Über das Handeln in Zeiten des Gedenkens

Im nächsten Jahr geht es los: Mit dem Gedenken an den Anfang des Ersten Weltkriegs beginnt eine Serie von Jahrestagen historischer Ereignisse, an die zu erinnern, Schmerzen und Trauer verursacht. Ein erstes Schlachten,
ausgelöst durch zwei Patriarchen, denen die Menschen nicht Schutzbefohlene, sondern nur Untertanen und Kanonenfutter waren, eröffnete das Jahrhundert. Was blieb, waren rund 17 Millionen Tote, zerstörte Landstriche und der Verlust jeglichen Vertrauens in die Zukunft. Zwei Jahrzehnte später mündete die nicht aufgearbeitete Vergangenheit ins nächste Desaster, das diesmal an die 80 Millionen Opfer forderte, darunter rund sechs Millionen Juden. Die Menschen hatten nicht gelernt, wohin bedingungsloser Gehorsam führt und auch nicht, wie es geht, sich gegen Diktatoren zu wehren.

Aber dann begann der große Lernprozess. Oder vielleicht doch nicht? Nach Jahren der Verdrängung des großen Unrechts wurde im Westen Deutschlands früher, in Österreich deutlich später und im Osten Deutschlands gar nicht über die eigene Schuld geredet und mit der Aufarbeitung begonnen. Die Initiativen Deutschlands in Richtung eines vereinten Europas und der mit deutlicher Mehrheit von den Bürgern gewünschte Beitritt Österreichs zur Union waren konkrete Schritte in Richtung Frieden.

Aber sind wir jetzt sicher? Können wir uns darauf verlassen, dass die Bevölkerung mündig geworden, einen neuen
Einbruch des Unrechts in die gesellschaftlichen Strukturen verhindern wird können? Ich befürchte, wir leben in einer
großen Illusion.

Rund um uns, mitten in der Europäischen Union beginnen die Mauern der Demokratie zu wanken. In Ungarn hat sich
eine braune Pest breitgemacht, die zum Fürchten ist. Die griechische Demokratie kämpft gegen die Übergriffe von
Mitgliedern der Gruppe „Goldene Morgenröte“, die in Krankenhäusern Migranten jagen, in Schulen eindringen und
auf der Straße politische Gegner verprügeln und zuletzt sogar einen Künstler getötet haben. In Spanien herrscht blinde Wut auf das versagende System, das der Hälfte der Jugendlichen keine Arbeit geben kann und in Italien haben viele Menschen scheinbar bereits jeglichen Glauben an die politische Vernunft verloren und statten billige Clowns mit massivem Einfluss aus.

In Österreich scheint es ruhig zu sein, wenn wir von den Neonazi-Prozessen der letzten Zeit absehen, die immerhin
zu Verurteilungen geführt haben. Aber es macht sich mehr und mehr eine Stimmung breit, die alle Institutionen und
ihre Vertreter in Frage stellt. Es wankt das Vertrauen in die Demokratie, obwohl die ökonomische Lage hierzulande
vergleichsweise gut ist. Aggressive Rechtsaußen und alternde Hanswurst-Figuren haben auch hierzulande bei der letzten Wahl Zuspruch erhalten.

Was fehlt und nicht besprochen wird, ist das Wissen darum, welche Menschen es bräuchte, um einen Wall des Widerstands gegen solche extreme, vielleicht bald extremistische Positionen aufzuziehen. Das Bildungssystem hat auch nach dem Versagen der Menschlichkeit in der Nazizeit nicht ausreichend und adäquat reagiert. Immer noch herrscht in unseren Klassenzimmern das Prinzip der Unterordnung, der Disziplinierung und der Hierarchie – nicht in jedem, aber in der überwiegenden Mehrzahl. Wenn auch der Obrigkeitsgeist abgenommen hat, so lernen junge Menschen auch heute nicht, wie sie sich gegen Ungerechtigkeit wehren können und wie es geht, konstruktiven Widerstand zu leisten.

Auch das Mantra des „Wehret den Anfängen“ ist längst durch die Realität ad absurdum geführt worden. So ist beispielsweise die Behandlung von Migranten in unserer Gesellschaft eine Schande für die Demokratie. Der Widerstand dagegen ist gering.

Es ist an der Zeit, dass sich in dieser Gesellschaft eine Bewegung formiert, die nicht Wut herausschreit, ohne
handelnd zu werden. Eine Bewegung, die nicht Clowns als ihre Führer nominiert, sondern die einen umfassenden Weg
zur Erhaltung der Demokratie in wirtschaftlich prekären Zeiten und in einem sich mehr und mehr nach rechts
orientierendem Europa sucht. Da geht es um den Aufbau einer selbstbewussten Identität, die nicht Fremdes ablehnt,
sondern sich als wertvoller Teil der Vielfalt versteht. Da geht es auch um ökonomische Rahmenbedingungen, um neue wirtschaftspolitische Prämissen, hin zu einer gerechten Verteilung und zu Arbeitsplätzen für junge Menschen.

Wir Juden sind, wie alle gesellschaftlichen Minderheiten, gut beraten, wenn wir eine solche Bewegung mitinitiieren und an ihr teilnehmen. Schließen wir uns jetzt zusammen und nicht, wenn es zu spät ist. Die Zeichen an der Wand sind zu erkennen, wie sie zu lesen sind, sollten wir aus der Geschichte gelernt haben.

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