise zu ihrem Beschützer. Obwohl Komplize des Systems, „kaufte“ er sie aus dem Sammellager heraus. Ihre beiden Brüder wurden mit zehn Reichsmark in der Tasche aus dem Land gejagt. Einer emigrierte nach Brasilien, der andere schaffte es nach Shanghai, wo allerdings bald die zweite Vertreibung begann.

Entsprechend der ablehnenden Haltung gegenüber Ostjuden seitens der Assimilierten, auch seitens der eigenen Familie, wurden Tinis Schwester und deren ostjüdischer Mann auf Distanz gehalten. Emigration war für sie zu teuer. Ihre Deportation mit zwei minderjährigen Kindern erfolgte nach Łodz, dann die Vernichtung im Gaswagen.

Seelischer Riss

Das Kino entpuppte sich als hervorragende Einnahmequelle. War die Scheidung Opportunismus oder Klugheit? Vater trug das Parteiabzeichen, setzte sich mit seiner aktiven Rolle im Mördersystem kaum auseinander, bemühte sich um Aufnahme in die NSDAP. Wurde aber wegen „jüdischer Versippung“ abgelehnt.

Wie psychisch stabil bleiben in dieser Zeit? Tini gelang es nicht. Zum zweiten Mal im Sammellager, erkrankte sie an paranoider Psychose. Ihr seelischer Riss, der mit der Scheidung und der Deportation ihrer Schwester begonnen hatte, wurde immer tiefer. Zwar konnte ihr Ex-Mann sie mit Hilfe eines hochrangigen Blutordensträgers wieder „herauskaufen“, doch sie emigrierte in eine symbolische Ausdruckswelt, in den eigenen Wahnsinn, der allerdings nur allzu real war. Sie fürchtete, im Ofen verbrannt zu werden, allerdings im eigenen, und räumte die Glut heraus. Wenigstens symbolisch konnte sie noch aktiv sein in all dem Ausgeliefertsein. Psychopharmaka gab es noch nicht.

Im Außen herrschte Krieg, dessen Irrsinn keine Worte haben durfte. Was ist in dieser Zeit noch normal und nicht verrückt? Der tägliche Wahnsinn wurde zum Alltag. Normal in dieser Zeit war eher, dass der Vater kaum ein Stück besaß, an dem nicht Blut klebte. Normal und verschwiegen von vielen Wienern, in deren Wohnungen bis heute noch Raubgut steht.

Vater und Luzi schützten sich durch Identifikation mit den Mächtigen. Luzi durch ihre Freunde, alle Parteimitglieder, mehrheitlich bei der SS. Große stattliche Männer, die ihr Halt gaben und die sie in der Wohnung des Vaters traf. Tini erholte sich erst, als ihr Lieblingsbruder aus der Emigration zurückkehrte. Nur wirkliche Akzeptanz und Beziehung sind heilsam.

Durch die sogenannte „Wiedervereinigung“ nach der Befreiung konnte Tinis Mann das Kino für sich retten. Sonst hätte er als Minder- oder Schwerbelasteter Berufsverbot bekommen. „Durch mich hast du zweimal dein Kino retten können“, sagte Tini. „Erst durch die Scheidung, jetzt durch die Wiedervereinigung.“ Die Vergewaltigung durch einen Russen im Keller des Ohne-Pause-Kinos bleibt wie alles davor tief vergraben. Die schweigende Generation gibt ihre Last der nächsten weiter.

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